
Russland stiehlt ständig. Während des großangelegten Russisch-Ukrainischen Krieges schrecken die russischen Besatzer nicht davor zurück, selbst Gebrauchsgüter wie Waschmaschinen, Bügeleisen, elektronische Geräte, Kleidung, Spielzeug und Ähnliches zu stehlen. Die Ukrainer verspotten diese „Erfolge“ der Besatzer und erstellen zahlreiche Memes über die Plünderungen.
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Dieser Artikel enthält Links zu russischen Websites, die über ein VPN aufgerufen werden können.Das schlimmste Verbrechen der russischen Besatzer ist jedoch die Verschleppung von Menschen. Seit dem Beginn der großangelegten Invasion in die Ukraine führen die russischen Behörden und ihre Komplizen, vor allem Kollaborateure, Massendeportationen durch. Sie verschleppen Ukrainer gegen ihren Willen in weit entfernte Gebiete Russlands und nach Belarus. Seit Anfang März 2022 wurden zahlreiche Fälle von Deportationen ukrainischer Staatsbürger durch russische Sicherheitskräfte in den Regionen Polissja, Siwerschtschyna, Sloboshanschtschyna, Donetschtschyna, Podniprowja und Saporischschja sowie Tawrija festgestellt. Am 26. März 2022 gab die Vizepremierministerin und Ministerin für die Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine, Iryna Wereschtschuk, die geschätzte Zahl der von Russland deportierten Ukrainer bekannt: 40.000 Personen.
Die russischen Medien verbreiten jedoch aktiv Desinformationen und Propaganda, indem sie durch eine verharmlosende Wortwahl Tatsachen verschleiern: Die Deportation von Ukrainern wird als „Evakuierung“ bezeichnet, die Deportierten als „Flüchtlinge“.
Deportationen sind ein verbrecherisches Instrument seitens Aggressorstaaten zur Unterwerfung und Vernichtung der Bevölkerung in besetzten Gebieten. Diese von Russland seit Jahrzehnten angewandte Methode ist nicht neu. Das heutige Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion* betreibt seine Außenpolitik auf schändlichste Weise und begeht die gleichen Verbrechen wie die Kommunisten im 20. Jahrhundert. Um die Kontinuität dieser menschenverachtenden Tradition aufzuzeigen, werden in diesem Artikel Fälle von Zwangsumsiedlungen verschiedener Völker von der Sowjetzeit bis zur Gegenwart geschildert.

Wladimir Putin und Josef Stalin. Quelle: Krym.Realiji.
* Sowjetunion
Die Sowjetunion, amtlich „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (UdSSR), war ein Staat in Osteuropa und Asien, der von 1922 bis 1991 existierte. Zu ihrem Staatsgebiet gehörten unter anderem die Russische und die Ukrainische Sowjetrepublik. Insgesamt bestand die Sowjetunion zu Zeiten ihrer größten Ausdehnung nach dem Zweiten Weltkrieg aus 15 Unionsrepubliken.
Deportationen in der Sowjetzeit: Unterwerfung und Vernichtung
In den 69 Jahren des Bestehens der Sowjetunion führten die kommunistischen Straf- und Repressionsorgane etwa 110 Deportationsaktionen durch, bei denen fast 6 Millionen unschuldige Menschen zwangsumgesiedelt wurden. Die Besetzung fremder Gebiete, die Vernichtung der Intelligenz, Unterdrückung und Völkermord waren die Methoden zur Schaffung des sogenannten „Sowjetvolks“. Das damals größte Land der Erde war übersät mit Konzentrations- und Arbeitslagern, in denen die verbrecherische Staatsmacht das Leben von Millionen Menschen zerstörte.

Karte der sowjetischen Konzentrationslager. Quelle: Radio Swoboda.
Die Deportationen aus den baltischen Staaten
Massendeportationen aus den baltischen Staaten fanden zweimal statt: 1941 und 1949.
Den Deportationen vorausgegangen war die sowjetische Besetzung Estlands, Lettlands und Litauens im Jahr 1940. Alles begann im August 1939, als der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, unterzeichnet wurde. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurden Estland und Lettland der sowjetischen und Litauen der deutschen Interessensphäre zugeschlagen. Mit diesen Dokumenten begann die schrittweise Expansion der Sowjetunion in die drei damals noch unabhängigen baltischen Staaten.
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Die Sowjets begannen 1940 mit der Zwangsumsiedlung der Bevölkerung der baltischen Staaten und vollzogen sie ab dem Sommer 1941 systematisch. Auf dieses Verbrechen bereiteten sie sich sorgfältig vor, indem sie die Bevölkerungsschichten, die deportiert werden sollten, klar definierten.
* NKWD
Das „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“ (russisch: Narodny kommissariat wnutrennich del, NKWD) war eines der Volkskommissariate der sowjetischen Regierung, wie die Ministerien der Sowjetunion bis 1946 bezeichnet wurden. Das NKWD der Russischen Sowjetrepublik ging 1917 aus dem Innenministerium (russisch: Ministerstwo wnutrennich del, MWD) des Russischen Reichs hervor. 1934 wurde es als NKWD der gesamten Sowjetunion neu gebildet. 1946 wurde das NKWD in die ursprüngliche Bezeichnung „Innenministerium“ (MWD) zurückbenannt.Die Zahl der Menschen, die aus Lettland, Litauen und Estland deportiert werden sollten, ist nicht exakt bekannt. Nach einem Plan des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD*) vom Juni 1941 sollten aus der Estnischen, Lettischen, Litauischen und Moldauischen Sowjetrepublik insgesamt 74.395 Personen – vom NKWD „Spezialkontingente“* genannt – deportiert werden. Darunter waren 22.885 Familienväter, 4.159 Kriminelle, 46.557 Familienmitglieder sowie 794 Frauen, die im Plan als „Prostituierte“ bezeichnet wurden.
Die Deportationspolitik der sowjetischen Regierung entwickelte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Die ersten Opfer waren die politische Führung und die Militärelite. Im Juli 1940 wurden der Präsident der Republik Estland, Konstantin Päts, und der Oberbefehlshaber der estnischen Streitkräfte, Johan Laidoner, deportiert. Betroffen waren auch alle ehemaligen Vertreter der estnischen Regierung. Vier von ihnen – Friedrich Karl Akel, Jüri Jaakson, Jaan Tõnisson und Jaan Teemant – wurden ermordet, vier weitere starben im Gefängnis.
* „Spezialkontingent“
Als „Spezialkontingent“ (russisch: „spezkontingent“) bezeichnete der sowjetische Repressionsapparat die Millionen von Menschen, die dem NKWD für Zwangsarbeit zur Verfügung standen: Häftlinge, „Arbeitsarmisten“ (zur Zwangsarbeit eingezogene Personen), „Sondersiedler“ (zwangsumgesiedelte Personen), sowjetische Insassen von „Überprüfungs- und Filtrationslagern“, Kriegsgefangene und Internierte. Quelle: Andrei Suslow
Konstantin Päts, Präsident der Republik Estland, vor und nach der sowjetischen Gefangenschaft. Foto aus offenen Quellen.
Bald darauf begannen auch Massendeportationen. So erinnerte sich Juhan Vaabel an die Zwangsdeportation seiner Familie aus Mulgimaa (einer Region im Süden Estlands) nach Sibirien:
„Wir wurden in das Dorf Kosotjapka, Gebiet Tomsk, Russische Sowjetrepublik, deportiert. Unmittelbar nach der Ankunft wurde mein Vater von uns getrennt und in den Gulag (ein Straf- und Zwangsarbeitslager – Anm. d. Red.)* am Ufer des Flusses Soswa gebracht, wo er im Alter von 38 Jahren starb. […] Über das Leben in diesem Lager erfuhr ich später von Mats Laarman, der diese Informationen an die Akademie der Wissenschaften weitergab. […] Im Lager war alles so organisiert, dass man dort nur sechs Monate überleben konnte. Diejenigen, die länger am Leben blieben, wurden zu Arbeiten in den weit entfernten Wald geschickt. Sie mussten zu Fuß den längsten Weg gehen. Wenn klar war, dass eine Person bald sterben würde, musste sie über ein Moor laufen: Betrug der direkte Weg fünf Kilometer, so waren es über das Moor acht Kilometer. Man hoffte, dass die Person unterwegs im Moor sterben würde.“
* Gulag
Als „Gulag“ wird das System der sowjetischen Straf- und Zwangsarbeitslager in der Zeit von 1929 bis 1956 bezeichnet. Die „Hauptverwaltung der Straf- und Arbeitslager“ (russisch „Glawnoje uprawljenije isprawitjelno-trudowych lagerej“, kurz „Gulag“) wurde 1929 als Behörde gegründet. Zwischen 1929 und 1953 wurden etwa 18 Millionen Sowjetbürger in Lager und Kolonien eingewiesen.Die Toten wurden neben dem Moor wie Baumstämme aufeinandergestapelt. Im Frühling, während des Hochwassers, versanken die Leichen im Schlamm. Zusammen mit seiner Mutter erhielt Juhan die Genehmigung, sich im Dorf Nowososnowka im Kreis Tschainski, Gebiet Tomsk, Russische Sowjetrepublik, niederzulassen. Zu dieser Zeit lebten dort bereits viele deportierte Esten.
Bemerkenswert ist ein Telegramm aus Moskau nach Riga vom 13. Juni 1941, das nach dem Rückzug der Roten Armee aus Lettland während des Deutsch-Sowjetischen Krieges gefunden wurde. In diesem Telegramm wurde die geplante Zahl der Personen, die aus Estland deportiert werden sollten, mit 11.102 angegeben.
Die Deportationen vom Juni 1941 fanden auch in Lettland statt – etwa 15.400 Letten wurden von den sowjetischen Behörden nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Die Deportierten wurden der „konterrevolutionären und antisowjetischen Agitation“ beschuldigt, was in den meisten Fällen eine Verleumdung war. Ebenfalls deportiert wurden die wohlhabendsten Einwohner Lettlands.

Deportation der Letten am 14. Juni 1941.
In den Dokumenten aus dieser Zeit finden sich auch Pläne des NKWD für Deportationen aus der Litauischen Sowjetrepublik. So sollten laut einer Bescheinigung vom 11. Juni 1941 über die Vorbereitung einer Zwangsumsiedlung 22.252 Personen aus Litauen deportiert werden. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni wurden jedoch weitaus mehr Litauer deportiert: insgesamt 34.000 Menschen.
Die tragische Geschichte des Roten Terrors vereint die baltischen Staaten in der gemeinsamen Trauer um alle Opfer dieser Politik. Jedes Jahr am 14. Juni findet in Estland, Lettland und Litauen jeweils ein Gedenktag statt: In Estland der „Gedenktag an die Deportationen vom 14. Juni“ (estnisch: „14. Juuni küüditamise mälestuspäev“), in Litauen der „Tag der Trauer und Hoffnung“ (litauisch: „Gedulo ir vilties diena“) und in Lettland der „Gedenktag an die Opfer des kommunistischen Genozids“ (lettisch: „Komunistiskā genocīda upuru piemiņas diena“).

Gedenkstein an die Deportationen des Jahres 1941 vor einem Deportationswaggon auf dem Bahnhof Torņakalns, Riga, Lettland. Foto: Edgars Ražinskis.
Die sowjetische Staatsmacht setzte die Deportationen aus den baltischen Staaten nur wegen der aktiven Feindseligkeiten des Zweiten Weltkriegs aus (am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion und besetzte Litauen, Lettland und Estland binnen weniger Wochen vollständig – Anm. d. Red.). 1944, als die Sowjetunion diese Gebiete zurückeroberte, nahm sie die brutale Praxis der Zwangsumsiedlungen wieder auf.
Die zweite Massendeportation wurde im März 1949 unter dem Codenamen „Priboj“ (russisch – „Brandung“) durchgeführt. Ein Teil der Zivilbevölkerung Estlands, Lettlands und Litauens wurde nach Sibirien und in entlegene Gebiete im Norden der Sowjetunion deportiert, insgesamt 94.779 Personen. Die Sterblichkeitsrate der Deportierten wird auf etwa 15 % geschätzt.

Schema-Karte der Verteilung der Kräfte und Mittel bei der Massendeportationsaktion „Priboj“. Quelle: Lietuvos Ypatingasis Archyvas.
Die Sowjets begannen die Operation „Priboj“, auch „Große Märzoperation“ genannt, in der Nacht zum 25. März. Sie begann um 4 Uhr morgens in den Hauptstädten der baltischen Staaten und breitete sich ab 6 Uhr morgens auf die Regionen aus. Sie sollte drei Tage dauern.
Laut dem Plan sollte die Deportation folgendermaßen ablaufen: Operativgruppen wurden mit Autos an Orte gebracht, von wo sie sich unbemerkt einem Wohnhaus, in dem die zu deportierenden Personen lebten, näherten und es umstellten. Der Gruppenleiter betrat dann in Begleitung von Soldaten das Haus, stellte fest, wer sich darin befand, durchsuchte die Räumlichkeiten und informierte das Familienoberhaupt über die Entscheidung zur Deportation. Nachdem die zu deportierenden Personen ihre Sachen gepackt hatten, wurden sie zu den Sammelstellen, den Bahnhöfen, gebracht. Anschließend ließ man sie in Militärzüge steigen, die sie für immer in die Verbannungsorte brachten. Die an der Operation beteiligten Parteimitglieder sowie Aktivisten, die sich bei Ersteren einschmeicheln wollten, blieben in den Häusern der Deportierten. Sie inventarisierten das verbliebene Eigentum und übergaben es den örtlichen Behörden, die es beschlagnahmten.
Aus Estland wurden insgesamt innerhalb von vier Tagen (25.–29. März 1949) 7.488 Familien bzw. 20.535 Personen in 19 Zügen nach Sibirien verschleppt. Darunter waren 4.579 Männer, 9.890 Frauen und 6.066 Kinder. Die sowjetischen Behörden erfüllten den Plan jedoch nicht vollständig, da 1.791 Personen entkommen konnten. Die Strafbehörden vergaßen sie jedoch nicht. Nach der Operation „Priboj“ begann eine mehrmonatige Jagd auf die Geflüchteten.

Deportierte Esten (März 1949). Foto aus offenen Quellen.
Nach Angaben von Professor Heinrich Strods von der Universität Lettland setzten die sowjetischen Behörden für die Durchführung der Operation „Priboj“ auf dem Gebiet der Lettischen Sowjetrepublik 3.300 operative Mitarbeiter, 8.313 Militärangehörige der Inneren Truppen der Sowjetunion und 9.800 Soldaten der Roten Armee ein. Für den Transport der Menschen nutzten die Sowjets 31 aus Güterwaggons bestehende Eisenbahnzüge.
Aus Lettland wurden insgesamt 13.624 Familien bzw. 42.975 Personen deportiert – überwiegend Landbewohner, die von den sowjetischen Behörden als „Kulaken“* oder Komplizen der sogenannten „Waldbrüder“ (Mitglieder der Partisanenbewegung gegen das Sowjetregime) eingestuft worden waren. Von den im Jahr 1949 Deportierten starben 183 unterwegs und 4.941 in der Verbannung, was 12 % aller Deportierten ausmachte. Weitere 1.376 Personen durften nach Ablauf ihrer Verbannung nicht mehr nach Lettland zurückkehren.
* Kulak
In der Sowjetunion eine abfällige Bezeichnung für einen wohlhabenden Bauern oder Gegner der Kollektivierung. Die Folgen der „Kulakenvertreibung“ beschrieb der ukrainische Schriftststeller Iwan Bahrjanyj in seinem Roman „Das Gesetz der Taiga“ am Beispiel der Familie Sirko, die ihren erworbenen Besitz verlassen musste, um nicht Opfer der „Dekulakisierung“ zu werden.
Ein Deportationszug auf dem Bahnhof in der Stadt Stende im Westen Lettlands, 25. März 1949. Foto: Jānis Indriks, aus dem Archiv des Lettischen Okkupationsmuseums.
In Litauen nahmen die lokalen sowjetischen Behörden und ihre Handlanger besonders eifrig an der Operation „Priboj“ teil. Die Handlanger zeigten die Häuser der als „Kulaken“ bezeichneten Bauern und von Familien, die mit der sowjetischen Politik nicht einverstanden waren. An der Durchführung der Operation in der Litauischen Sowjetrepublik waren mehr als 10.000 operative Mitarbeiter und Tausende von Militärangehörigen beteiligt. Aus Litauen wurden im Jahr 1949 insgesamt 33.496 Personen deportiert.
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Die sowjetischen Behörden bestätigten in ihren offiziellen Unterlagen direkt die Tatsache, dass die Deportationen gezielt durchgeführt wurden. So verfasste der Vorsitzende der Geheimpolizei NKGB*, Wsewolod Merkulow, einen Bericht zu den Ergebnissen der Zwangsumsiedlungen aus den baltischen Staaten im Sommer 1941, in der er von der Verhaftung und Vertreibung von „antisowjetischen Kriminellen und sozial gefährlichen Elementen“ schrieb. Im nächsten Dokument mit dem Titel „Bescheinigung über die Verluste der NKWD- und NKGB-Organe während der Durchführung der Deportation aus den baltischen Republiken“ vom 17. Juni 1941 findet man das Wort „Deportation“, das überzeugend darauf hinweist, dass sich die sowjetischen Repressionsbehörden des Verbrechens, das sie begingen, vollkommen bewusst waren.
Fast 50 Jahren lang verschwiegen die sowjetischen Behörden diese Gräueltaten und stellten die Ereignisse als „Kampf gegen antisowjetische Elemente“ dar. Die Sowjetunion erkannte die Rechtswidrigkeit der Deportationen erst kurz vor ihrem Zerfall an: im Gesetz „Über die Rehabilitierung der unterdrückten Völker“, das am 26. April 1991 vom Obersten Sowjet der Russischen Sowjetrepublik verabschiedet wurde. Im Jahr 2020 kehrte der russische Präsident Putin jedoch zur aggressiven Rhetorik zurück. In seinem Artikel zum 75. Jahrestag des Sieges über NS-Deutschland bezeichnete er die sowjetische Besetzung der baltischen Staaten als „legale Annexion“.
Es ist jedoch wichtig, auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts einzugehen, denn der sowjetische Repressionsapparat beschränkte sich nicht nur auf die Deportation von Menschen aus den baltischen Staaten.
* NKGB
Die sowjetische Geheimpolizei wurde von Februar bis Juli 1941 und erneut 1943 aus dem „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“ (NKWD) ausgegliedert und zu einem eigenständigen Volkskommissariat (Ministerium) gemacht, dem „Volkskommissariat für Staatssicherheit“ (russisch: Narodnyj komissariat gossudarstwennoj besopasnosti, NKGB). Dieses wurde 1946 in „Ministerium für Staatssicherheit“ (russisch: Ministerstwo gossudarstwennoj besopasnosti, MGB) umbenannt. 1954 ging aus dieser Struktur der Geheimdienst „Komitee für Staatssicherheit“ (russisch „Komitet gosudarstwennoj besopasnosti“, KGB) hervor.Die Deportation der Koreaner
Ein weiteres Volk, das der Deportationspolitik der Sowjetunion zum Opfer fiel, waren ethnische Koreaner. Anfang des 20. Jahrhunderts flohen viele koreanische Bauern vor der japanischen Besatzung (Korea wurde 1910 vom Japanischen Kaiserreich annektiert – Anm. d. Red.). Sie emigrierten in die fernöstlichen Gebiete der Sowjetunion, insbesondere in die Region Fernost der Russischen Sowjetrepublik, die im Süden an Korea grenzte.
Anm. d. Red.: Die Beziehungen zwischen Japan und der Sowjetunion verschlechterten sich im Jahr 1936 nach der Unterzeichnung des Antikominternpakts zwischen Deutschland und Japan.
Als Japan am 7. Juli 1937 den Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg begann, war Korea Teil des Japanischen Kaiserreiches. Die sowjetischen Behörden verdächtigten die eingewanderten Koreaner der „Feindbegünstigung und Spionage“ und beschuldigten sie der Zusammenarbeit mit dem japanischen Geheimdienst. Auch die äußere Ähnlichkeit mit den Japanern gereichte den Koreanern zum Nachteil.
Außerdem waren ehemalige Bürger des japanischen Marionettenstaates Mandschukuo* sowie ehemalige Angestellte der durch die Mandschurei verlaufenden Ostchinesischen Eisenbahn Repressionen ausgesetzt. Alle, die nach Meinung der sowjetischen Geheimdienste irgendwie mit Japan verbunden werden konnten, wurden verhaftet und deportiert.
* Besetzung der Mandschurei
Ab September 1931 besetzte Japan das Gebiet Mandschurei im Nordosten Chinas und errichtete dort 1932 den japanischen Marionettenstaat „Mandschukuo“. Die Besatzung endete am 9. September 1945 mit der Kapitulation der japanischen Truppen in China.Vor Beginn der Deportation verabschiedete das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei den Beschluss Nr. P51/734 vom 21. August 1937, in dem folgende Schritte zur Beendigung „der japanischen Spionage“ aufgelistet wurden:
1. „Dem Parteikomitee und der NKWD-Verwaltung der Region Fernost ist vorzuschlagen, die gesamte koreanische Bevölkerung der Grenzgebiete der Region Fernost in das Gebiet Südkasachstan und in die Usbekische Sowjetrepublik umzusiedeln;
2. Die Umsiedlung soll sofort beginnen und bis zum 1. Januar 1938 vollendet sein;
3. Den umzusiedelnden Koreanern ist zu erlauben, ihr Eigentum, ihren Hausrat und ihre Haustiere während der Umsiedlung mitzunehmen;
4.Die umzusiedelnden Personen sind für den Wert ihres dagelassenen beweglichen und unbeweglichen Vermögens und ihrer Ernten zu entschädigen;
5. Die umzusiedelnden Koreaner sollen nicht daran gehindert werden, auf ihren Wunsch ins Ausland zu gehen, und ihnen soll ein vereinfachtes Verfahren für den Grenzübertritt ermöglicht werden;
6. Das NKWD soll mögliche Ausschreitungen und Unruhen der Koreaner im Zusammenhang mit der Umsiedlung verhindern.“

Koreanische Kinder vor einem Lenin-Denkmal, Usbekistan, 1930er Jahre. Foto: Max Penson.
Professor German Kim, ein bekannter Forscher über die Deportationen von Koreanern während der Sowjetzeit, beschreibt den Deportationsprozess so: Die ethnischen Koreaner erhielten eine Mindestfrist, um ihre Sachen zu packen. Danach wurden sie gezwungen, in spezielle Züge einzusteigen. Auf den Waggons waren die Anfangsbuchstaben der Namen der zu deportierenden Personen, der Abfahrtsort und die Abfahrtszeit vermerkt. In einem Waggon wurden 5 bis 6 Familien (25 bis 30 Personen) transportiert. Die „Personenwagen“ waren in Wirklichkeit Güterwaggons, die notdürftig mit zweistöckigen Etagenbetten und einem Kanonenofen* ausgestattet waren. Bei der Registrierung vor der Deportation wurden die Ausweise sowie Jagd- und Schusswaffen beschlagnahmt. Es dauerte 30 bis 40 Tage, bis diese Züge aus der fernöstlichen Region Primorje ihre Zielbahnhöfe in Kasachstan oder Usbekistan erreichten.
* Kanonenofen
Ein kleiner tragbarer Metallofen zum Heizen von Räumen sowie zum Kochen.
Auszug aus dem Beschluss des Rates der Volkskommissare und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Nr. 1428-326.
Laut dem gemeinsamen Beschluss des Rates der Volkskommissare und des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Nr. 1428-326 vom 21. August 1937, unterzeichnet von Josef Stalin und Wjatscheslaw Molotow, dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare 1930–1941, wurden 172.000 ethnische Koreaner aus den Grenzgebieten der Region Fernost in die Wüsten und unbewohnten Gebiete Kasachstans und Zentralasiens vertrieben.

Eine koreanische Familie in einem Reisfeld, 1956.
Die Deportation der Ukrainedeutschen
Ethnische Deutsche ließen sich bereits zur Zeit der Kyjiwer Rus und des Fürstentums Galizien-Wolhynien (10. bis 12. Jahrhundert) auf dem Gebiet der Ukraine nieder. Sie kamen als Wander-Kaufleute und als Botschaftspersonal. Die erste Migrationswelle war jedoch nicht so groß wie die zweite, die im späten 18. Jahrhundert begann, als das Gebiet der heutigen Ukraine zwischen dem Russischen Reich und Österreich-Ungarn aufgeteilt wurde.
Nach der Volkszählung von 1939 gab es in der Ukrainischen Sowjetrepublik 392.458 Personen deutscher Nationalität, darunter etwa 91.500 im Gebiet Odesa, 89.400 im Gebiet Mykolajiw, 89.400 im Gebiet Saporischschja und 51.300 auf der Krim.

Ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung der Ukraine (1930er Jahre). Gebiete mit deutscher Bevölkerung sind mit schwarzer Flächensignatur dargestellt. Quelle: Projekt „Where are our people?“
Schon vor Beginn der Deportationen führte die sowjetische Regierung eine aktive antideutsche Kampagne durch, die die ideologische Grundlage für die zukünftige Zwangsvertreibung der deutschen Ethnie bildete. Der Beginn dieser Kampagne geht auf die 1920er Jahre zurück, als mit der Aufnahme deutsch-sowjetischer Handels- und Wirtschaftsbeziehungen deutsche Ingenieure und Fachleute in die Sowjetunion kamen, um in Industrieanlagen zu arbeiten und an der zukünftigen Industrialisierung mitzuwirken. Außerdem lebten bereits mehrere Hunderttausend Deutsche in deutschen Kolonien in der Ukrainischen Sowjetrepublik. Laut Andrij Sawin, einem Forscher zur Geschichte der nationalen und religiösen Gemeinschaften in der Sowjetunion, betrachtete die sowjetische Regierung diese Menschen als eine Gruppe, die nachrichtendienstliche und antisowjetische Aktivitäten zugunsten Deutschlands durchführen könnte. In seiner Monographie „Ethnizität im Sowjetstaat. Mennoniten in Sibirien in den 1920er und 1930er Jahren: Emigration und Repressionen. Dokumente und Materialien“ zitiert er das Rundschreiben Nr. 7/37 der sowjetischen Geheimpolizei OGPU* vom 9. Juli 1924 „Über den deutschen Geheimdienst und den Kampf gegen ihn“:
* OGPU
Die „Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung“ (russisch: Objedinjonnoje gossudarstwennoje polititscheskoje uprawlenije, OGPU) war von 1923 bis 1934 die sowjetische Geheimpolizei. Sie war zuständig für die Bekämpfung von „Konterrevolution“ und „Spionage“. 1934 wurde sie in das „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“ (NKWD) eingegliedert.„Nach dem Abschluss des Vertrags von Rapallo wurde der deutschen Industrie und dem Handel die Möglichkeit gegeben, ihre Aktivitäten in unserer Republik auszuweiten. Seither gibt es einen großen Zustrom von deutschen Händlern, Konzessionären, Industriellen und Unternehmern aller Art, die Handels- und Industrieunternehmen, Verkehrsverbände, Reisebüros und Konzessionen gründen“.
* Nationalkreis
Im Zuge der sowjetischen Politik der „Verwurzelung“ (russisch: korenisazija), mit der in den 1920er Jahren nichtrussische Völker und nationale Minderheiten gezielt gefördert werden sollten, wurden ab 1924 in Gebieten mit nationalen Minderheiten spezielle Verwaltungseinheiten gebildet – sogenannte Nationalkreise (Nationalrajone), darunter auch zahlreiche Deutsche Kreise.Die Eskalation der antideutschen Stimmungen gewann in den 1920er Jahren an Dynamik, und bereits in den 1930er Jahren wurden weitaus radikalere Anschuldigungen gegen ethnische Deutsche erhoben. Diesbezüglich existieren Dokumente, darunter das „Protokoll der Sitzung des Sekretariats des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine im Deutschen Kreis* Pulin“, in dem die sowjetischen kommunistischen Behörden ethnische Deutsche direkt als „Faschisten“ und „faschistische nationalistische Elemente“ bezeichneten und sie des Zerfalls der Kolchose (einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in der Sowjetunion – Anm. d. Red.) beschuldigten.

Die Massenrepressionen von 1937 bis 1938 sind ein tragisches Kapitel in der Geschichte der deutschen Ethnie in der Ukraine. Im „Ethnischen Handbuch“, einer wissenschaftlichen Publikation über die ethnischen Gemeinschaften in der Ukraine, betont der Forscher Bohdan Tschyrko, dass im Jahr 1937 Massenstrafaktionen gegen die deutsche Bevölkerung der Region Prytschornomorja (bekannt als Schwarzmeerdeutsche – Anm. d. Red.) durchgeführt wurden, vor allem in der Umgebung von Odesa. Dort lebten etwa 120.000 ethnische Deutsche, davon 50.000 in den drei Deutschen Kreisen Spartak (Groß-Liebenthal), Selz und Karl-Liebknecht. Aufgrund eines Beschlusses des Gebietskomitees Odesa der Kommunistischen Partei der Ukraine wurden von dort 5.000 Familien „antisowjetischer faschistischer Aktivisten“ deportiert. Die Deutschen wurden überwiegend nach Kasachstan, Sibirien und andere entlegene Orte der Sowjetunion umgesiedelt.
Eine der Regionen mit dem größten Anteil der deutschen Bevölkerung in der Ukraine war Bessarabien*.
* Bessarabien
Historische Region in der heutigen Republik Moldau und der Ukraine, zwischen den Flüssen Pruth im Westen und Dnister (rumänisch: Nistru) im Osten. Bis 1812 gehörte Bessarabien zum Fürstentum Moldau, von 1812 bis 1918 zum Russischen Reich und von 1918 bis 1940 zu Rumänien. Als Folge des Hitler-Stalin-Pakts wurde Bessarabien 1940 von der Sowjetunion annektiert und zwischen der neu gegründeten Moldauischen und der Ukrainischen Sowjetrepublik aufgeteilt. 1941 wurde Bessarabien vom mit Deutschland verbündeten Rumänien zurückerobert, 1944 von der Sowjetunion.
Deutsche Siedlungen in Bessarabien. Quelle: frumushika.com.
Anm. d. Red.: Ab 1814 wanderten deutsche Siedler in die Region Bessarabien, damals Russisches Reich, aus. Die seit 1918 zu Rumänien gehörende Region wurde am 28. Juni 1940 infolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion besetzt und annektiert. Daraufhin wurde am 5. September 1940 eine Umsiedlungsvereinbarung zwischen Deutschland und der Sowjetunion unterzeichnet. Über 90.000 Bessarabiendeutsche wurden unter dem Motto „Heim ins Reich“ in Umsiedlungslager der „Volksdeutschen Mittelstelle“ im Deutschen Reich gebracht und eingebürgert. Anschließend wurden den meisten von ihnen ab 1941/1942 Bauernhöfe im besetzten Polen zugewiesen, deren polnische Besitzer zuvor vertrieben worden waren. Die in Polen angesiedelten Bessarabiendeutschen flohen 1944 vor der Roten Armee nach Westen.
Es gibt Berichte über die Umsiedlung der ethnischen Deutschen aus der Kleinstadt Sarata in Bessarabien. Am 15. September 1940 erschien vor Ort eine gemeinsame sowjetisch-deutsche Umsiedlungskommission. Für die Bewohner des Ortes wurde ein offizieller Aufruf auf Deutsch und Russisch veröffentlicht, in dem stand, dass alle Deutschen ab 14 Jahren zur Umsiedlung ins Deutsche Reich aufgerufen sind (für die Ausreise von Kindern bis zu 14 Jahren sollte die Meldung des Familienoberhauptes genügen – Anm. d. Red.).
Die Umsiedlung erfolgte in vier Schritten. Am 24. September 1940 wurden die älteren und behinderten Menschen aus der Barmherzigkeitsanstalt „Alexander-Asyl“ sowie ein Teil der Bevölkerung aus der Stadt Arzis (ukrainisch: Arzys) und den Dörfern Beresina (ukrainisch: Beresyne) und Leipzig (heutiger ukrainischer Name: Serpnewe) deportiert. Diese Menschen wurden über die rumänische Stadt Galatz (rumänisch Galați) in Umsiedlungslager im Deutschen Reich und später ins deutsch besetzte Polen gebracht (auf Bauernhöfe, deren polnische Besitzer zuvor vertrieben worden waren – Anm. d. Red.). Weitere Umsiedlerkolonnen wurden am 27. September gebildet und in die Stadt Kilija (einem Donauhafen an der Grenze Bessarabiens mit Rumänien – Anm. d. Red.) gebracht, von wo man sie mit Dampfschiffen in Umsiedlungslager im Deutschen Reich transportierte. Die letzte Umsiedlerkolonne verließ Sarata am 9. Oktober 1940.

Sarata, Werner-Schule. Der letzte Jahrgang des Schuljahres 1939/1940. Foto: Dietrich Fiess, „Sarata 1822–1940“.
Die Lage der Deutschstämmigen in der Sowjetunion wurde nach dem Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 noch schwieriger. Zusätzlich zu den früheren Anschuldigungen wurden die in der Ukrainischen Sowjetrepublik lebenden Deutschen verbrecherischer Absichten beschuldigt. Daraufhin begannen auch Massendeportationen.
Laut Professor Alfred Eisfeld, einem bekannten Forscher zu den Deportationen ethnischer Deutscher, war der 12. August 1941 schicksalhaft für die in der Sowjetunion lebenden Deutschen. An diesem Tag verabschiedeten der Rat der Volkskommissare und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei den gemeinsamen Beschluss Nr. 2060-935ss „Über die Ansiedlung der Wolgadeutschen in Kasachstan“. Zwei Tage später wurde in der Direktive Nr. 00931 des Hauptquartiers des Obersten Befehlshabers „Über die Aufstellung und Aufgaben der 51. Armee“ auf der Krim der Plan gefasst, „…die Halbinsel unverzüglich von Einheimischen – Deutschen und anderen antisowjetischen Elementen – zu säubern“. Diese Direktive, die an den Oberbefehlshaber der Südwestfront und die Kommandeure der dazugehörigen Einheiten gerichtet war, legte den Grundstein für die Massendeportation der Deutschen aus den südlichen Teilen der Ukraine. Etwa 60.000 Krimdeutsche wurden in den Nordkaukasus deportiert. Einen Tag nach Erscheinen dieser Direktive begann die Zwangsumsiedlung der in Saporischschja lebenden Mennoniten*.
* Mennoniten
Eine protestantische Religionsgemeinschaft, die auf die Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts zurückgeht und nach dem Niederländer Menno Simons (1496–1561) benannt ist. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wanderten Mennoniten in das Russische Reich aus. Die zaristische Regierung garantierte ihnen Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst und Land. Ihre Sprache ist Plautdietsch, eine Varietät des Niederdeutschen.
Beschluss Nr. 2060-935cc „Über die Ansiedlung der Wolgadeutschen in Kasachstan“.
Auf Vorschlag des NKWD verabschiedete das Politbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei am 31. August 1941 den Beschluss „Über die in der Ukrainischen Sowjetrepublik lebenden Deutschen“. Diesem Dokument zufolge sollte eine totale Deportation der Deutschen aus dem Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik, der noch nicht unter deutscher Besatzung stand, durchgeführt werden. Der Beschluss sah vor, dass Deutsche, die als „antisowjetische Elemente“ galten, zu verhaften waren. Der Rest der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung im Alter von 16 bis 60 Jahren sollte in Baubataillone mobilisiert und dem NKWD für den Einsatz in den östlichen Gebieten der Sowjetunion übergeben werden. Einem Befehl der Abteilung für „Sonderumsiedlung“ des NKWD vom 2. Oktober 1941 zufolge sollten 53.566 Personen aus dem Gebiet Saporischschja, 36.205 aus dem Gebiet Stalino (heute Donezk) und 12.807 aus dem Gebiet Woroschylowhrad (heute Luhansk) in die Kasachische Sowjetrepublik deportiert werden.

Bescheinigung „Über die Umsiedlung von Deutschen aus einigen Gebieten der Ukrainischen Sowjetrepublik und ihre Ansiedlung in Gebieten der Kasachischen Sowjetrepublik sowie Regionen und Gebieten der Russischen Sowjetrepublik“ vom 2. Oktober 1941.
Die Behörden beabsichtigten zudem, 6.000 Menschen aus dem Gebiet Odesa und 3.200 Menschen aus dem Gebiet Dnipropetrowsk in die Region Altai im Südwesten Sibirien umzusiedeln.
Die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs führten zu einer Unterbrechung der Deportationen von Deutschstämmigen. Eine neue Welle von Umsiedlungen aus den von der sowjetischen Armee „befreiten“ Gebieten der Ukraine begann 1944. Mit der sowjetischen Rückeroberung der Ukraine kehrte auch das NKWD zurück und nahm die Verhaftungen ethnischer Deutscher wieder auf, die unter der deutschen Besatzung den Status „Volksdeutsche“ erhalten hatten.

Ausweis eines Mitglieds der „Deutschen Volksliste der Ukraine“ (sogenannte „Volksdeutsche“), ausgestellt im Jahr 1943.
Am 28. Dezember 1943 meldete der NKWD-Vorsitzende Lawrenti Berija an Josef Stalin, man habe in Kyjiw bereits 184 Personen identifiziert, die den Status „Volksdeutsche“ erhalten hatten. Daraufhin ordnete Stalin an, sie alle zu verhaften, in speziellen Konzentrationslagern unterzubringen und für Arbeiten einzusetzen. Am 7. Januar 1944 unterschrieb Berija den NKWD-Befehl Nr. 20/b über die Verhaftung von „Volksdeutschen“ in der Ukraine. Nach den Beschlüssen einer Sondersitzung des NKWD wurden „Volksdeutsche“ für fünf Jahre und länger in Haft- und Verbannungsorte geschickt. Ihre Familienangehörigen wurden in „Sondersiedlungen“ (Verbannungsorte unter strenger Aufsicht – Anm. d. Red.)* gebracht.
* „Sondersiedlungen“
„Sondersiedlungen“ (russisch: spezposselenija) waren zugewiesene Verbannungsorte in der Sowjetunion. Die Bewohner standen unter strenger Aufsicht von „Sonderkommandanturen“ des NKWD und durften die Verbannungsorte nicht unerlaubt verlassen.Hunderttausende in der Ukraine lebende Deutschstämmige litten unter der Deportationspolitik der Sowjetunion. Sie wurden nach Zentralasien und Sibirien deportiert. Männer und Frauen wurden zur „Arbeitsarmee“ (Arbeitslager mit militärischem Regime – Anm. d. Red.)* mobilisiert und in NKWD-„Sondersiedlungen“ verbannt. Jeder Dritte starb an Hunger und der harten Arbeit. Die „Sondersiedlungen“ wurden 1955 abgeschafft, aber das administrative Verbot über die Rückkehr in die Ukraine wurde erst 30 Jahre später, am 9. Januar 1974, aufgehoben.
* „Arbeitsarmee“
Die „Arbeitsarmee“ (russisch: Trudowaja armija/Trudarmija) war von 1942 bis 1946 ein Zwangsarbeitssystem in der Sowjetunion, bestehend aus streng bewachten Arbeitslagern mit militärischem Regime. In die „Arbeitsarmee“ wurden neben Männern im Alter zwischen 15 und 55 Jahren auch Frauen zwischen 16 und 45 Jahren (ausgeschlossen Schwangere und Frauen mit Kindern unter 3 Jahren) eingezogen. Die größte Gruppe unter ihnen waren ethnische Deutsche, von denen viele nach ihrer Deportation in die „Arbeitsarmee“ eingezogen wurden. Quelle: Gerd Stricker.Die Deportation der Tschetschenen, Inguschen und Balkaren*
Die paranoiden Verdächtigungen zur Kollaboration und die ständige Suche nach „Staatsfeinden“ und „Nazi-Kollaborateuren“ führten dazu, dass das NKWD im Februar 1944 innerhalb von acht Tagen etwa 400.000 Tschetschenen aus der Sowjetunion zwangsumsiedelte. Der straffe Zeitplan gründete darauf, dass in den ersten drei Tagen die Umsiedlung im Gebirgsvorland und teils in Bergdörfern mit einer Bevölkerung von über 300.000 Personen durchgeführt werden sollte. Danach waren die Hochgebirgssiedlungen an der Reihe, wo über 150.000 Personen lebten.
Die Tschetschenen wurden der massenhaften Kollaboration mit den deutschen Besatzern beschuldigt, obwohl die Letzteren nur ein Gebiet im äußersten Nordwesten der Tschetschenisch-Inguschischen Autonomen Sowjetrepublik besetzt hatten. Diese Tatsache wird auch in den Werken des bekannten tschetschenischen Politikwissenschaftlers Abdurachman Awtorchanow bestätigt, der betonte, dass das Gebiet Tschetscheno-Inguschetiens während der Kriegshandlungen im Kaukasus 1942–1944 nicht besetzt war. Seiner Ansicht nach waren die Hauptgründe für die Verfolgung und Vernichtung der Bergbewohner wie folgt:
– Tschetschenen und andere kaukasische Bergbewohner kämpften ständig für ihre Unabhängigkeit und erkannten das despotische System des sowjetischen Kolonialregimes nicht an;
– Moskau wünschte sich, den Kaukasus zum Hinterland der sowjetischen Metropole zu machen und den Einfluss des Westens auf die Kaukasusländer zu verhindern;
– der Kaukasus sollte zu einem sicheren Aufmarschgebiet gegen die zukünftige Expansion der Türkei, des Irans, Pakistans und Indiens gemacht werden.
* Tschetschenen, Inguschen und Balkaren
Tschetschenen, Inguschen und Balkaren sind Bevölkerungsgruppen im Nordkaukasus. In ihrer Mehrheit gehören sie dem sunnitischen Islam an.
Operation „Tschetschewiza“ (russisch – „Linse“), bei der Tschetschenen und Inguschen deportiert wurden. Karte von Tachirgeran Umar.
Im Zusammenhang mit der Deportation der Tschetschenen und Inguschen steht die Mitteilung des NKWD Nr. 145/B an das Staatliche Verteidigungskomitee der Sowjetunion vom 26. Februar 1944, dass die Tschetschenisch-Inguschische Autonome Sowjetrepublik aufzulösen sei. Vier Kreise wurden der Dagestanischen Autonomen Sowjetrepublik zugeordnet, auf dem verbleibenden Territorium wurde das Gebiet Grosny gebildet. Die Einheimischen wurden nach Zentralasien und Kasachstan deportiert, weil sie angeblich „den NS-Besatzern geholfen haben“.
Die Aussiedlung begann in den meisten Kreisen am 23. Februar 1944 um 5 Uhr morgens. Es wurden 180 Züge mit 493.269 Zwangsumsiedlern abgefertigt. In Archivdokumenten wurde ein Bericht vom 18. März 1944 gefunden, in dem steht, dass 194 Züge für die Deportation der Tschetschenen, Inguschen und Balkaren (insgesamt für 521.247 Personen) vorbereitet wurden. Auf der Fahrt zu ihren Zielorten, die manchmal über 20 Tage dauerte, wurden 56 Kinder geboren. 1272 Menschen starben. 285 Kranke wurden in medizinische Einrichtungen gebracht. Die Deportation wurde von Josef Stalin persönlich kontrolliert. Der NKWD-Vorsitzende Lawrenti Berija sandte ihm geheime Telegramme. Am 1. März 1944 berichtete Berija darin vom erfolgreichen Abschluss der Zwangsumsiedlung von mehr als 400.000 Menschen.
Es gibt Zeugenberichte über diese tragischen Ereignisse. Salwa Musajewa, die aus dem Dorf Staryje Atagi in der Tschetschenisch-Inguschischen Autonomen Sowjetrepublik vertrieben wurde, erzählt folgendes:
„Alle Einwohner wurden eingesammelt und in Gruppen aus dem Dorf weggebracht. Drei Soldaten kamen zu uns und fragten, ob hier Erwachsene seien. Ich sagte, ich warte auf meine Mutter und meinen Bruder, sie arbeiten in der Stadt Grosny in einer Militärfabrik. Die Soldaten sagten, es sei nicht nötig, auf sie zu warten, sie würden nicht kommen, und begannen, mir beim Einpacken zu helfen. Sie empfahlen mir, Lebensmittel und warme Kleidung mitzunehmen. Es fanden sich nur Maismehl, der Mantel meiner Mutter und die alte Jacke meines Vaters. Ich bestand darauf, unsere Singer-Nähmaschine mitzunehmen. Diese half uns, in Kasachstan zu überleben. Wir kamen in einem Pferdefuhrwerk in Grosny an. Ich hoffte sehr, hier meine Familie zu sehen, meine Mutter und meinen Bruder. Sie packten 10 bis 15 Familien in einen Güterwaggon, und jede tschetschenische Familie hatte 6 bis 7 Kinder…“
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Das Europäische Parlament beschloss am 26. Februar 2004, dass die Deportation des gesamten tschetschenischen Volkes gemäß des IV. Haager Abkommens von 1907 (Haager Landkriegsordnung) und der UN-Völkermordkonvention von 1948 einen Akt des Völkermordes darstellt.
Die Deportation der Krimtataren
Auch die Hauptbevölkerung der Halbinsel Krim, die Krimtataren, wurde von der sowjetischen Regierung massenhaft deportiert. Die Kommunistische Partei gab dafür folgende Gründe vor:
– Desertation der Krimtataren aus der sowjetischen Armee,
– Kollaboration mit den NS-Besatzungsbehörden auf der Krim 1941–1944,
– Militärdienst in Einheiten, die während des Deutsch-Sowjetischen Krieges mit der deutschen Wehrmacht kollaborierten.
In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass viele Vertreter des krimtatarischen Volkes in der sowjetischen Armee gegen die Deutschen kämpften. Es gab auch Krimtataren, die staatliche Auszeichnungen der Sowjetunion erhielten. So wurde der Pilot Amet-Chan Sultan zweimal mit dem Titel „Held der Sowjetunion“ geehrt. Daher sind die Anschuldigungen der sowjetischen Regierung, dass die Krimtataren ausschließlich Deserteure und Kollaborateure waren, fehlerhaft und irreführend.
Laut Mustafa Dschemiljew, Anführer der nationalen Bewegung der Krimtataren und Beauftragter des ukrainischen Präsidenten für die Angelegenheiten des krimtatarischen Volkes, gibt es eine ewige Unversöhnlichkeit zwischen den Krimtataren und der sowjetischen (russischen) Regierung, und der Zweite Weltkrieg war für Letztere nur ein Vorwand für die endgültige Säuberung der Krim von ihrer indigenen Bevölkerung.
Bereits am 11. Mai 1944 wurde mit dem Beschluss Nr. 5859 des Staatlichen Verteidigungskomitees der Sowjetunion die Entscheidung zur Deportation der Krimtataren in die Usbekische Sowjetrepublik getroffen. Auf die Durchführung dieses Plans bereiteten sich die sowjetischen Behörden sehr sorgfältig vor, es wurde ein enormer personeller Aufwand betrieben: 5.000 operative Mitarbeiter des NKWD und der Geheimpolizei NKGB kamen auf die Krim, zudem waren 20.000 Soldaten und Offiziere der Inneren Truppen des NKWD an der Geheimoperation beteiligt. Anderen Quellen zufolge waren bis zu 32.000 NKWD-Mitarbeiter und andere Sicherheitskräfte an der Deportation beteiligt.
Die Zwangsumsiedlung der Krimtataren begann am 18. Mai 1944, in einigen Dörfern bereits am Abend des 17. Mai. Der Historiker Oleksandr Pahirja zitiert einen Bericht des Augenzeugen Diljawer Ennanow:
„Plötzlich, mitten in der Nacht, hörte ich einen lauten Knall an der Tür. Als ich aufwachte, sah ich einen Offizier, der meiner schläfrigen Mutter mit wütender Stimme etwas vorlas. Zwei Soldaten standen neben ihm. Der Offizier war in Eile. Er sagte, dass wir 10 Minuten zum Packen haben. […] Wir wurden aus dem Haus auf den Hof gebracht. Da im Regen saßen unsere Nachbarn, ebenfalls Krimtataren, mit ihren Habseligkeiten, umgeben von Soldaten der Inneren Truppen. Zusammen mit ihnen verharrten wir so bis zum Morgengrauen. Sie [die Militärangehörigen] holten Autos und brachten uns zum Bahnhof. […] Ich erinnere mich, dass man uns in den Eisenbahnwagen Nr. 44 einsteigen ließ. Tränen, Stöhnen, Schreie – und der Zug fuhr ab. Als wir die Grenze der Krim überquerten, sangen alle im Zug ein Lied. Wir sangen und weinten, schauten zurück.“

Krimtataren besteigen Güterwaggons, die für die Deportation bestimmt sind. Quelle: Menschenrechtszentrum ZMINA.
Der NKWD-Vorsitzende Lawrenti Berija unterrichtete Josef Stalin und Wjatscheslaw Molotow am 18. Mai 1944 vom Beginn der Deportation der Krimtataren. Am selben Tag wurden 90.000 Menschen auf die Zwangsumsiedlung vorbereitet, und 48.000 von ihnen wurden mit Militärzügen in den Osten geschickt. Am nächsten Tag wurden 165.000 Menschen von der Halbinsel Krim als „Spezialkontingent“ zusammengezogen und 136.412 von ihnen wurden deportiert, so der Historiker Oleksandr Pahirja.
Der stellvertretende NKWD-Vorsitzende Iwan Sjerow und der stellvertretende NKGB-Vorsitzende Bogdan Kobulow zogen in einem Bericht vom 20. Mai 1944 an die oberste Partei- und Staatsführung Bilanz über die dreitägige Operation: Demnach wurde die Deportation der Krimtataren um 16 Uhr abgeschlossen, und es wurden 180.000 Menschen umgesiedelt. Von der Krim starteten insgesamt über 70 Züge mit jeweils 50 Waggons, die randvoll mit Zwangsumsiedlern waren.
Es gibt unterschiedliche Statistiken über die Anzahl der Deportierten, aber es waren mindestens 200.000 Personen. Laut Informationen von Ukrinform wurden 200.000 Krimtataren von der Krim deportiert. Davon wurden 183.000 in „Sondersiedlungen“ verbannt, 6.000 wurden als Soldaten in Lager der „Hauptverwaltung zur Aufstellung von Reserven“ der Roten Armee geschickt, 6.000 in den Gulag, und 5.000 als „Spezialkontingent“ in ein Moskauer Kohlewerk. Nach Angaben der nationalen Bewegung der Krimtataren könnte die Zahl der Deportierten jedoch doppelt so hoch sein und bei etwa 423.100 Personen liegen.
Die Sowjets verboten den Krimtataren die Rückkehr auf die Krim: Im Jahr 1948 erklärte die sowjetische Regierung sie zu „lebenslangen“ Umsiedlern. Trotzdem versuchten die Krimtataren zurückzukehren und organisierten in den 1950er bis 1960er Jahren Demonstrationen in Moskau. Das Rückkehrverbot blieb jedoch bis 1989 in Kraft.
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Seit der Besetzung der Krim im Jahr 2014 erfährt das krimtatarische Volk erneut Repressionen. Russische Sicherheitskräfte und Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes FSB führen ständig Durchsuchungen durch, bezeichnen die Krimtataren als muslimische Terroristen, verfolgen und bedrohen Aktivisten und machen mit ihnen kurzen Prozess. Krimtataren werden verhaftet, und manchmal verschwinden sie spurlos aufgrund ihrer öffentlichen Ablehnung des Besatzungsregimes.
Die russische Besatzungsmacht konstruiert gezielt Narrative, die ihren Interessen dienen. Dabei versucht sie, das kollektive Gedächtnis zu löschen, insbesondere über die drei Besetzungen der Krim (die erste fand im Jahr 1783 statt, als das Russische Reich das Krim-Chanat annektierte) sowie über die zwei Wellen der Deportationen. Die russische Besatzungsmacht verbot auch das traditionelle Gedenken zum Jahrestag der Deportation der Krimtataren.
Die massive Vertreibung des gesamten krimtatarischen Volkes und das anschließende Rückkehrverbot für die Überlebenden stellen zweifellos einen Völkermord an den Krimtataren dar, der von den sowjetischen Behörden initiiert und umgesetzt wurde.
Zeitgenössische Deportationen von Ukrainern
Die Geschichte sollte die Menschheit dazu anregen, Schlussfolgerungen zu ziehen. Zeitgenössische Forscher betrachteten Deportationen lange als ein archaisches Instrument totalitärer Regime, das sich nie wiederholen würde. Doch die Politik Russlands, insbesondere während der Regierungszeit Putins, belegt das Gegenteil.
Die Deportation der ukrainischen Zivilbevölkerung aus den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine und ihre Zwangsintegration in Russland ist eine geplante Politik des Aggressorstaates.

Ein „Evakuierungszug“ aus der Stadt Luhansk in die russische Stadt Gukowo.
Die ersten Fälle solcher Deportationen wurden bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 bekannt: In den besetzten Gebieten der Region Donetschtschyna – der sogenannten „Volksrepublik Donezk“ (DNR) und „Volksrepublik Luhansk“ (LNR)* – organisierte die russische Regierung sogenannte „Evakuierungszüge“, mit denen Ukrainer auf russisches Territorium gebracht wurden. Allein am 19. Februar 2022 wurden über 13.000 Menschen deportiert. Der Zug fuhr von der Stadt Luhansk in die Stadt Gukowo im russischen Gebiet Rostow. Nach russischen Angaben wurden bis zum 21. Februar 2022 über 60.000 Ukrainer aus den Schein-Republiken DNR und LNR im Osten der Ukraine nach Russland transportiert.
Für die Unterkunft der deportierten Personen aus der Ukraine wurden auf russischem Staatsgebiet „provisorische Unterkunftspunkte“ eingerichtet. Tatsächlich handelt es sich dabei um Lager, in denen Ukrainer festgehalten werden, da diese keine Möglichkeit haben, in ukrainisch kontrolliertes Gebiet zurückzukehren. Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist ebenfalls an diesem Prozess beteiligt. Sie stellt unter der Schirmherrschaft der „Abteilung für kirchliche Wohltätigkeit und sozialen Dienst“ solche „Unterkunftspunkte“ auf dem Gelände von Klöstern, Wohltätigkeitsorganisationen und kirchlichen Kinderheimen bereit. Dies wird als Hilfe für das „orthodoxe Brudervolk“ (die Ukrainer – Anm. d. Red.) verharmlost, angeblich, um es vor dem Krieg zu retten. Laut der Website der Russisch-Orthodoxen Kirche wurden in der „kirchlichen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe“ in Moskau im Zeitraum März bis Dezember 2022 über 29.000 Personen registriert.
* „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk
Im April 2014 riefen von Russland unterstützte „Separatisten“ im Osten der Ukraine die „Volksrepublik Donezk“ (russisch: Donezkaja Narodnaja Respublika, DNR) und die „Volksrepublik Luhansk“ (russisch: Luhanskaja Narodnaja Respublika, LNR) aus. Daraufhin eskalierte der Russisch-Ukrainische Krieg, der am 20. Februar 2014 mit der russischen Besetzung der Krim begonnen hatte. Am 29. September 2022 verkündete Russland die Annexion der ukrainischen Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk einschließlich der Territorien der beiden „Volksrepubliken“.
„Provisorische Unterkunftspunkte“ auf russischem Staatsgebiet, die von der Russisch-Orthodoxen Kirche eingerichtet wurden. Quelle: Slidstvo.info
In einer Veröffentlichung der „Abteilung für kirchliche Wohltätigkeit und sozialen Dienst“ der Russisch-Orthodoxen Kirche vom 28. Februar 2022 wird der Sport- und Erholungskomplex „Romaschka“ im Kreis Neklinowka im Gebiet Rostow erwähnt. Es wird darüber berichtet, wie der Metropolit Merkuri der Eparchie Rostow diese Einrichtung besuchte, in der 500 „evakuierte“ Kinder aus zwei Internatsschulen und einem sozial-rehabilitativen Zentrum aus der ukrainischen Region Donetschtschyna untergebracht sind.
Die genaue Anzahl der deportierten Ukrainer kann nicht ermittelt werden, laut verschiedenen Quellen sind es zwischen 2,5 und 4,5 Millionen Menschen. Nach einem Bericht der Koalition „Ukraine, 5 Uhr morgens“ vom Januar 2023 liegt die potenzielle Anzahl der Opfer russischer Deportationen zwischen 2,8 und 4,7 Millionen Menschen.
Auch ukrainische Kinder leiden unter den Verbrechen Russlands und werden Opfer von Deportationen. Laut dem oben genannten Bericht der Koalition „Ukraine, 5 Uhr morgens“ wurden zwischen 260.000 und 700.000 ukrainische Kinder von den Besatzern zwangsumgesiedelt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nannte im April 2023 die Zahl von „fast 20.000“ deportierten Kindern. Auch die Website „Kinder des Krieges“ schreibt von 19.546 deportierten Kindern, die offiziell bekannt sind. Laut öffentlich zugänglichen russischen Quellen nahm Russland etwa 744.000 ukrainische Kinder auf.

Aus dem ukrainischen Mariupol ins russische Wladiwostok deportierte Menschen, Foto aus russischen Medien. Quelle: Ukrajinska Prawda.
Die Hauptziele der russischen Besatzer bei der Begehung dieses Verbrechens, das uneingeschränkt als Völkermord anerkannt wird (ein entsprechender Beschluss wurde von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates verabschiedet), sind wie folgt:
– die Entführung ukrainischer Kinder, um diese „umzuerziehen“ und ihre ukrainische Identität auszulöschen;
– die illegale Adoption von Kindern und die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an sie, um die negative demografische Situation in Russland zu verbessern;
– die Erziehung der entführten Kinder im Sinne der russischen Propaganda und ihre Zwangsmilitarisierung in paramilitärischen Strukturen wie der „Junarmija“*, um die künftige Generation für neue bewaffnete Angriffe auf die Ukraine zu erziehen.
* Junarmija
Die „Jugendarmee“ (russisch: „Junarmija“) ist eine „militärisch-patriotische“ Jugendorganisation in Russland. Sie wurde 2016 von Wladimir Putin per Erlass gegründet. In ihr werden Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren einer sogenannten „militärischen Früherziehung“ unterzogen. Nach eigenen Angaben gehören der Junarmija über 1,2 Millionen Kinder und Jugendliche an (Stand Januar 2023).Es muss hervorgehoben werden, dass faktisch allen Kindern, die sich in den von Russland besetzten Gebieten aufhalten, eine Deportation droht. Bekannt sind Fälle, in denen die Besatzer Eltern ihre Kinder entziehen und diese unter Zwang deportieren. Ein Beispiel ist die Geschichte des kinderreichen Vaters Jewhen Meschewyj aus Mariupol. Nach der Besetzung der Stadt führten russische Militärs „Säuberungen“ der lokalen Bevölkerung durch. So landete Jewhen im berüchtigten Gefangenenlager Oleniwka in der Region Donetschtschyna. Seine Kinder – Sohn Matwij und die Töchter Swjatoslawa und Oleksandra – wurden zunächst in ein Waisenhaus in Donezk gebracht und dann in das Kinderkurheim „Poljany“ im Gebiet Moskau deportiert. Mit Hilfe von Freiwilligen gelang es Jewhen, in die russische Hauptstadt zu reisen und die Kinder zu retten; nur knapp konnte ihre rechtswidrige Adoption vermieden werden. Jetzt lebt die Familie in Lettland. Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen es gelungen ist, Kinder zu retten, und das, obwohl ihre Großmutter immer noch in russischer Gefangenschaft ist. Die meisten deportierten Kinder werden weiterhin von den Russen festgehalten – sogar diejenigen, deren Eltern noch am Leben sind. Es ist äußerst schwierig, den Aufenthaltsort der jungen Ukrainer zu erfahren, und noch schwieriger, sie in ihre Heimat zurückzubringen.

Jewhen Meschewyj mit seinen Kindern. Quelle: Ukrajinska Prawda.
Was soll man erst über Kinder sagen, wenn es selbst Erwachsenen schwer fällt, sich vor Zwangsumsiedlungen zu schützen – insbesondere wenn diese heimlich durchgeführt werden? „Wir hatten uns bereits damit abgefunden, dass wir in den Fernen Osten gebracht werden“, erinnert sich Anna (Nachname aus Sicherheitsgründen nicht angegeben) aus Mariupol. Sie musste sich mit ihrer Familie aus Mariupol retten, das vom russischen Militär dem Erdboden gleichgemacht wurde. Den Interview-Mitschnitt mit Anna stellte uns die gemeinnützige ukrainische Organisation „PR Army“ bereit, die solche Fakten russischer Verbrechen für ihr Archiv gesammelt hat.
Anna flüchtete zusammen mit ihrer 70-jährigen Mutter, die aufgrund eines Knochenbruches schlecht gehen konnte, und ihrem 27-jährigen chronisch kranken Sohn, der an einer Autoimmunstörung leidet. Der Sohn bekam bei einem Beschuss, als er hinausging, um Wasser zu holen, eine Gehirnerschütterung. Die Situation in ihrer Heimatstadt wurde kritisch, also mussten sie fliehen. Am 4. April 2022 verließen sie Mariupol zu Fuß – fast ohne Habseligkeiten, ohne Geld, aber zum Glück mit Dokumenten.
Anna erzählte, ein Soldat der pro-russischen „Volksrepublik Donezk“ habe ihnen an einem der improvisierten Checkpoints gesagt, dass sie aus dem Dorf Manhusch, etwa 20 Kilometer westlich von Mariupol, überall hingehen könnten – sowohl in die Ukraine als auch nach Russland. Aber die Familie entschied sich, ins Dorf Melekine zu gehen, da Manhusch zu weit entfernt war und sie es ohne Auto nicht hätten erreichen können. Anna und ihre Angehörigen schafften es, ihr Ziel zu erreichen. Sie benötigte dringend medizinische Hilfe, daher stimmten sie zu, auf russisches Staatsgebiet zu fahren – ohne Filtration, wie ihnen versprochen wurde. An Folgendes erinnert sich Anna, als sie bereits von Melekine aus nach Nikolske (Name 1924–2016 und unter russischer Besatzung: Wolodarske) nordwestlich von Mariupol gebracht wurden:
„Es kamen acht große Busse, jeder für 50 Personen. Wir fragten den Fahrer, woher sie kamen. Er antwortete: ‚Wir kommen aus Chakassien‘ (einer Republik im Süden des Föderationskreises Sibirien in Russland – Anm. d. Red.). Die Freiwilligen dort waren auch keine Einheimischen. Sie trugen rote T-Shirts mit der Aufschrift der russischen Regierungspartei ‚Einiges Russland‘. Alle Freiwilligen, sowohl in Taganrog als auch in Tichwin (russische Städte – Anm. d. Red.), wohin man uns ins nächste Lager brachte, waren von der Partei ‚Einiges Russland‘. Sie teilten die Menschen auf und beantworteten Fragen. […] In jedem Bus gab es zwei Fahrer und eine bewaffnete Person in Tarnkleidung und mit einem Sturmgewehr. Uns wurde gesagt, man würde uns nach Nowoasowsk (in der derzeit besetzten ukrainischen Region Donetschtschyna – Anm. d. Red.) bringen und dass wir in zwei Stunden dort sein würden. In Wirklichkeit sind wir zwölf Stunden gefahren. Wir fuhren mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch Felder.“
Anna fügt hinzu, dass mindestens 700 bis 800 Menschen (darunter 200 Kinder) aus Mariupol ins russische Taganrog gebracht wurden. Niemand hat ihnen gesagt, wohin sie gebracht werden. Anna betont, dass die gesamte Logistik gut geplant aussah. Ungeachtet der unmenschlichen Bedingungen während dieser langen und anstrengenden Reise (keine medizinische Versorgung, kein Wasser usw.) nutzten die Russen sie zu ihren Propagandazwecken:
„Als wir ausstiegen, gab es einen organisierten Empfang, der von russischen Fernsehsendern übertragen wurde. Der Beitrag war inhaltlich wie folgt: ‚Hier sind Einwohner von Mariupol, die den Fängen der Nazis entkommen sind (die laut russischer Propaganda in der Ukraine an der Macht sind – Anm. d. Red.). Wir (Russen) nehmen unsere Leute (die deportierten und von der Propaganda als Russen bezeichneten Ukrainer – Anm. d. Red.) in Empfang, wärmen sie auf, geben ihnen zu essen, geben ihnen eine Verschnaufpause und erfüllen alle ihre Bedürfnisse.‘“
Anna fügt hinzu, dass leider einige auf diesen „herzlichen Empfang“ hereingefallen sind, denn die Menschen waren eingeschüchtert, emotional und physisch erschöpft. Ein Problem war auch ihr fehlender Zugang zu Informationen: Weder in Mariupol, als sie evakuiert wurden, noch in Russland hatten sie Mobilfunkempfang. Die Verkettung dieser Umstände machte die Ukrainer anfällig für die Manipulationen des Feindes.
Anna wollte mit ihrer Familie von Russland nach Finnland ausreisen. Schließlich schafften sie es, nach Estland zu gelangen.

Aus der Region Donetschtschyna deportierte Kinder als Mitglieder der „Junarmija“, Gebiet Wolgograd, Russland.
Dokumentiert ist auch die Deportation aus den von Russland besetzten Gebieten von Waisenkindern und Kindern, deren Eltern das Sorgerecht entzogen wurde. Augenzeugenberichte werden insbesondere im Rahmen des Projekts „Where are our people?“ gesammelt, das die Deportationen von Ukrainern und die Möglichkeiten ihrer Rückkehr untersucht.
Ein Beispiel ist die tragische Geschichte von Wolodymyr, dem Leiter des „Zentrums für soziale und psychologische Rehabilitation von Kindern“ in Stepaniwka bei Cherson. Nach der Besetzung der Stadt Cherson durch russische Truppen kümmerte er sich um 50 Waisenkinder im Alter von 4 bis 15 Jahren. Feindliche Raketen und Granaten flogen regelmäßig in der Nähe des Waisenhauses (gemeint ist das „Zentrum für soziale und psychologische Rehabilitation von Kindern“ – Anm. d. Red.) vorbei. Die Kinder durften nicht länger als eine Viertelstunde im Hof spazieren. Wolodymyr bat sie, das Gebäude nicht zu verlassen. Die Erzieherinnen mussten sogar alle ihnen anvertrauten Kinder verstecken, weil die Besatzer Jagd auf Waisenkinder machten, um sie nach Russland zu verschleppen. Wolodymyr bewachte die Kinder monatelang, so dass die russischen Soldaten die Kinder trotz mehrmaliger Suche nicht finden konnten. Es war nicht mehr sicher, im Waisenhaus zu bleiben, und so brachte Wolodymyr die Kinder in einer Kirche unter, wo sie auf Matratzen schlafen mussten. Leider fand das russische Militär sie später und nahm sie mit. Die Waisenkinder wurden zunächst auf die besetzte Krim und dann nach Anapa, Region Krasnodar, Russland, deportiert. Nach langwierigen Verhandlungen und außerordentlichen Bemühungen der ukrainischen Behörden erklärte sich Russland bereit, die Kinder über Georgien in die Ukraine zurückzubringen.
Die Russen bearbeiten die deportierten Kinder ideologisch und propagandistisch. Sie richten spezielle Lager für Kinder ein, die angeblich zur „Anpassung und Hilfe bei der Bewältigung des posttraumatischen Syndroms“ dienen. Ukrainische Kinder werden zwangsmilitarisiert und dazu gezwungen, russischen Soldaten, die ihre Heimat bombardieren, Briefe zu schreiben und Bilder zu malen.
Diese Handlungen der russischen Besatzer gegenüber ukrainischen Kindern verstoßen gegen mehrere Artikel der Genfer Konvention (unter anderem gegen die Artikel 3, 17 und 55) und das Zusatzprotokoll (Artikel 51 und 78), gegen Artikel 21 der UN-Kinderrechtskonvention sowie gegen Artikel 283 des Familiengesetzbuches der Ukraine. Dies alles rechtfertigt die Behauptung: Das moderne Russland ist ein Terrorstaat.

Von Russen entführte Kinder im ukrainischen Isjum.
Russland begeht nicht zum ersten Mal Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Massenrepressionen der Sowjetunion, deren Rechtsnachfolger Russland wurde, werden von Russland bewusst wiederholt und intensiviert. Damals, während der kommunistischen Diktatur, wurden etwa 6 Millionen Menschen deportiert. Russland hat hingegen allein zwischen dem 24. Februar 2022 und Mai 2023 mindestens 2,8 Millionen Ukrainer verschleppt – und dies sind nur die Daten aus öffentlichen Quellen. Wahrscheinlich werden nach Kriegsende noch viele schreckliche Fakten ans Licht kommen, doch Russland hat jahrzehntelang trainiert, die Spuren seiner Verbrechen zu vertuschen. Derzeit können viele deportierte Ukrainer entweder nicht über ihre Erfahrungen sprechen oder haben Angst, dies zu tun, weil sie ihr eigenes Leben oder das ihrer Angehörigen bedroht sehen.
Die Ziele Russlands sind längst bekannt: die Vernichtung des ukrainischen Volkes und die Auslöschung seiner Geschichte. Doch aktuell steht eindeutig fest: Russland wird sich im Gegensatz zur Sowjetunion nicht der Verantwortung für seine Verbrechen entziehen können. Die bereits dokumentierten russischen Verbrechen und die von der Ukraine noch aufzudeckenden Fakten werden eine unbestreitbare Grundlage sein, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Ukraine wird von so vielen demokratischen Staaten unterstützt, dass Russland nicht wie die Sowjetunion solche millionenfachen Verbrechen gegen die Menschheit verschleiern kann. So hat der Internationale Strafgerichtshof bereits am 16. März 2023 Haftbefehle gegen Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa ausgestellt, da sie die Anweisungen zur Deportation von Ukrainern, illegalen Umsiedlung von Kindern und deren Adoption durch russische Familien erteilt haben. Eine solche Anerkennung der russischen Handlungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch eine internationale Institution kann der erste Schritt zur Bestrafung Russlands für das Jahrhundert der Deportationen sein.