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Wenn man Roma erwähnt, stellen wir uns ein nomadisches Volk vor, das irgendwo am Stadtrand für eine gewisse Zeit einen Halt macht. Aber so ein Stereotyp verschwindet sofort, dank den aktiven Organisationen der angesiedelten Roma, die sich um ihre Traditionen kümmern und seit Generationen an einem bestimmten Ort in großen Familien leben.

So zum Beispiel wohnt die Familie von Kertulaj Ogly in Pawlohrad. Das ist eine Industriestadt in der historischen Region Podniprowja, ist ein Zentrum des Kohlenbeckens von Westdonbas. Zu Sowjetzeiten wurde hier hochtechnologische Industrie für Militär stark entwickelt, hier wurde auch eine Aufbereitungsanlage eröffnet. Heutzutage wird hier Raketentreibstoff verwertet, die Stadt bleibt aber bergmännisch.

Kertulaj Ogly wohnt seit mehr als 40 Jahren in Pawlohrad. Sechs Jahre lang leitet er eine Roma-NGO „Amaro Kcher“, die sich um die einheimischen Roma kümmert.

Heutzutage wohnen mehr als 1.000 Roma in Pawlohrad. Sie wohnen meistens in eigenen Häusern, sehr nah voneinander. Niemand wohnt hier in sporadischen temporären Siedlungen auf einer Straße, weil die meisten von denen jetzt angesiedelt sind: jemand hat geheiratet, jemand hat sein eigenes Haus erworben.

Die nationalen Minderheiten überall in der Welt behalten ihre gewisse Autonomie und manchmal bleiben sie sogar außerhalb der Gesellschaft und bauen ihre eigene getrennte Gemeinschaft auf. Das ist durch mehrere Faktoren verursacht: durch die kulturelle Besonderheiten, durch die traditionelle Werte, durch den Lebensstil – das alles kann sich wohl rasant von den Bräuchen der Gesellschaft unterscheiden, wo diese nationale Minderheit gerade wohnt. Es ist einfacher, geschlossen zu sein – alles ist unter den Gleichen, alles ist dann klar.

Und Probleme, die manchmal unerwartet kommen, sind nur innerhalb der nationalen Gemeinschaft schwer zu lösen. Sogar die staatlichen Behörden haben kein Vertrauen von den Roma-Gemeinschaften, aber ab und zu muss man sich doch an sie wenden.

In der Ukraine gibt es über 40 angemeldete Gemeinschaften der nationalen Minderheiten, die zur Zeit in dem Staat leben. Dazu gehören auch die Roma-Gemeinschaften von verschiedenen Gattungen. Darunter sind angemeldet und ziemlich aktiv: Chersson („KJETANJE“), Odessa („Zentrum für Rechtsschutz der Roma“), Mukatschewo („ROMA“), Tscherkassy („Romani Rota“), Schytomyr („Romano Kcham“) und andere.

Weltweit herrscht die Tendenz zu der Vereinigung von Roma-Gemeinschaften nach dem 8. April 1971, als der Roma-Weltkongress in London fand statt, dabei wurde die Internationale Roma-Union (International Romani Union) gegründet. Die Roma aus 43 Ländern Europas, Asiens, Nordafrikas, Nord- und Südamerikas und Australiens sind heutzutage die Mitglieder dieser Organisation. Nur in Europa beträgt die Anzahl der Roma-Bevölkerung über 12 Mio Personen.

„Amaro Kcher“

Es war eine natürliche Entwicklung der Roma-Gemeinschaft in Pawlohrad, dass wir eine NGO „Amari Kcher“, was in Übersetzung aus dem Romani „ein Haus von uns“ bedeutet, registrieren lassen haben. Bei der Gesamtversammlung wurde ein Leiter der Organisation gewählt, der das Vertrauen der Gemeinschaft hat – Kertulaj Ogly. Seine Frau Ryma erinnert sich, dass die eigentliche Idee, eine Organisation registrieren zu lassen, von Ukrainern kommt:

„Diese Idee kam spontan. In der Stadt gibt es einen Journalisten, Herrn Nikolajenko. Er ist schon ein älterer Mann, ein Pensionist. Er kam zu uns und präsentierte so eine Idee, eine Roma-Organisation zu gründen, und dann im Kulturbereich zu arbeiten. Wir lernten ihn kennen und so war unsere Organisation entstanden.“

Das war im Jahre 2012. Und dann wurde auch am 08. April gleich der Internationale Roma-Tag von den Pawlohradwer Roma gemeinsam gefeiert. Nun hat sich die Gemeinschaft an die jährliche Feier gewöhnt, die interessiert sich für eigene Kultur und strebt nach Kommunikation und Ausbildung. Die Kinder der Gemeinschaft besuchen die Schule schon viel öfter und die Erwachsenen besuchen die gemeinsamen Veranstaltungen. Ryma betont, dass die Organisation offen sei:

„Die Organisation tut was Gutes für die eigenen Roma-Mitglieder, wir kommunizieren auch ganz viel mit Ukrainern. Wir sind in dem Fall ganz offen.“

Kertulaj Ogly erzählt, dass es für die Aktivitäten dieser Organisation ganz wichtig sei, sich an eigene Traditionen zu erinnern. Da die nationale Minderheit, die aktiv mit der Gesellschaft agiert und Verbindung steht, alle Chancen hat, sich zu assimilieren oder ihr Kulturerbe zu vergessen:

„Die Kinder kommen und lernen die traditionellen Tänze und die Geschichte von Roma. Jetzt heiraten ganz viele Roma-Männer die ukrainischen Frauen, deswegen muss man die alle unterstützen, damit sie die Sprache lernen und an die Traditionen festhalten. Wir unterstützen, lehren, erzählen die Geschichte.“

„Amaro Kcher“ hat eine aktive Zusammenarbeit mit der Stadt. Vor drei Jahren gemeinsam mit der Stadtverwaltung hat die Organisation ein Denkmal an die Roma, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind, in Pawlohrad errichtet. Später machte die nationale Minderheit beim Projekt „Die Stadt mit eigenen Händen“ mit, in dessen Zuge haben sie einen Park rund ums Denkmal errichtet.

Die Stadt hat auch einen Beitrag dazu geleistet, dass die Organisation, die heute aus etwa 60 Personen besteht und durch gemeinsame Aktionen alle Roma der Stadt zusammen bringt, die Räumlichkeiten für deren Tätigkeiten bekommen könnte.

Oksana Salowatowa, die Tochter von Kertulaj Ogly, erzählt, dass die Änderungen nach der Gründung der Organisation spürbar seien:

„Wir nehmen an den Sitzungen des Stadtrates teil. Wir kommen zu den Sitzungen als eine nationale Roma-Organisation, wir werden immer eingeladen. Es ist schon eine Art Zusammenarbeit: Es ist so, dass die Stadt uns benötigt. Es passiert manchmal etwas, was mit Roma verbunden ist, und das können auch so unwesentliche Probleme sein: Jemand hat mit jemandem gestritten, zum Beispiel. Müssen wir da immer nach einer Lösung suchen. Das wird in unserer Organisation dann im Rahmen eines Rates besprochen. Und wenn das Problem wesentlicher ist, dann machen wir eine Sitzung mit der Stadtverwaltung und suchen gemeinsam nach einer Lösung. Wenn irgendwo was passiert, werden wir immer sofort darüber informiert.“

Solch eine Zusammenarbeit hat einen positiven Einfluss auf das Image der Roma in der Stadt, meint Oksana:

„Ich weiß nicht, wie es in anderen Städten ist, aber hier hat man Respekt vor Roma. Ich kann nicht über das ganze Land dasselbe sagen, aber in unserer Stadt hat man Respekt vor Roma. Unser Bürgermeister hat eine positive Einstellung uns gegenüber. Wir haben gute Kontakte überall in unserer Stadt.“

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Diese Zusammenarbeit unterscheidet sich kaum von der Zusammenarbeit einer anderen aktiven Gemeinschaft mit der Stadtverwaltung. Die Pawlohrader Roma nehmen an Veranstaltungen teil, treten bei Konzerten sowohl in Pawlohrad, als auch in anderen Städten der Ukraine auf, wobei die Einwohner dieser Städte die Roma-Kultur kennenlernen können. Die vertreten die Stadt bei Festivals und Konferenzen.

Kertulaj Ogly erzählt über das Leben der Gemeinschaft:

„Sie leben, arbeiten, verdienen die Brötchen. Und am wichtigsten – sie stehlen nicht, alle benehmen sich. Wir existieren dafür, dass sie (Roma – Ed.) wissen, Angst haben, was Falsches zu tun, und falls was – sich an uns wenden. Wir lösen ihre Probleme. Wer was benötigt, stehen wir ihnen mit Rat und Tat zur Seite.“

Die Familie von Kertulaj Ogly bestätigt, dass die Organisation auf die Ausbildung der Roma in Pawlohrad einen Einfluss hat. Früher haben die Roma-Kinder da die Schule kaum besucht. Laut Ryma, ist die Situation jetzt vollkommen anders:

„Jetzt gibt es mehr ausgebildete Leute unter Roma. Die streben nach Hochschul- bzw. Fachhochschulabschluss. Die gehen an die Uni und dann integrieren sich in die Gesellschaft. Die Ausbildung heißt Arbeit. Du wirst so, wie alle anderen. Man möchte sich gerne unter Volk drängen und so, wie alle anderen sein, und nicht: ‚Schaut, da geht ein Zigeuner!‘.“

Kertulaj Ogly sagt, dass die Pawlohrader Gemeinschaftsmitglieder sehr wohl verstehen, wie wichtig die Ausbildung sei:

„Weil sie wissen: zur Schule gehen – dann arbeiten – dann ein gutes Leben haben.“

Die Geschichte der Pawlohrader Roma

Die Mitglieder der Organisation „Amaro Kcher“ halten Pawlohrad für ihr Zuhause:

„Pawlohrad ist mein Zuhause, hier stört uns niemand. Die ganze Stadt ist wie eine Familie – alle kennen einander.“

Die einheimischen Roma sagen eindeutig, dass es gar keine Probleme bei der Interaktion der Roma-Gemeinschaft mit anderen ethnischen Gruppen gäbe, so wie zum Beispiel in Kyjiw, Lwiw oder Odessa. Hier kennen alle einander und die Stadt ist für sie alle ein Ort, wohin man zurückkehren möchte:

„Ja, man reist viel im Ausland, man fährt nach Kyjiw, aber wie man sagt: Osten und Westen, daheim ist es am besten. Hier ist alles so bekannt, so nah. Die Bekannten, die Verwandten, die Umgebung – alles so Familiär.“

Und die Anzahl der Gemeinschaftsmitglieder ändert sich ständig, so Kertulaj Ogly:

„Es gab sehr viele Roma bis diesem Zeitpunkt, bis zum Krieg. So 2500 Roma gab es hier. Jetzt sind viele weg, die genaue Anzahl ist nicht ganz klar.“

2014 kamen die nomadischen Roma und auch die Roma, die den Donbas verließen, in die Stadt. Dann war diese Anzahl schon spürbar. „Amaro Kcher“ unterstützte sie mit allem Möglichen: mit Lebensmitteln und Bekleidung. Und erst einige Familien sind geblieben. Alle anderen kehrten zurück, oder fuhren doch weiter.

Historisch bewohnten Roma Pawlohrad seit dem 2. Weltkrieg. Im nazi-Genozid von 1933-1945 wurden in der Ukraine und in Russland über 300.000 Roma vernichtet. Es gibt verschiedene Einschätzungen zu den Opferzahl des Nazi-Genozids bei dieser nationalen Minderheit, die meisten sprechen von 500.000 Personen, die erschossen, deportiert, und das noch später in der Sowjetunion den Repressivmaßnahmen unterworfen wurden.

Die Roma, die Pawlohrad als Wohnort ausgewählt haben, erinnern sich an die Stadt noch von 1956. Sie entwickelten die Gemeinschaft, kümmerten sich um die Traditionen und unterstützten einander.

Die Gemeinschaft hat ziemlich starke interne Verbindungen: jeder wird da akzeptiert und verstanden, geachtet und geliebt, alle besuchen einander und feiern sogar gemeinsam die Hochzeiten.

Die erhaltenen Traditionen

In Pawlohrad halten die Roma auf unterschiedliche Art und Weise an ihren Traditionen fest. Das zeugt davon, dass die ältere Generation, die am meisten von ihren Bräuchen abhängig ist, nicht mehr so aktiv ist. Die Roma heiraten dort mit den Einheimischen, und da es keine Moschee in Pawlohrad gibt, lassen die sich in der Kirche oft taufen. Es gibt schon sogar getaufte Kinder. Die Pawlohrader Roma stammen von der Krymer Roma, deswegen ist Islam für sie traditionell. Das ist auch an deren Romani-Sprache zu bemerken, die sie da sprechen.

In der Ukraine gibt es mehrere Dialekte der Romani. So, zum Beispiel, versteht man in Pawlohrad gar nichts von der Sprache der Roma aus Transkarpatien, weil sie total unterschiedlich sind: hier gibt es vorwiegend Krymer Wörter, näher zu Muslimen, obwohl es auch christliche Elemente gibt. In Transkarpatien spricht man die christliche Romani, näher zum Ungarischen. Oksana sagt:

„Wir haben sehr viele Dialekte. Und die alle sind sehr unterschiedlich, und die von der Westen (der Ukraine – Aut) verstehen wir gar nicht.“

Es ist klar, dass die Sprache und die Bräuche ziemlich dynamisch sind, deswegen entwickeln sie sich mit der Zeit. Das betrifft auch die Bekleidung der Frauen in der Gemeinschaft, erzählt Ryma:

„Es gibt Christen, die tragen weder ein Kopftuch noch lange Röcke. Die können sich die Haare schön machen und sehen so, wie die Ukrainerinnen aus, und uns merkt man sofort: ein langer Rock, ein Kopftuch – das ist doch eine Zigeunerin. Aber die Frauen ziehen sich schon so wie alle anderen an, so fühlt man sich wohl.“

Unter Roma gibt es unter anderem Bräuche, die mit dem Hellsehen verbunden sind. So wird diese Tradition von Oksana erklärt:

„Die Roma-Traditionen – was ist das? Das ist eigentlich eine Magie! Ja, das stimmt. Das ist keine Lüge: das Hellsehen, die Wahrsagerinnen, die Hexen – das ist eine Realität bei uns. Ich habe das alles von Kindheit an von meiner Oma vererbt.“

Oksana erzählt, dass man diese Gabe richtig steuern muss, weil ganz viele keine Ahnung davon haben, dass die solch eine Gabe eigentlich haben. Sie hat ihr Hellsehen im Alter von 10 Jahren zum ersten Mal gespürt. Sie hat damals ihrem Bruder seine künftige Familie genau beschrieben: seine Frau und seine Kinder, und die Wahrsagung bekam Realität nach drei Jahren.

Oksana meint, dass es sehr viel Neid und Flüche jetzt gäbe: die Leute sind neidisch, wenn die anderen sich freuen, glücklich sind oder sich was Neues leisten. Aber, sagt die Frau, wird der Herrgott da sehen, wer recht hat, und sie niemanden verfluchen darf:

„Wenn man es verdient hat, weil man etwas Böses gemacht hat, bekommt man eine Bestrafung auch so, ohne Magie.“

Die Pawlohrader Roma, und zwar die Familie von Kertulaj Ogly, haben enge Kontakte zu den Roma aus der ganzen Ukraine und verstehen, dass alle Roma verallgemeinert werden, sei es Nomaden oder Ansiedler, Christen oder Muslime, oder einfach die Muttersprachler der verschiedenen Romani-Dialekte:

„Wenn ein Ukrainer etwas für die anderen nationalen Minderheiten macht, wird es nicht so bemerkenswert sein, versteht ihr? Und wenn die unseren etwas machen, dann ist es schon ein Ereignis.“

Aber es ist wurscht, von welcher Nationalität die Person ist, sagt Ryma:

„Es hängt vom Menschen ab, wie man sich in der Gesellschaft benimmt. Wir sind auch so.“

unterstützt durch

Beitragende

Projektgründer:

Bogdan Logwynenko

Autorin des Textes:

Sofija Anzscheljuk

Redakteurin:

Jewhenija Saposchnykowa

Korrektorin:

Marija Prochorenko

Projektproduzentin:

Olha Schor

Fotograf:

Olexandr Chomenko

Kameramann:

Pawlo Paschko

Filmeditor:

Mykola Nossok

Bildredakteur:

Olexandr Chomenko

Transkriptionistin:

Sofija Basko

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