Wie oppositionell ist Alexei Nawalnys Team wirklich? Diese und ähnliche russische Bewegungen nennen sich Opposition und reden über ihre grundlegenden demokratischen Überzeugungen und die Beendigung des Krieges gegen die Ukraine. Doch analysiert man ihre Äußerungen genauer, merkt man, dass die Beendigung des Krieges für sie bei Weitem nicht das wichtigste Thema ist.
Disclaimer
Der vorliegende Artikel wurde ursprünglich im Jahr 2023 verfasst. Die Autorinnen analysieren darin die Medientätigkeit des Nawalny-Teams im Zeitraum 2022 bis Anfang 2023. Dabei zitieren sie Äußerungen Alexei Nawalnys aus verschiedenen Abschnitten seines Lebens, die für das Verständnis des Nawalny-Teams zentral sind.Daher hat das Team des zivilgesellschaftlichen Netzwerks „OPORA“ („Unterstützung“) die Medienaktivitäten von Russen, die sich als Opposition zur amtierenden russischen Regierung positionieren, untersucht. So soll festgestellt werden, worum es sich bei der russischen Opposition wirklich handelt: ob ihre öffentlich geäußerte Haltung darauf abzielt, Gerechtigkeit herzustellen, und mit welchen Herausforderungen die Welt rechnen muss, wenn sie an die Macht kommen sollte.
Dieser Artikel widmet sich dem verstorbenen bekanntesten russischen Oppositionellen Alexei Nawalny und seinem Team.
Die russische „Opposition“ und ihre Strategie für einen Ausstieg aus dem Krieg
Um langfristig Sicherheit und Stabilität zu schaffen, reicht es nicht aus, wenn die Kampfhandlungen eingestellt werden und sich die russischen Truppen hinter die international anerkannten ukrainischen Grenzen zurückziehen. Die bewaffneten Aggressionen Russlands in Moldau, Syrien, der Ukraine und Georgien, die „Militäroperationen“ der russischen Armee in der Zentralafrikanischen Republik und Mali sowie die russische Unterstützung von autoritären Regimen haben eines gezeigt: Solange niemand Verantwortung für die verübten Verbrechen trägt, die Kriegsverbrecher nicht verurteilt werden, Russland keine Entschädigungszahlungen leistet und keine strukturelle Reform und Entimperialisierung Russlands stattfindet, wird das Problem nicht gelöst, sondern die nächste russische Aggression lediglich aufgeschoben.
Um in Zukunft einen langfristigen Frieden garantieren zu können, muss ein wahrer Sieg der Ukraine und des kollektiven Westens nicht nur an der Front stattfinden, sondern auch durch Veränderungen innerhalb Russlands. Neben der ständigen Bedrohung, die das heutige Russland für andere Länder darstellt, hat die großangelegte Invasion der Ukraine gezeigt, welche internen sozioökonomischen Folgen für die europäischen Länder ein Krieg unweit ihrer Grenzen mit sich bringt. Gemeinsam mit ihren Partnern arbeitet die Ukraine schon jetzt an einer Auflistung konkreter Schritte, die Russland umsetzen muss, um das Vertrauen als sicherer und zuverlässiger Partner auf internationaler Ebene wiederzugewinnen.
Viele sind der Meinung, die russische „Opposition“ und das ukrainische Volk hätten einen gemeinsamen Feind: die russische Diktatur. Gegen Putins Regime und für den Frieden in der Ukraine zu kämpfen, sei ein und derselbe Kampf.
Doch unabhängig davon, welche Regierung das Nachkriegs-Russland anführen wird, muss sie sich den gleichen Verpflichtungen zur Wiedergutmachung für die angerichteten Schäden und der Rechenschaft für die begangenen Verbrechen stellen. Die Last des sozioökonomischen Wiederaufbaus nach einem verlorenen Krieg, eine Reform Russlands, auferlegte Sanktionen sowie Reparationen an die Ukraine: All das sind zeitlich aufgeschobene Probleme für jeden russischen Politiker mit Ambitionen in einem Russland nach Putin. Bereits hier kollidieren die Bedürfnisse und Interessen der Ukraine mit denen der russischen Opposition.
Richtet man den Blick von der Zukunft auf die Gegenwart, sieht man schon jetzt, wie die russische Opposition versucht, ihre politische Anhängerschaft zu vergrößern, insbesondere unter den Auslandsrussen. Zu ihren Prioritäten gehört daher die Lobbyarbeit für die Interessen der Russen auf internationaler Ebene, und nicht für die Bedürfnisse der Ukraine, die einen nicht provozierten Verteidigungskrieg führt – gegen dasselbe diktatorische Russland, das von der russischen „Opposition“ bekämpft wird.
Um ihre gesellschaftliche und politische Arbeit aufrechtzuerhalten, benötigt die russische „Opposition“ sowohl finanzielle als auch mediale Unterstützung von internationalen Partnern. Deshalb konkurrieren die Russen mit der Ukraine um das Narrativ, die finanziellen und nichtfinanziellen Ressourcen sowie die derzeitige und die zukünftige Agenda, was die Anforderungen an ein Russland nach Putin und dessen Verpflichtungen betrifft.
Zur Zeit ist die russische „Opposition“ die potenzielle Kraft, die die Gerechtigkeit für die Ukraine wiederherstellen und einen langfristigen Frieden erreichen könnte. Doch die Frage, ob dies derzeit auf ihrer Tagesordnung steht, bleibt offen. Mit der vorliegenden Untersuchung möchten wir die Antwort darauf finden.
Wer ist das Nawalny-Team?
Das Nawalny-Team. Foto: picture-alliancе, AP Photo.
Das Nawalny-Team setzt sich aus den Mitstreitern des russischen Politikers Alexei Nawalny (1976–2024) zusammen. Es entstand 2011 nach der Gründung des „Fonds für Korruptionsbekämpfung“ (russisch „Fond borby s korrupzijej“, kurz FBK) durch Nawalny. Der Hauptzweck des FBK sind die Aufdeckung von Korruptionspraktiken der russischen Regierung, journalistische Untersuchungen sowie Aufklärungsarbeit gegen die Korruption. Politisch und gesellschaftlich aktiv war Nawalny jedoch bereits seit 2004. Damals gründete er das „Komitee zum Schutz der Moskauer“, welches sich mit Korruptionsbekämpfung und Rechtsschutz im Bereich der Moskauer Stadtplanung befasste. Später bildeten sich in Nawalnys politischer Tätigkeit die Richtungen Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung heraus, was mit der Gründung des FBK endgültig institutionalisiert wurde. 2013 nahm Nawalny an der Wahl zum Moskauer Bürgermeister teil und erreichte den zweiten Platz nach dem bis heute amtierenden Oberhaupt der russischen Hauptstadt, Sergei Sobjanin.
Im August 2020 verübten russische Geheimdienste einen Mordanschlag auf Nawalny mit dem Nervengift „Nowitschok“. Nach der Rehabilitation von den Folgen dieses Anschlags und seiner Rückkehr nach Russland wurde Nawalny auf dem Flughafen verhaftet und des Betrugs und der Geldwäsche beschuldigt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bezeichnete die Vorwürfe sowie Nawalnys Verhaftung später als gesetzeswidrig und sah Nawalnys Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Nawalny wurde zunächst zu neun Jahren Haft in einer Strafkolonie mit verschärftem Regime verurteilt. Im August 2023 wurde seine Haftstrafe auf insgesamt 19 Jahre verlängert. Am 16. Februar 2024 verstarb er in einer Strafkolonie im autonomen Kreis der Jamal-Nenzen in Westsibirien.
Während seines Lebens und seiner aktiven Tätigkeit schuf Nawalny eine Informationsblase um sich herum, die die Menschen nicht nur dazu veranlasste, mit ihm mitzufühlen, sondern ihn auch zu heroisieren. Selbst die Oscar-Verleihung für den Film „Nawalny“ des kanadischen Regisseurs Daniel Roher war ein Spiel mit der Ausnutzung von Hollywood-Empfängen, wie der ukrainische Journalist Asad Safarow treffend bemerkte. Safarow ist der zweite Regisseur und Line Producer des Films „A House Made of Splinters“, der im Jahr 2023 ebenfalls für denselben Oscar nominiert war. Doch bevor wir zu den Ergebnissen unserer Untersuchung kommen, wollen wir uns einige frühere Aussagen von Nawalny anschauen.
Asad Safarow ueber Nawalny
Was Nawalny über die Krim gesagt hat
Eine der bekanntesten Aussagen Nawalnys ist sein Kommentar zur Krim bei einem Interview mit dem Radiosender „Echo Moskwy“ im Jahr 2014. Auf die direkte Frage des russischen Moderators Alexei Wenediktow „Gehört die Krim denn nun uns?“ antwortete Nawalny damals, die Halbinsel würde denjenigen gehören, die dort leben. Nawalny bemerkte zudem, dass die Krim de facto russisch sei, obwohl sie „unter schreienden Verstößen gegen alle internationalen Normen eingenommen wurde“. Er riet den Ukrainern, sich damit abzufinden, dass „die Krim ein Teil von Russland bleibt und in der nahen Zukunft nicht wieder ukrainisch werden wird“. Auf die Frage, ob Nawalny die Krim zurückgeben würde, wenn er Präsident wäre, antwortete er mit den berühmt-berüchtigten Worten: „Ist die Krim etwa ein Wurstbrot, das man hin und her reicht, oder was?“ Eine eindeutige Aussage, dass die Krim ukrainisch ist, hat man damals von Nawalny nicht gehört. Da diese Aussagen Nawalnys selbst nach seinem Tod immer wieder an der Reputation seiner Mitstreiter kratzen, sind diese gezwungen, immer wieder auf dieses Thema zurückzukommen.
Nawalny während der Radiosendung bei „Echo Moskwy“. Screenshot aus einem Video
Einer von Nawalnys Mitstreitern, Leonid Wolkow, versuchte Nawalny in Schutz zu nehmen und riet, die „Primärquelle“ zu nutzen, nämlich die angeblich erste Aussage Nawalnys vom März 2014 über die Besetzung der Krim auf Nawalnys Blog auf der in Russland populären Blogging-Plattform LiveJournal. Er beschuldigte die „Twitter-Kritiker“, „zu faul zum Lesen von Originaltexten“ zu sein, „bevor sie Zitate aus dem Kontext reißen“.
Die Autorinnen dieses Artikels waren nicht zu faul und haben sich die Publikation angeschaut. Dort stießen sie auf viele weitere zweifelhafte Aussagen von Nawalny. Bevor das Thema Krim überhaupt zur Sprache kam, bezeichnete Nawalny gleich zu Beginn des Beitrags Ukrainer als „Chochly“ (eine verächtliche imperialistische Bezeichnung der Russen für Ukrainer). Zudem schrieb er einen ganzen Absatz darüber, dass Ukrainer, Belarusen und Russen „nicht bloß Nachbarn, sondern Brüder in verschiedenen Wohnungen“ seien und dass das „brüderliche“ Verhältnis mit der Ukraine und Belarus ein „strategischer Vorteil für Russland auf dieser Welt“ sei. Dies sagte er bereits nach der Invasion der russischen Armee in die Ukraine 2014. Von welcher Brüderlichkeit er spricht, ist daher unklar. Auch 2022 konnten die Ukrainer diese „Brüderlichkeit“ erneut beobachten: in Butscha, Mariupol, Isjum und anderen Orten (an denen die russische Armee Kriegsverbrechen beging, Anm. d. Übers.).
Screenshot von Nawalnys Beitrag auf „LiveJournal“, 2014
Außerdem stellte sich Nawalny im Beitrag selbst die Frage, ob es gerecht sei, dass die Krim der Ukraine gehöre. Und er antwortete: „Natürlich nicht. Dass die Ukraine die Krim zufällig ‚ergattert‘ hat, ist nicht richtig, ungerecht und eine Beleidigung für jeden normalen Bewohner Russlands. Die Krim wurde durch eine gesetzeswidrige, willkürliche Entscheidung des Schwachkopfs [Nikita] Chruschtschow (von 1953 bis 1964 erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Anm. d. Übers.) weggegeben. Die Verantwortung dafür liegt bei der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und den ganzen dämlichen Politbüros. Daran sollte man mal die Kommunisten erinnern, die sich nun so kriegerisch geben. Dass man nun auch noch ‚Pacht‘ für die Basis der Schwarzmeerflotte zahlen muss, macht mich echt sauer. Die Krim ist toll und wunderschön. Ich habe dort den ersten gemeinsamen Urlaub mit meiner Frau verbracht.“
Diese Behauptung ist im Wesentlichen Propaganda und ein Mythos, den die sowjetische Regierung und das zeitgenössische Russland verbreitet haben, um die Besetzung der Krim zu rechtfertigen. Man muss kein Historiker sein, um sich mit der Geschichte der Krim vertraut zu machen. Sie gehörte nie Russland, sondern war durch das Russische Reich und anschließend durch die Sowjetunion besetzt worden. Die Bewohner der Krim leisteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1917/18, Anm. d. Übers.) Widerstand gegen die Eroberung der Halbinsel durch die Bolschewiken und erklärten ihre Unabhängigkeit. Dafür wurden ca. 600 Krimtataren (die indigene Bevölkerung der Krim), die den Widerstand angeführt hatten, von den Besatzern erschossen. Und in der Mitte des 20. Jahrhunderts deportierte das sowjetische Regime fast 200.000 Krimtataren aus ihrer Heimat und siedelte an ihrer Stelle insbesondere Russen an. All dies erwähnte Nawalny in seinem Beitrag nicht.
Nawalny schrieb weiter, er verurteile dennoch die Besatzung der Krim, da es sich dabei um eine Verletzung des internationalen Rechts und international anerkannter Abkommen handle, die auch durch Russland anerkannt seien und die man respektieren müsse. Das Pseudoreferendum, das Putin als Rechtfertigung für die Besatzung nutzte, halte er nicht für eine Willensbekundung der dortigen Einwohner. Mit seinen Aussagen schaffte Nawalny eine Art kognitive Dissonanz: Die Krim sei nicht ukrainisch, sondern russisch, und das einzige Problem sei die Verletzung des internationalen Rechts. Das Problem sei demnach nicht etwa die Ermordung von Ukrainern und Krimtataren oder die Folter und Verhaftung derjenigen, die Widerstand gegen die Besatzer leisten – also gegen diejenigen, die das internationale Recht verletzen. Würde die Welt Staatsgrenzen nicht regulieren, wäre die Besetzung folglich berechtigt und die Vernichtung der indigenen Bevölkerung in Ordnung?
Anfang 2023 wurde es auch für Marija Pewtschich (ein Mitglied des Nawalny-Teams) wegen der „Krimfrage“ unbequem: In einem Interview mit The Guardian weigerte sie sich, Nawalnys Aussagen über die Krim zu kommentieren, da diese ihrer Meinung nach nichts mit dem Gesprächsthema (dem Kampf um die Befreiung des damals noch lebenden Nawalny) zu tun hatten. Es bleibt jedoch weiterhin ein Rätsel, was Pewtschich davon abhielt, den Satz „die Krim ist ukrainisch“ über die Lippen zu bringen.
Zudem veröffentlichte das Nawalny-Team auf Twitter oder Youtube regelmäßig eine Karte der Ukraine ohne die Krim, was ebenfalls die Besetzung der Halbinsel legitimiert. So nutzte z. B. Wladimir Milow in seiner regelmäßigen Rubrik bei „NawalnyLIVE“ eine Karte der Ukraine ohne die Krim, als er über die ukrainischen Atomkraftwerke sprach. Er versuchte, sich gegen die Kritik zu wehren, indem er erklärte, es handele sich dabei nicht um eine Landkarte, sondern um eine geografisch ungenaue „Skizze“. Die Ukrainer erinnern sich außerdem genau an eine Karte aus Nawalnys Wahlkampagne aus dem Jahr 2017, auf der die Krim ebenfalls als russisches Territorium gezeigt wurde. Hierbei handelte es sich angeblich um russische Gesetzesvorgaben, die Nawalnys Anhänger keinesfalls ignorieren dürften.
Ein Teil des Nawalny-Teams hat zwar 2022 endlich gelernt, den Satz „die Krim ist ukrainisch“ auszusprechen. Das einzige, worauf sie sich hierbei beziehen, sind jedoch die Normen des internationalen Rechts. Nun, das ist natürlich besser als nichts. Dennoch kümmern sich Nawalnys Mitstreiter keineswegs um eine Politik der Wiedergutmachung und Reue gegenüber den Krimtataren, die bereits seit dem 18. Jahrhundert und bis heute durch Russland unterdrückt werden. Und auch wenn die selbsternannten russischen „Oppositionellen“ vielleicht darüber nachdenken, äußern sie sich nie öffentlich darüber, wie sie sich die Lage der Russen vorstellen, die sich nach der Besetzung illegal ukrainisches Eigentum angeeignet haben, oder wie die Mechanismen aussehen sollten, mit denen die Verluste der Ukraine entschädigt werden. Die „Pacht [für die Schwarzmeerflotte] zahlen zu müssen“, macht sie dann aber doch „echt sauer“.
Nawalny und sein Team nach dem Beginn der großangelegten Invasion der Ukraine
Die Vertreter des Nawalny-Teams halten Abstand zu den übrigen „oppositionellen“ russischen Vereinigungen und weigern sich offen, mit ihnen zu kooperieren. Nachdem Russland die großangelegte Invasion der Ukraine begann, verkündeten die Mitstreiter Nawalnys, ihre gesamte Tätigkeit auf die „Informationsfront“ konzentrieren zu wollen. Sie gewährten Einblicke in die Details von Nawalnys Haftbedingungen (sowie später seines Todes) und setzen sich für seine Freilassung ein. Außerdem befassten sie sich mit dem russischen Krieg in der Ukraine.
Als eine ihrer weiteren „Fronten“ betrachten Nawalnys Anhänger die Sanktionen gegen Russland. Im April 2022 verfassten sie die „Liste der 6000“ (auch bekannt als „Liste der korrupten Personen und Kriegstreiber“), in der neben russischen Beamten auch Medienpersönlichkeiten und Oligarchen aufgeführt sind, die an der Veruntreuung russischer Gelder und der Kriegstreiberei gegen die Ukraine beteiligt waren. Seitdem setzt sich das Nawalny-Team aktiv dafür ein, dass die westlichen Länder genau diese Liste verwenden, um die aufgeführten Personen individuell zu sanktionieren. Dabei verzichtet es jedoch völlig auf den Austausch mit der ukrainischen Seite. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Leiter des von Nawalny gegründeten Fonds für Korruptionsbekämpfung, Leonid Wolkow, im März 2023 wegen eines Skandals zum Rücktritt gezwungen war: Wolkow hatte einen Brief an die Europäische Union mit unterzeichnet, in dem die Aufhebung der Sanktionen gegen den russischen Oligarchen Michail Fridman und drei seiner Geschäftspartner gefordert wurde. Eben jener Fridmann steht jedoch auch auf der „Liste der 6000“.
Wie das Nawalny-Team Russlands Ausstieg aus dem Krieg sieht
Wie wir bereits anmerkten, sind die Einstellung der Kampfhandlungen und der Rückzug der russischen Truppen hinter die ukrainischen Grenzen von 1991 notwendige, aber keineswegs ausreichende Voraussetzungen für die Sicherung eines langfristigen Friedens. Für unsere Analyse stützen wir uns auf das von ukrainischen Intellektuellen und Aktivisten formulierte Manifest zum Ausstieg Russlands aus dem Krieg. Dabei handelt es sich um einen Plan mit konkreten Maßnahmen, um die Gerechtigkeit für die Ukraine wiederherzustellen, stabile Garantien für die Nichteinmischung Russlands in die Innenpolitik der Ukraine zu schaffen und eine Wiederholung der russischen Aggression zukünftig unmöglich zu machen.
Um zu untersuchen, welche strategischen Visionen das Nawalny-Team für den Ausstieg Russlands aus dem Krieg hat, wählten wir zwölf Accounts von Vertretern des Nawalny-Teams mit den höchsten Followerzahlen auf Twitter (dem heutigen X, Anm. d. Übers.) aus. Wir haben uns für Twitter entschieden, da die betreffenden Oppositionellen auf dieser Plattform ihre größte Reichweite haben und sie dort viele Anhänger und potenzielle künftige Wähler erreichen. Die Auswahl beinhaltet zwei gemeinschaftliche Accounts des Nawalny-Teams und zehn persönliche Accounts.
Wir haben die Tweets dieser sogenannten Oppositionellen aus dem Zeitraum 24. Februar 2022 bis 7. Februar 2023 analysiert. Die Daten wurden mittels Web Scraping der betreffenden Twitter-Accounts gesammelt. Web Scraping (englisch scraping = „Kratzen, Abschürfen“) bezeichnet die automatisierte Erstellung einer Datenbasis mit den Tweets eines bestimmten Nutzers. In die endgültige Auswahl wurden nur die eigenen Tweets der Nutzer, ihre Antworten auf die Tweets anderer Nutzer sowie Kommentare zu Artikeln, Videos oder anderen öffentlichen Inhalten aufgenommen. Der Fokus lag auf Posts, in denen eine Strategie zum Ausstieg Russlands aus dem Krieg erwähnt wurde. Dabei handelt es sich um folgende neun Themen:
– Einführung von Sanktionen gegen russische Staatsbürger und Unternehmen (um Russlands Kapazitäten zur Weiterführung des Krieges zu begrenzen)
– Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine oder Aufrufe zum Einstellen solcher Lieferungen (was ein Hinweis darauf ist, ob die Vertreter des Nawalny-Teams einen Sieg der Ukraine und die Befreiung aller besetzten Gebiete wollen, oder ob die Ukraine sich ihrer Meinung nach auf Verhandlungen einlassen und auf einen Teil ihres Territoriums verzichten soll)
– Notwendigkeit von Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine und die Bedingungen dafür (und inwieweit ihre Vorstellung des Friedens mit der ukrainischen „Friedensformel“ von Präsident Selenskyj in Einklang steht)
– Zahlung von Reparationen an die Ukraine nach dem Kriegsende (Höhe, Finanzierung, Berechnungs- und Auszahlungsweise der Entschädigungen)
– Kollektive Verantwortung der Russen (wer am Beginn des Krieges gegen die Ukraine schuld ist; Politik der Sühne im Fall des Sieges der Ukraine)
– Prozess gegen die russischen Kriegsverbrecher
– Rückzug nicht nur des russischen Militärs, sondern auch der russischen politischen Eliten aus den temporär besetzten Gebieten der Ukraine)
– Rückkehr der zwangsdeportierten ukrainischen Kinder
– Ansichten zur Zukunft Russlands (mögliche Grenzveränderungen, Bürgerkrieg oder innere Reformen etc.)
Wenn ein Thema erwähnt wurde, bedeutet dies nicht, dass der jeweilige Politiker beispielsweise über Sanktionen im Zusammenhang mit der Ukraine gesprochen hat. In der vorliegenden Untersuchung wurden jegliche Erwähnungen der oben genannten Themen berücksichtigt.
Untersucht wurden ausschließlich schriftliche Äußerungen der ausgewählten „Oppositionellen“. Interviews, Podcasts, Livesendungen, Youtube-Blogs etc. sind daher nicht Teil des analysierten Datensatzes.
Insgesamt haben die Mitglieder des Nawalny-Teams (einschließlich ihres Anführers) während des ersten Jahres der großangelegten Invasion der Ukraine 2.577 Tweets veröffentlicht, die sich mit Russlands Ausstieg aus dem Krieg befassen. Die Beiträge über einen russischen Ausstieg aus dem Krieg machen jedoch nur ca. 10 % aller Tweets der Mitglieder des Nawalny-Teams in dem betrachteten Zeitraum aus.
Mit 664 Tweets war Leonid Wolkow am aktivsten bei diesem Thema. Auf den Plätzen zwei und drei waren mit 278 und 208 Tweets die gemeinschaftlichen Accounts „Nawalny-Team“ und „Nawalny LIVE“. Unter den privaten Accounts waren Iwan Schdanow (195 Tweets) und Kira Jarmysch (177 Tweets) an zweiter und dritter Stelle. Am wenigsten schrieben Wjatscheslaw Gimadi (71 Tweets) und Dmitri Nisowzew (22 Tweets) über eine Strategie zum Ausstieg Russlands aus dem Krieg.
Diashow
Nicht weniger bemerkenswert ist hierbei, dass im Nawalny-Team ungefähr seit September 2022 immer weniger über eine Strategie zum russischen Ausstieg aus dem Krieg gesprochen wird. Wurden die Sanktionen im April und Mai 2022 340 mal erwähnt, waren es im Dezember 2022 und Januar 2023 keine 70 Beiträge mehr. Auch bei anderen Themen sieht man die gleiche Tendenz: Über die kollektive Verantwortung der Russen wurde am meisten im März 2022 geschrieben (143 Tweets), während es dazu im Januar 2023 nur noch 24 Tweets mit Erwähnungen gab. Dies deutet wahrscheinlich darauf hin, dass die Beendigung des russischen Krieges in der Ukraine und die Wege zur Erreichung dieses Ziels nicht mehr das Hauptthema darstellen.
Was das Nawalny-Team von den Sanktionen gegen Russland und Russen hält
Während des ersten Jahres der großangelegten Invasion der Ukraine verfassten die „Nawalnisten“, wie Nawalnys Anhänger auch genannt werden, 1.020 Tweets über Sanktionen. Am meisten schrieben dazu Leonid Wolkow (232 Tweets) sowie Alexei Nawalny und Ruslan Schaweddinow (je 105 Tweets). Obwohl das Thema Sanktionen unter den Anhängern Nawalnys am beliebtesten ist, sank ihr Interesse dafür mit der Zeit: Wurden im zweiten Monat der großangelegten Invasion der Ukraine noch 176 Tweets mit Aufrufen zur Einführung von Sanktionen veröffentlicht, so fanden die Sanktionen im Januar 2023 nur noch 29 mal Erwähnung.
Im Februar 2023 veröffentlichte das Nawalny-Team einen Text mit dem Titel „15 Punkte eines russischen Bürgers, der Gutes für sein Land will“ (im Folgenden „15 Punkte“ genannt). Darin legten sie kurz und knapp ihre Ansichten über eine Strategie zum Ausstieg aus dem Krieg dar. Sanktionen wurden in den „15 Punkten“ nur einmal erwähnt: Nach dem Sturz des Putin-Regimes sollen die Sanktionen gegen die russische Öl- und Gasindustrie aufgehoben und ein Teil der so entstehenden Einnahmen für Reparationszahlungen an die Ukraine verwendet werden.
Allerdings wird die westliche Gemeinschaft wohl kaum mit einer solchen Herangehensweise an die Sanktionspolitik einverstanden sein. Das Hauptziel der Sanktionen ist die Schwächung des militärischen und wirtschaftlichen Potenzials Russlands, um die Fortführung des Krieges immer teurer und unvorteilhafter für die politische und militärische Führung des Landes zu machen. Gleichzeitig zielt die Sanktionspolitik darauf ab, ranghohen russischen Beamten, die direkt oder indirekt für den Krieg gegen die Ukraine oder die Kriegsverbrechen der russischen Armee auf ukrainischem Territorium verantwortlich sind, private Ressourcen (Geld, Immobilien, Yachten) zu entziehen. Drittens sollen die Sanktionen einem „Erwachen“ der russischen Gesellschaft dienen, die den Angriffskrieg immer noch unterstützt und die Mobilisierungsmaßnahmen innerhalb ihres Landes hinnimmt. Sollten die Sanktionen aufgehoben und Russland wieder zu einem willkommenen Gast auf internationaler Ebene werden, wird es seine Fähigkeiten schnell wiederherstellen und erneut die Gelegenheit haben, Angriffskriege gegen seine Nachbarn zu führen und gegen die Grundnormen des internationalen Rechts zu verstoßen.
Screenshot aus dem Twitter-Account von Leonid Wolkow
Auf ihren Twitter-Accounts widmen sich die Mitstreiter Nawalnys besonders der Verbreitung ihrer „Liste der 6000“, die mit Stand April 2023 fast 7000 Namen von Personen enthielt, die an der Korruption in Russland sowie an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind. Das Nawalny-Team informiert seine Leser regelmäßig darüber, wer der Liste hinzugefügt und wer davon sanktioniert wurde. Auf den Accounts der sogenannten Oppositionellen finden sich Hunderte von Beiträgen über Russen, die den Krieg unterstützen: welche bisher unbemerkten Immobilien sie haben, wessen Kinder im Ausland studieren, oder wie bereits unter Sanktionen stehende Russen die Einschränkungen umgehen. Zur Liste des Nawalny-Teams gehören insbesondere russische Propagandisten wie Margarita Simonjan, Wladimir Solowjow oder Jekaterina Andrejewa. Die Russich-Orthodoxe Kirche und Patriarch Kyrill halten sie für schuldig am Krieg und finden, dass sie auf der Sanktionsliste stehen sollten. Allerdings ist die „Liste der 6000“ unvollständig: Sie beinhaltet überwiegend die bekanntesten Vertreter der russischen Elite sowie Politiker und Militärs. Die Täter von Kriegsverbrechen bleiben hingegen von den russischen Oppositionellen oft unbemerkt.
Die Vertreter des Nawalny-Teams versuchen außerdem, ihren Followern ihre eigene Sicht auf die Sanktionspolitik näherzubringen. Ihrer Meinung nach sollen individuelle Sanktionen (für die die „Liste der 6000“ verfasst wurde) dazu dienen, „Putin toxisch zu machen“. Nach der Logik der Nawalnisten müssen alle Personen, die auf ihrer Liste stehen (oder dort zukünftig aufgenommen werden) und den Krieg in der Ukraine und Putin unterstützen, nicht nur sofort jegliches Eigentum im Ausland verlieren, sondern auch durch den kollektiven Westen der Möglichkeit beraubt werden, ins Ausland auszureisen. Anschließend haben die aufgelisteten Personen allerdings die Wahl: Entweder sie unterstützen Putin und stehen weiterhin unter Sanktionen, oder sie werden von den Sanktionslisten gestrichen, wenn sie „von ihrem Amt zurücktreten, Putin und den Krieg öffentlich verurteilen und alles offenlegen, was sie wissen“. Die Mitstreiter Nawalnys machen jedoch nicht deutlich, ob die Reputation solcher Personen dadurch vollständig reingewaschen werden soll. Nehmen wir an, eines Tages verurteilt die russische Propagandistin Margarita Simonjan Putins Politik öffentlich. Wird ihr dann auch vollständig verziehen und die Sanktionen gegen sie aufgehoben, obwohl sie offensichtlich an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt ist? Gleichzeitig berücksichtigt das Konzept dieser Liste nicht, dass ein Großteil von Putins Mitstreitern aktiv am russischen Krieg in der Ukraine beteiligt ist und die volle oder anteilige Verantwortung für die verübten Kriegsverbrechen zu tragen hat. Eine Amnestie im Tausch gegen „Zuckerbrot“ in der Form von Sanktionsaufhebungen widerspricht daher dem bedingungslosen Recht der geschädigten Ukrainer und der Angehörigen der Verstorbenen auf Gerechtigkeit. Sogar innerhalb des Nawalny-Teams sind nicht alle von dieser Vorgehensweise überzeugt.
Margarita Simonjan
Russische Propagandistin, Chefredakteurin des russischen Medienunternehmens „Rossija Segodnja“ und Leiterin des mehrsprachigen propagandistischen Fernsehsenders Russia Today.Margarita Simonjan. Foto: Associated Press
Was die Einführung von Sanktionen gegen Russland als Ganzes angeht, ist die Lage laut diesen „Oppositionellen“ „nicht so eindeutig“. Das Nawalny-Team versucht die Russen davon zu überzeugen, dass die westlichen Sanktionen effektiv sind und sich auf alle Russen auswirken werden. Sie schreiben immer wieder, dass die Sanktionen schmerzhaft sind und alle Versuche der russischen Regierung, die einheimische Produktion auszubauen, scheitern und letztlich zu einer Situation wie bei der größten russischen Fluggesellschaft Aeroflot führen werden: Dort müssen einige Flugzeuge demontiert werden, um andere Flugzeuge zu reparieren. Damit geht aber auch eine andere, problematischere Interpretation der Sanktionen einher: So schrieb Wjatscheslaw Gimadi, dass „der Fonds für Korruptionsbekämpfung Sanktionen nicht aufgrund des Reisepasses oder des Geburtsortes [befürwortet], sondern aufgrund konkreter korrupter Verbindungen zu Putin“. Bemerkenswert ist dabei, dass das zentrale Betätigungsfeld des Nawalny-Teams nach wie vor die Korruptionsbekämpfung in Russland ist. Doch die Korruptionsbekämpfung führt lediglich dazu, dass der russische Staatsapparat effektiver wird. Die einzige Seite, die von einer Lustration (der Entfernung politisch belasteter Mitarbeiter aus dem öffentlichen Dienst, Anm. d. Übers.) profitiert, ist das russische Volk, mit dessen stillschweigender Zustimmung Putin diesen Krieg führt. Deshalb zielt die Sanktionsliste des Nawalny-Teams in erster Linie auf eine Lustration der russischen Staatsorgane für die Russen und nicht auf die Beendigung des Krieges in der Ukraine ab.
Wirtschaftssanktionen halten die Anhänger Nawalnys für die falsche Strategie, weil sie „20 % der Anti-Putin-Wählerschaft“ betreffen: „Menschen, die nach Europa fliegen, Geld ins Ausland überweisen oder Immobilien besitzen“. Für andere Bevölkerungsschichten seien solche Sanktionen nicht effektiv, denn diese Menschen „lebten schon vorher nicht gut, warum sollten sie jetzt damit anfangen“. Die „Oppositionellen“ lehnen auch Einreiseverbote für Russen in die Europäische Union ab: Eine Visasperre treffe die Menschen, die „im Kampf gegen Putin nützlich“ seien, weil sie „die gegen den Krieg eingestellten Russen vom demokratischen Westen“ abwende und „sie leiden“ lasse. Leonid Wolkow zufolge werden die westlichen Versuche, die Russen durch wirtschaftlichen Druck und Reisebeschränkungen zum Sturz ihres totalitären Regimes zu zwingen, die Russen nur „zu einer Stütze des Regimes“ machen. Dabei gibt es für Russen in Wirklichkeit viele Wege, das Land zu verlassen (und viele sind bereits ausgereist). Dennoch sehen wir immer noch keine russischen Massenbewegungen gegen den Krieg, weder innerhalb noch außerhalb Russlands.
Ebenso kritisieren die Nawalnisten das Zugangsverbot für Russen zu europäischen Ressourcen und Bildungsprogrammen, denn dies sei die einzige Möglichkeit für sie, ins Ausland zu reisen. In seinen Tweets äußert das Nawalny-Team außerdem sein Unverständnis über das Sendeverbot für den Fernsehsender „Doschd“ in einigen EU-Ländern, da dieser angeblich die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine berichtet. Ende Dezember 2022 wurde „Doschd“ in Litauen und Lettland verboten, da der Sender eine Karte Russlands mit der Krim gezeigt und in einer Sendung zu Spenden für die Unterstützung der russischen Armee aufgerufen hatte. Zudem kritisieren Nawalnys Anhänger die Sperrung der staatlichen russischen Nachrichtenagentur „RIA Nowosti“ in der Europäischen Union, da der Sender laut ihnen zunächst in Russland verboten werden müsste. Dabei bleibt es unklar, wie die Europäische Union ein Sendeverbot für „RIA Nowosti“ in Russland erwirken sollte, da sie nur innerhalb ihrer eigenen Zuständigkeit handeln kann.
Das Nawalny-Team kritisiert auch entschieden alle Sanktionen, die russischen Emigranten das Leben schwer machen. So regte sich Leonid Wolkow auf, er kenne „keinen einzigen Putinisten, dem die Entscheidung von Visa und Mastercard geschadet hätte, aber sie hat viele Menschen, die Putin nicht unterstützen, sowie unabhängige Medien getroffen“. Dabei betrafen diese Beschränkungen wohl kaum die russischen Emigranten, die Russland vor dem Beginn der großangelegten Invasion der Ukraine verlassen hatten. Stattdessen wirken sich die Nutzungsbeschränkungen für Visa und Mastercard überwiegend auf diejenigen Russen aus, die das Land bereits während des Krieges verließen und weiterhin russische Banken nutzen und somit den Krieg finanzieren.
Entscheidung von Visa und Mastercard
Die Zahlungsdienste Visa und Mastercard verkündeten im März 2022, dass sie ihre Tätigkeiten in Russland vollständig einstellen und keine Transaktionen mit russischen Karten mehr durchführen.Alexei Korosteljow beim Fernsehsender „Doschd“. Screenshot aus einem Video.
Die kollektive Verantwortung der Russen
Das Konzept der kollektiven Verantwortung der Russen für den Krieg in der Ukraine stößt im Westen manchmal auf ein gewisses Unverständnis. Schließlich kann man nicht alle 144 Millionen russischen Bürger verurteilen, ins Gefängnis stecken und dazu zwingen, ihre Schuld vor dem ukrainischen Volk abzubüßen. Man sollte jedoch kollektive Verantwortung nicht mit kollektiver Schuld verwechseln. Schuld kann nur vor Gericht in Bezug auf eine konkrete Person und ein konkretes Verbrechen festgestellt werden. Die Frage der kollektiven Verantwortung, von der die Ukrainer sprechen, hat hingegen eine etwas andere Bedeutung. Bei der kollektiven Verantwortung der Russen handelt es sich um die Verantwortung auf moralischer Ebene. Sie bedeutet, dass die russische Gesellschaft sich dafür verantwortlich fühlt, dass sie einer anderen Gruppe von Menschen schadet. Bislang ist es üblich, dass russische Unternehmen und sogar Einzelpersonen zu all den Verbrechen schweigen, die von der russischen Regierung und Armee während des Krieges in der Ukraine verübt wurden. Dieses Schweigen erlaubt es der russischen Regierung, ungehindert weiterzumachen und ihren Krieg gegen die Ukraine fortzuführen. Dies ist ein Teil der kollektiven Verantwortung der russischen Gesellschaft, die sich nicht gegen den Krieg aufgelehnt hat und den Krieg und die Vernichtung der Menschen im Nachbarland ignoriert. Die kollektive Verantwortung beinhaltet die Reue der russischen Gesellschaft und bildet eine direkte Brücke zur weiteren Wiedergutmachung, unter anderem durch die Zahlung von Reparationen.
Während des beobachteten Zeitraums hat das Nawalny-Team 704 Tweets über die kollektive Verantwortung der Russen veröffentlicht. Am meisten schrieben Leonid Wolkow (232 Tweets), der Account „Nawalny-Team“ (125 Tweets) und Iwan Schdanow (76 Tweets). Als Tweets, die die kollektive Verantwortung betreffen, wurden Tweets mit Begriffen wie „Putins Krieg“ gewertet. Derartige Formulierungen spielen die Beteiligung der Russen an der großangelegten Invasion der Ukraine herunter und verwischen ihre (direkte oder indirekte) Verantwortung für den bereits seit 2014 andauernden Krieg. So schrieb Leonid Wolkow im November 2022, dass „die Unterstützung für Putins Verbrechen in der russischen Gesellschaft“ falle, nachdem Putin die allgemeine Mobilisierung verkündet hatte. Es scheint, als hätte Putin persönlich Folterkeller eingerichtet und Zivilisten an verschiedenen Orten in der Ukraine vergewaltigt und erschossen. Natürlich ist es Putin, der „Städte zerbombt und unschuldige Menschen tötet“, wie Kira Jarmysch twitterte. Dabei klammerte sie die lange Kette der daran beteiligten Soldaten und Beamten völlig aus. Gleichzeitig wunderte sich Marija Pewtschich, dass „kein einziger [russischer] Minister, Abgeordneter oder wenigstens Beamter wegen des Krieges zurücktrat“. Auf Twitter fragte sie ihre Follower: „Unterstützen sie alle den Krieg? Wie soll man das sonst deuten?“
Tweet von Alexei Nawalny aus dem Jahr 2022 mit den Ergebnissen einer Befragung von 700 Moskauern. Die Antworten, dass beide Seiten die Waffen niederlegen sollen (also auch die Ukraine), interpretierte Nawalny als geringe Unterstützung des Krieges in der russischen Bevölkerung.
Das Nawalny-Team beharrt auf der Vorstellung, die Russen würden Putin in Wirklichkeit gar nicht unterstützen und jegliche soziologische Erhebungen seien in einem autoritären System nicht relevant. Wladimir Milow bezeichnete auf Twitter sogar diejenigen offen als Idioten, die Daten verbreiteten, nach denen fast zwei Drittel der Russen den Krieg unterstützen. Er behauptet, dies würde die Menschen nur „spalten“ und den Kampf gegen Putin behindern. Im Gegenzug verbreiten die Nawalnisten eigene soziologische Umfragen, die, wie sie selbst zugeben, nicht repräsentativ sind. Diese Umfragen werden regelmäßig vom Fonds für Korruptionsbekämpfung durchgeführt und spiegeln angeblich das „tatsächliche“ Niveau der Unterstützung des Krieges, den die Russen in der Ukraine begonnen haben, wider.
Die Mitglieder des Nawalny-Teams geben zu, dass sie sich bei eigenen Umfragen zwar früher an wissenschaftliche Standards hielten, seit dem Beginn der großangelegten Invasion der Ukraine jedoch auf die Repräsentativität verzichten mussten, da immer weniger Russen über den Krieg reden möchten (eine solche Schweigsamkeit ist ebenfalls ein Hinweis auf die Haltung der Russen zur kollektiven Verantwortung für die Verbrechen in der Ukraine). Ihre Stichprobe spiegelt daher nur die Meinungen jener Einwohner der russischen Hauptstadt, die aktive Internetnutzer sind, wider. Gemäß ihrer im Juni 2022 durchgeführten Umfrage hielten es lediglich 7 % der Befragten für nötig, mehr Haushaltsmittel für die Finanzierung der russischen Armee aufzuwenden. Dies interpretierte das Nawalny-Team als Indikator dafür, wie wenig Russen tatsächlich den Krieg unterstützen.
Es sollte angemerkt werden, dass die Stichprobe dieser Umfrage lediglich 700 Einwohner Moskaus umfasste. Der Versuch, damit Tendenzen abzubilden, wirkt daher eher wie ein Manipulationsversuch mit Zahlen, um die eigene Meinung wenigstens auf irgendetwas stützen zu können.
Ebenso verbreiteten die „Oppositionellen“ Daten darüber, dass immer mehr Bewohner Russlands ihr eigenes Land für den Aggressor anstatt für einen Friedensstifter halten und ihm die Schuld an dem Krieg geben. Tatsächlich hielten in der von ihnen durchgeführten Umfrage lediglich 36 % Russland für den Aggressor, der Rest gab dem „kollektiven Westen“, der Ukraine oder „beiden Seiten“ die Schuld.
Dabei verstehen auch die Mitglieder des Nawalny-Teams, dass ihre Umfragen nicht repräsentativ sind, da sie nur die Meinung einer kleinen Auswahl der 12 Millionen Hauptstadtbewohner abbilden. Die Nawalnisten betonen daher, dass sie sich vor allem für die Dynamik der Antworten im Zeitverlauf interessieren, wenn sie solche Umfragen mit einer kleinen Stichprobe durchführen.
Daten zur Unterstützung des Krieges
Umfrage des Allrussischen Meinungsforschungszentrums (russisch „Wserossijski zentr isutschenija obschtschestwennowo mnenija“, kurz WZIOM) vom August 2022.Befragung von 700 Moskauern im März 2022: Lediglich 36 % hielten Russland für den Aggressor.
Die Nawalnisten reagieren stets beleidigt, wenn man die Russen als „Sklaven“ oder „unfähig zur Demokratie“ bezeichnet. Sie halten solche Äußerungen für „proputinistisch“, „unmoralisch“ und „unwahr“. Doch wer erklärt ihnen, dass man das Gegenteil mit erfolgreichen Beispielen oder zumindest mit systematischen Versuchen, etwas zu unternehmen, und nicht mit bloßem Gerede auf Twitter beweisen müsste? Der Vertreter des Nawalny-Teams Georgi Alburow wunderte sich: Wenn die Russen Sklavengene haben, warum haben dann die 3 Millionen in Russland lebenden Ukrainer ohne diese Sklavengene Putins Regime nicht längst gestürzt? Und auch wenn die Anhänger Nawalnys manchmal zustimmen, dass die russische Bevölkerung eine kollektive Verantwortung tragen muss, setzen sie hinter diese Aussage meist ein Komma und keinen Punkt. So rechtfertigte sich Wladimir Milow: „Auch wenn Russland und die Russen schuldig sind, gehen manche Leute zu weit“. Und: „ich persönlich habe alles getan, um Putin aufzuhalten, und weigere mich, diese Verantwortung zu teilen“. Sein Kollege Wjatscheslaw Gimadi hält die kollektive Verantwortung für ein „Hirngespinst der putinschen Normenbildung“. Sieht so aus, als würde die oppositionelle Haltung dieser „Oppositionellen“ ordentlich hinken.
Gleichzeitig behauptete Nawalny als Anführer der „oppositionellen“ Gruppe in einem Kommentar für die Washington Post: „Natürlich hat Putin den Krieg gegen die Ukraine begonnen und führt ihn weiterhin […], aber die wirkliche Kriegspartei sind die gesamte Elite und das Regierungssystem an sich – ein ewiger sich selbst reproduzierender russischer Autoritarismus imperialer Ausformung“. Nach der Logik der russischen sogenannten Oppositionellen bleiben die „kleinen Leute“ also wieder einmal frei von jeglicher Schuld und Verantwortung. Konkret sei Putin schuld daran, dass „Menschen in der Ukraine in U-Bahn-Stationen statt in ihrem warmen Zuhause übernachten müssen“.
Alexei Nawalny bei einem seiner Auftritte. Foto: Open Source.
Die Verurteilung von Kriegsverbrechern nach Ansicht des Nawalny-Teams
Das drittpopulärste Thema beim Nawalny-Team ist die Bestrafung der Kriegsverbrecher und ein Prozess gegen sie. Zu dieser Kategorie zählte das Team von „OPORA“ alle Erwähnungen der verbrecherischen Natur des russisch-ukrainischen Krieges oder der Taten der russischen Regierung sowie die Einordnung der Taten Putins und seiner Umgebung als terroristisch. Während des betrachteten Zeitraums veröffentlichten die untersuchten Personen 354 Tweets zu diesem Thema. Am häufigsten wurde ein Tribunal gegen die Kriegsverbrecher von Leonid Wolkow (90 Tweets), dem Account „Nawalny LIVE“ (47 Tweets) und Marija Pewtschich (40 Tweets) erwähnt.
In den „15 Punkten“ sprach Nawalny davon, dass die neue russische Regierung nach dem Kriegsende „in Zusammenarbeit mit internationalen Institutionen die Kriegsverbrechen untersuchen“ müsse.
Tweet von Leonid Wolkow
Nawalnys Mitstreiter setzen seinen Kurs weitgehend fort: Die meisten seiner Kollegen erkannten in ihren Tweets die Taten bestimmter Russen als Kriegsverbrechen an und riefen dazu auf, ein internationales Tribunal zu gründen oder Putin nach Den Haag (an den Internationalen Strafgerichtshof, Anm. d. Übers.) zu überstellen. Interessant ist hierbei, wie das Nawalny-Team über die Kriegsverbrechen berichtet, die die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine verübt. So bezeichneten sie die Ereignisse in Butscha und anderen Orten rund um Kyjiw und in weiteren Regionen gegenüber ihren Followern als Genozid am ukrainischen Volk. Leonid Wolkow twitterte, dass ein Prozess gegen die Kriegsverbrecher der einzige Weg für Russland sei, die Ideologie des Putinismus zu überwinden: „Würde Putin jetzt sterben, noch vor einer Niederlage, vor einem Prozess und vor seiner Entlarvung, wird der Putinismus als Ideologie überleben“. Dann würden seiner Meinung nach viele Menschen glauben, dass Russland „hätte siegen können, wenn der Anführer (Putin, Anm. d. Übers.) nicht getötet worden wäre“, und dass „unter Putin Ordnung und Stabilität“ geherrscht hätte. Laut Wolkow wäre es für Russland besser, wenn Putin „besiegt wird und mit eigenen Augen den Zusammenbruch seines Regimes sieht“, da er „seinen Anhängern nicht als Legende in Erinnerung“ bleiben soll, sondern als das, was er wirklich ist: „ein armseliger, feiger, gieriger Verrückter.“
Alexei Nawalny während eines Auftritts. Foto: Open Source.
Liest man sich aber die Tweets von Nawalnys Anhängern über diese Verbrechen durch, lässt sich nur schwer feststellen, wem genau sie die Schuld an den Taten geben. In manchen der Beiträge wird die russische Armee als Verbrecher und Besatzer bezeichnet, da sie „an einem verbrecherischen Krieg teilnimmt“, weshalb „der Armeedienst auch eine Mitschuld an Kriegsverbrechen“ bedeute. So schrieb der Account „Nawalny LIVE“: „Russische Soldaten sollen Russland verteidigen und in ihren Kasernen sein. Alle, die sich gerade auf dem Gebiet eines fremden Landes befinden, das uns nicht angegriffen hat, nehmen an einem ernsthaften Kriegsverbrechen teil.“ Ein anderer „Oppositioneller“, Wladimir Milow, rief dazu auf, die „große russische Kultur“ zu vergessen und sich damit abzufinden, dass „das Bild Russlands auf der Welt für viele Jahre von den Misshandlungen durch die russischen Soldaten in Butscha geprägt sein wird.“
Das Nawalny-Team bezeichnet auch russische Propagandisten als Kriegsverbrecher, denn sie schafften „eine öffentliche Meinung, die es Putin nicht nur erlaubt, Kriegsverbrechen zu begehen, sondern dies geradezu von ihm fordert.“ In diesem Zusammenhang erinnerte Marija Pewtschich an die Verhaftung von Félicien Kabuga, dem ehemaligen Generaldirektor des ruandischen Radio- und Fernsehsenders „Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM)“, der der Beihilfe zum Genozid in Ruanda 1994 verdächtigt wird. Pewtschich deutete an, dass die russische Propagandistin Margarita Simonjan Kabugas Nachfolgerin wird. Gleichzeitig unterstützen Mitglieder des Nawalny-Teams in ihren Tweets die Worte der dubiosen russischen Propagandistin Marina Owsjannikowa, dass „nur eine Person, nämlich Putin, für die Aggression verantwortlich“ sei. Auch wenn Owsjannikowa für einen bestimmten Zeitraum fast zu einer Heldin des russischen Widerstands wurde, arbeitete die Journalistin seit Beginn des russisch-ukrainischen Kriegs 2014 für die russische Propaganda. Selbst wenn sie ihre Haltung wirklich geändert haben sollte, macht es sie nicht frei von Verantwortung für die Verbrechen, an deren Vertuschung sie acht Jahre lang beteiligt war.
Genozid in Ruanda (Ostafrika)
Massenmorde am Volk der Tutsi, die 1994 von Vertretern des Hutu-Volkes organisiert wurden, welches die ethnische Mehrheit im Land stellte. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen starben dabei mehr als eine Million Menschen. Der Sender „Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM)“ diente als Quelle der Propaganda, schürte Hass und Gewalt und dehumanisierte die Tutsi.Des Weiteren twitterte Kira Jarmysch, dass die Morde in Butscha und der massive russische Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine Putins Schuld seien und man ihm dies nicht verzeihen dürfe. Und Nawalny nannte die russische Mobilisierung einen „Versuch, die Menschen in die Verbrechen, die Putin verübt, mit hineinzuziehen.“
Marina Owsjannikowa
Eine ehemalige Mitarbeiterin des russischen Staatssenders Erster Kanal, die für ihren Anti-Kriegs-Protest während einer Live-Sendung am 14. März 2022 bekannt wurde.Beine russischer Kriegsverbrecher. Foto: Open Source.
Unter den Mitgliedern des Nawalny-Teams gibt es ebenfalls keine einheitliche Meinung darüber, wie ein Prozess gegen die russischen Kriegsverbrecher genau aussehen soll. Wladimir Milow lobte zum Beispiel das Vorgehen des Europaparlaments, das im Januar 2023 ein Sondertribunal zur Ahndung von Russlands Verbrechen forderte. Ruslan Schaweddinow schrieb über das Urteil zum 2014 bei Donezk abgeschossenen Passagierflug MH17, dass weitere Gerichtsfälle ebenfalls in Den Haag untersucht werden sollten. Der Account „Nawalny LIVE“ behauptete, dass russische Kriegsverbrecher entweder durch ein ukrainisches Gericht oder in Den Haag (vor dem Internationalen Strafgerichtshof, Anm. d. Übers.) verurteilt werden sollten. Georgi Alburow schrieb, dass die russische Regierungsspitze (Wladimir Putin, der damalige Verteidigungsminister Sergei Schoigu, der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow und andere) sich nach einem unabhängigen russischen Gericht vor einem internationalen Tribunal wiederfinden werde. Allerdings macht das Nawalny-Team nicht deutlich, wie genau sich Russland unter seiner Führung dazu verpflichtet, die Kriegsverbrecher einem internationalen Gericht auszuhändigen.
Russland verfügt immer noch über ein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, was es ihm ermöglicht, Beschlüsse über die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs im Fall der Ukraine gegen Russland zu blockieren. Bei solchen Thesen des Nawalny-Teams handelt es sich daher derzeit nicht um mehr als populistische Tweets.
Wie das Nawalny-Team die Rückgabe der besetzten ukrainischen Gebiete sieht
Im Laufe des untersuchten Jahres veröffentlichten die sogenannten Oppositionellen 175 Tweets über die temporär besetzten Gebiete der Ukraine. Untersucht wurden sämtliche Beiträge, in denen dieses Thema erwähnt wurde, nicht nur solche, die einen Standpunkt oder einen Plan bezüglich dieser Gebiete beinhalten. Die meisten Tweets zu diesem Thema veröffentlichte Leonid Wolkow (59 Tweets), alle anderen „Oppositionellen“ schrieben ungefähr gleich viel (11 bis 17 Tweets pro Jahr).
Insgesamt zeigten sich die Mitstreiter Nawalnys solidarisch, dass die Ukraine alle ihre Gebiete zurückbekommen und die Grenzen von 1991 wiederherstellen soll.
Bei den Erwähnungen der besetzten Gebiete handelte es sich entweder um aktuelle Nachrichten oder um Äußerungen, dass die Besatzung illegal ist und diese Gebiete an die Ukraine zurückgegeben werden müssen. Teilweise manipulieren die „Oppositionellen“ mit diesem Thema sogar, um ihre Unfähigkeit zu rechtfertigen, das eigene diktatorische Regime zu stürzen. So antwortete Wladimir Milow auf Kritik an der Schwäche der Protestbewegungen in Russland: „Wenn die Einwohner der besetzten Gebiete der Ukraine die Besatzer stürzen, dann könnt ihr uns ja einen Kurs darin geben, wie man richtig ‚aussteigt‘“. Er appellierte zudem an die Ukrainer, die angeblich nicht „das wahre Ausmaß des Terrors in Russland“ kennen, welches man „anhand der Bedingungen in den besetzten Gebieten zu verstehen versuchen“ könne. Dabei ist es eher zu bezweifeln, ob Milow selbst jemals irgendwo außer im Siegespark in Moskau einen Panzer gesehen oder einen Artilleriebeschuss in echt und nicht nur aus Laptop-Lautsprechern gehört hat.
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Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine
Über Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine wurde 98 mal getwittert, davon stammten 75 Tweets von Leonid Wolkow. Die Anhänger Nawalnys halten Verhandlungen für unmöglich, solange beide Seiten gegeneinander Krieg führen und sich russische Diplomaten wie „Prolls“ und „Kleinkriminelle“ verhalten.
Für Nawalnys Anhänger ist zudem eindeutig, dass Verhandlungen nur für Russland von Vorteil wären und Waffenstillstandsvereinbarungen gefährlich wären: Diese würden kein endgültiges Ende des Krieges, sondern bloß ein Einfrieren des Konflikts bedeuten, was nur Russland oder dem „kriegsmüden Europa“ nützen würde. Laut Leonid Wolkow würde Europa einen „schlechten Frieden einem guten Krieg“ vorziehen. Doch auch diese These lässt sich widerlegen: Die europäischen Länder hören nicht auf, die Ukraine zu unterstützen, und warten somit nicht nur schweigend auf das Ende des russisch-ukrainischen Krieges. Zudem ist praktisch die gesamte internationale demokratische Gemeinschaft einstimmig mit der ukrainischen Friedensformel einverstanden (ihre Zustimmung dazu äußerten unter anderem die Europäische Union, die Parlamentarische Versammlung des Europarates sowie die Vereinten Nationen).
Tweet des Mitglieds des Nawalny-Teams Wladimir Milow, Russland habe unter Putin alle zuvor unterschriebenen internationalen Vereinbarungen gebrochen. Unnötig zu erwähnen, dass Russland sich auch zur Zeit der Sowjetunion oder unter Jelzin nicht daran gehalten hat.
Waffenlieferungen an die Ukraine nach Ansicht des Nawalny-Teams
Zu diesem Thema gab es im betrachteten Zeitraum nur 50 Tweets, von denen 20 von Leonid Wolkow veröffentlicht wurden.
Insgesamt unterstützen die Nawalny-Anhänger Waffenlieferungen an die Ukraine und betonen, dass es nicht zum großangelegten Krieg gekommen wäre, wenn die Ukraine früher Waffen erhalten hätte. Gleichwohl behauptete Alexei Nawalny noch 2015 in einem Interview mit der Washington Post, dass der Westen der Ukraine keine tödlichen Waffen liefern sollte, da „ein militärischer Sieg der Ukraine über Russland unmöglich“ sei. Außerdem verglich er den Preis für den Einsatz einer Javelin-Panzerabwehrrakete mit der erforderlichen Menge an Online-Werbung für „mindestens acht Millionen Aufrufe eines Videos mit der Wahrheit über die Geschehnisse in der Ukraine“. Dabei müssten die Russen dafür nur die Nachrichten der internationalen oder ukrainischen Medien lesen. Zudem kann man eine angreifende Armee nicht durch Online-Werbung stoppen.
Tweet von Leonid Wolkow
Russische „Oppositionelle“ berichten im Allgemeinen über neue Waffenlieferungen an die Ukraine, freuen sich über Panzerlieferungen und rufen dazu auf, der Ukraine Luftabwehrsysteme zur Verfügung zu stellen. Leonid Wolkow und Iwan Schdanow schrieben, der Westen solle nicht auf die Drohungen des Kremls reagieren, wegen der Lieferung von Panzern oder Flugzeugen an die Ukraine Atomwaffen einzusetzen, da es sich dabei nur um Säbelrasseln handeln würde. Doch auch wenn das Nawalny-Team Waffenlieferungen an die Ukraine Verhandlungen vorzieht, blieb die Anzahl der entsprechenden Tweets bei wenigen pro Jahr.
Tweet von Alexei Nawalny
Außerdem erwähnen die russischen „Oppositionellen“ in ihren Tweets ausländische Spendensammlungen für „Bayraktar-Drohnen“ und andere Waffen für die Ukraine, bewundern „die Solidarität und Selbstorganisation“ der Litauer und beklagen, dass es „in Russland nie auch nur annähernd so große Crowdfunding-Kampagnen“ gegeben habe. Auf die Frage, ob man eine ähnliche Kampagne in Russland organisieren könne, antwortete Wolkow indes, dass es zu gefährlich sei, von Russland aus an die ukrainische Armee zu spenden, weshalb das Nawalny-Team auf solche Spendenaktionen verzichte. Gleichzeitig setzen sich die russischen „Oppositionellen“ aktiv für die Rechte von Russen ein, die sich im Ausland und somit in Sicherheit befinden. Jedoch konnten während der Recherchen keine Aufrufe an Auslandsrussen, für den Sieg der Ukraine zu spenden, gefunden werden.
„Selbstorganisation der Litauer“
Diese Formulierung bezieht sich auf folgende Geschichte: Der litauische Fernsehmoderator Andrius Tapinas sammelte im Mai 2022 Spenden für eine Drohne für die Ukraine. Die Litauer spendeten innerhalb von drei Tagen 5 Millionen Euro. Daraufhin schenkte der Hersteller Baykar Litauen eine Bayraktar-Drohne, und Litauen übergab diese im Juli 2022 der Ukraine.Die Rückkehr der deportierten Kinder und die Zahlung von Reparationen
Während des Untersuchungsjahres schrieben Nawalnys Anhänger nur 12 Tweets über nach Russland deportierte Kinder. Die meisten dieser Tweets hatten einen reinen Nachrichtencharakter. Wie zu erwarten war, wurde darin nicht erwähnt, dass die Deportationen ein Merkmal eines Völkermords darstellen. Mögliche Wege, den zwangsdeportierten Kindern zu helfen oder ihre Rückkehr zu ermöglichen, wurden ebenfalls nicht thematisiert.
Am wenigsten sprachen die Nawalnisten darüber, dass Russland nach dem Kriegsende verpflichtet sein wird, Reparationen nicht nur an den ukrainischen Staat, sondern auch an jeden einzelnen ukrainischen Bürger zu zahlen, der infolge der unprovozierten russischen Aggression sein Eigentum verloren hat. Während des analysierten Zeitraums gab es nur drei Tweets zu diesem Thema: Zwei davon veröffentlichte Leonid Wolkow im März und August 2022, einen weiteren der Account „Nawalny LIVE“ im März 2022. In allen drei Tweets sprachen Nawalnys Anhänger davon, dass Russland nach dem Kriegsende „zusätzlich zum Shaming der Russen, woran allein Putin die Schuld trägt“, der Ukraine „Hunderte Milliarden an Reparationen“ zahlen wird. Laut Leonid Wolkow sollen die einfachen Russen jedoch nicht die Last der Entschädigungen tragen, denn „Putins Freunde haben sowieso mehr gestohlen, daher sollten die Zahlungen aus ihrem beschlagnahmten Vermögen stammen“. Sogar in diesen drei Tweets vertreten die russischen „Oppositionellen“ also die Idee, dass Reparationszahlungen „einen unglaublichen moralischen und materiellen Schaden“ für die Russen bedeuten würden.
Tweet von Leonid Wolkow über Reparationen
Russlands Zukunft aus Sicht des Nawalny-Teams
Während des Untersuchungszeitraums veröffentlichte das Nawalny-Team 163 Tweets zur Zukunft Russlands. Dieses Thema wurde somit wenig beachtet und lag bei Nawalnys Anhängern nur auf Platz 5. Am häufigsten twitterten hierzu Leonid Wolkow (97 Tweets, fast 60 % aller Tweets zu diesem Thema), Iwan Schdanow (19 Tweets) und Kira Jarmysch (17 Tweets).
Russlands Zukunft (Illustration: KI-Bildgenerator DALL-E 2)
Im Laufe des Jahres 2022 hat das Nawalny-Team auf seinen kollektiven Accounts zwei größere Veröffentlichungen zur Zukunft Russlands verbreitet: die bereits erwähnten „15 Punkte“ sowie einen Kommentar Nawalnys für die Washington Post. In beiden Beiträgen lässt sich eine recht klare Vision des „wunderbaren zukünftigen Russlands“ erkennen, wie es von Nawalnys Anhängern genannt wird. Nawalnys Anhängern zufolge sollte die Strategie des Westens und der neuen russischen Regierung nach dem Ende des Krieges in erster Linie darauf gerichtet sein, dass Russland und seine Regierung „keine Kriege mehr anfangen wollen und in Kriegen keinen Vorteil sehen“.
Nawalny behauptete, die russische Gesellschaft als solche neige nicht zur Gewalt, sie werde nur von einer kleinen Kaste imperialistisch eingestellter Bürger Russlands dazu angestachelt. Um zu verhindern, dass erneut aggressive Imperialisten an die Macht kämen, müsse Russland, so Nawalny, lediglich die Macht aus den Händen eines einzelnen Menschen nehmen, eine parlamentarische Republik werden und ein System schaffen, in dem „Konsens, Übereinkunft und die Berücksichtigung der Interessen der gesamten Gesellschaft“ die Leitideen seien. Außerdem müssten „ein Machtwechsel mithilfe ehrlicher Wahlen“ herbeigeführt, „unabhängige Gerichte, Föderalismus und lokale Selbstverwaltung“ eingerichtet und „das Regime Putins und seiner Diktatur“ demontiert werden. Dies solle „idealerweise durch allgemeine freie Wahlen und die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung“ geschehen.
Nawalny über Russlands Zukunft als parlamentarische Republik
Auf Twitter geht das Nawalny-Team näher auf dieses Thema ein. Dessen Mitglieder schreiben viel darüber, dass Russlands Zukunft in Europa liegt. So zitierte Leonid Wolkow auf Twitter den litauischen EU-Abgeordneten Andrius Kubilius, dass „man die demokratischen Gene der Russen nicht vertrinken kann“, und Russland selbst nach dem Ende des Krieges in der Ukraine „in den Europarat, die Parlamentarische Versammlung des Europarates und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurückkehren“ wird“. Die „Länder müssen miteinander handeln und kooperieren, und nicht sich bekriegen“, so Kubilius. Später teilte Wolkow dieses Interview mit Kubilius erneut und bat seine Follower, ihre Aufmerksamkeit auf einen Absatz zum Marshallplan zu richten: Nach Ansicht von Kubilius muss der Westen einen Fahrplan für den Wiederaufbau Russlands aufstellen, damit Russland nicht aufgrund wirtschaftlicher Probleme einen neuen Krieg beginnt.
Solche Aufrufe zeugen davon, dass die Anhänger von Nawalnys Kurs den Sinn hinter dem Marshallplan nicht besonders gut begreifen. Der Marshallplan hatte den Wiederaufbau der durch den Zweiten Weltkrieg geschädigten Länder Europas zum Zweck, aber nicht die Vorbeugung eines Dritten Weltkrieges oder gar die Unterstützung oppositioneller Kräfte in Deutschland. Oder ist die russische „Opposition“ etwa mit dem Bombardement, der Besetzung und der Teilung Russlands in einen West- und einen Ostteil einverstanden, um den erträumten Geldzuschuss vom Westen zu erhalten?
Marshallplan
Ein Programm zur wirtschaftlichen Unterstützung der europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg, das 1947 vom Staatssekretär der USA, George C. Marshall, vorgeschlagen wurde und im April 1948 in Kraft trat.Außerdem versucht sich das Nawalny-Team an Prognosen zu Russlands Schicksal nach dem Krieg. Ruslan Schaweddinow twitterte, dass etwa 16 Millionen Russen unterhalb der Armutsgrenze leben und diese Zahl durch den Krieg noch steigen wird. Außerdem sei es unmöglich, einen Machtwechsel in Russland auf demokratischem Wege zu erreichen. Iwan Schdanow schrieb, dass ein Krieg auf russischem Gebiet unvermeidlich und der Zerfall Russlands ein durchaus realistisches Szenario ist. Leonid Wolkow ist hingegen überzeugt, dass „der Zerfall Russlands in mehrere Teile, die sich gegenseitig bekriegen und im Besitz von Atomwaffen sind“, unmöglich ist und dass solche apokalyptischen Szenarien zuallererst dem Kreml nützen. Europa und die USA müssten davon überzeugt werden, dass nach dem Sturz des Putin-Regimes nichts Schlimmes passieren werde.
Wie viel Opposition steckt in den russischen „Oppositionellen“?
Insgesamt erinnern die Twitter-Aktivitäten der untersuchten Mitglieder des Nawalny-Teams eher an die Arbeit eines Medienprojekts als an eine politische Bewegung, die noch vor ein paar Jahren als beinahe einzige Alternative zum Putin-Regime wahrgenommen wurde. Dass sich ihre Aktivitäten auf dem Niveau einer Nachrichtenabteilung bewegen, zeugt von der politischen Infantilität des Nawalny-Teams als einer der am stärksten institutionalisierten Gruppen der russischen „Opposition“. Sie beklagen sich regelmäßig über ihre Kritiker, darunter Ukrainer, die kein Verständnis für ihr „schweres Schicksal“ hätten und ihre Bemühungen um Frieden und Demokratie in Russland nicht wertschätzten. So kommentierte Wladimir Milow die Kritik eines ukrainischen Twitter-Nutzers mit den Worten: „Sie suchen nach einem doppelten und dreifachen Sinn, wo es keinen gibt. Hören Sie damit auf. Da erklärt man allen, ‚Ukrainer sind keine Nazis, sondern normale Menschen, und Putin lügt‘, und dann kommen Ukrainer in die Kommentare und erschweren uns die Arbeit.“ Die ukrainische Aktivistin und Bloggerin Iryna Hil wurde zudem von Nawalnys Anhängern als „Chochol“ (abwertende Bezeichnung für Ukrainer, Anm. der Übers.) und „Tier“ beschimpft, weil sie Marija Pewtschich auf Twitter kritisiert hatte.
Die Einstellungen und Ansichten des Nawalny-Teams zu vielen Aspekten des russisch-ukrainischen Krieges sind teilweise widersprüchlich und unkonsolidiert (abgesehen von der Verurteilung des Krieges eher als unerwünschte Erscheinungsform der Realität sowie einer grundlegenden Kritik am herrschenden Regime). Das kann man zum Teil damit erklären, dass die Freilassung ihres Anführers (Alexei Nawalny, Anm. d. Übers.) aus der Haft das Hauptthema der sogenannten Oppositionellen war. Worauf sie sich nach seinem Tod konzentrieren werden, ist bislang unklar. Aber auch ihre Überlegungen zur Zukunft Russlands und der russisch-ukrainischen Beziehungen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.
Alexei Nawalny während einer Gerichtsverhandlung. Foto: AP.
Die „Oppositionellen“ versuchen, Berichte über die Gewalt und die Verbrechen der russischen Armee in den besetzten ukrainischen Gebieten dafür zu nutzen, das Leiden der Russen und insbesondere der russischen Liberalen in den Vordergrund zu rücken. Diese seien ebenso Opfer wie die Ukrainer in den besetzten Gebieten oder in den relativ friedlichen, aber regelmäßig von Russland beschossenen Gebieten. Die Russen hätten jedoch keine Möglichkeit, Widerstand zu leisten.
In ähnlicher Weise nutzen die Nawalnisten die Diskussionen über Reparationen und die Entwicklung des Nachkriegs-Russlands für sich. Sie betonen, wie wichtig jede mögliche, auch finanzielle Unterstützung für das künftige Russland sei, damit es sich „vom Boden erheben“ und die Kapazitäten für die notwendigen Entschädigungszahlungen aufbauen könne. Zweifellos wirkt eine solche Rhetorik rechtfertigend und manipulativ, denn das Nawalny-Team scheint zu vergessen, dass Russland selbst diesen grundlosen Krieg begonnen hat.
Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen daher: Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, dass die Vertreter des Nawalny-Teams begriffen haben, welche Bedrohung ihr Land für die globale Friedensarchitektur darstellt und wie viel Schaden dieser Terrorstaat in den letzten Jahrhunderten in der Ukraine bereits angerichtet hat. Stattdessen haben die russischen „Oppositionellen“ bereits einen Kampf um die Ressourcen für den Wiederaufbau Russlands begonnen und konkurrieren so mit dem Land, das sie selbst gerade zerstören. Die Versuche des Nawalny-Teams, die Aufmerksamkeit der Welt für den russisch-ukrainischen Krieg auszunutzen, um so ihre eigenen gegenwärtigen und zukünftigen Interessen durchzusetzen, wirken daher wie die Taten einer schwächelnden, vom Chauvinismus infizierten „Opposition“.