“Es ist auch mein Land, und ich muss etwas tun”

Share this...
Facebook
Twitter

Michael Kröger, ehemaliger Bundeswehrsoldat, lebt seit 2018 in Kyjiw. Am 24. Februar 2022, als die große russische Invasion begann, floh er nicht, sondern begann zu helfen. Das macht er seitdem ununterbrochen. Was treibt ihn an?

Es ist früh am Morgen, kurz vor fünf Uhr, in einem östlichen Außenbezirk von Kyjiw. Die Nacht war laut, wie so oft. Die Flugabwehr hat russische Shahed-Drohnen abgeschossen. Jetzt ist alles ruhig. Auf den Straßen herrscht noch kein Verkehr, erst um fünf Uhr endet die Sperrstunde. Michael und ich gehen zum Lkw, jeder einen Becher Kaffee in der Hand, wir setzen uns ins Fahrerhaus.

Der Laderaum des Lkws ist vollgestopft mit Hilfsgütern. Neun Paletten mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln, Kleidung, dazu noch Bettgestelle, Matratzen, Stühle, Tische – insgesamt mehr als fünf Tonnen Ladung. Wir bringen das meiste zu einer Hilfsorganisation in der ostukrainischen Stadt Pawlohrad, einen Teil auch nach Kostjantyniwka im Donbas.

Pawlohrad ist eine Stadt mit 100.000 Einwohnern und vielen Binnenflüchtlingen aus noch weiter östlich gelegenen Orten der Ukraine, die vor dem Krieg und dem Bombenterror Russlands fliehen mussten und alles verloren haben. Sie konnten ihre Heimstätten meistens nur mit ihren Dokumenten und einigen Kleidungsstücken verlassen. Kostjantyniwka liegt nur wenige Kilometer von der Front in der Ostukraine entfernt. Dort leben die noch nicht geflüchteten Menschen, meistens Ältere, mit täglichem russischen Bombenterror, Stromausfällen, ohne fließendes Wasser und Heizung. Für die Menschen in den beiden Städten sind die Hilfsgüter bestimmt.

Michael Kröger, 52 Jahre, verteilt seit drei Jahren Hilfsgüter in der Ukraine, die er und seine ukrainische Frau Anna in Deutschland sammeln. “Direkthilfe-Ukraine”, heißt Michaels Organisation. Weil er das, was er sammelt, persönlich direkt an Ort und Stelle bringt. Ich habe Michael im Frühsommer 2023 im Zug aus dem polnischen Przemyśl nach Kyjiw zufällig kennengelernt. Wir sind in Kontakt geblieben. Manchmal sammle ich Spenden für seine Touren oder fahre mit und helfe.

Um fünf Uhr lässt Michael den Motor an. Vor uns liegen an diesem Tag 550 Kilometer. Sieben Stunden Fahrt. Mit Pausen an Tankstellen und Stops an Checkpoints werden es wohl neun Stunden. Der Polizist am Checkpoint einer Kyjiwer Ausfahrtsstraße ist freundlich. Er winkt zur Weiterfahrt, als er das Wort “Freiwillige” hört. Sie sind immer freundlich an den Checkpoints, die Polizisten und Soldaten. Oft bedanken sie sich, wenn sie hören, dass man freiwilliger Helfer aus dem Ausland ist. Oft klingt es rührend. So als würden sie sagen wollen: ‘Danke, dass Ihr die Ukraine und uns hier nicht vergesst.’

Michael Kröger ist nicht irgendein Ausländer in der Ukraine. Er stammt aus dem kleinen Städtchen Barßel im Nordwesten Niedersachsens und lebt seit 2018 in Kyjiw. Er kam wegen der Liebe in die ukrainische Hauptstadt und blieb. Er fand auch, dass es Geschäftsleute in seiner Branche, dem Finanzbusiness, hier einfacher haben als in Deutschland, deshalb verlegte er seinen Firmensitz nach Kyjiw.

Lange Zeit beschäftigte er sich nicht mit der ukrainischen Politik. Der Krieg, den Russland 2014 gegen die Ukraine begonnen hatte, schien ihm weit weg. In der Ostukraine war er bis 2022 nie. Dann kam der 24. Februar 2022.

Im Morgengrauen dieses Tages wachten Michael und seine Frau Anna zu Explosionen von Bomben und Raketen in Kyjiw auf. Viele Ausländer in Kyjiw flohen an jenem 24. Februar und in den folgenden Tagen aus der ukrainischen Hauptstadt. Fast kein Außenstehender glaubte an die Ukraine und daran, dass sie dem russischen Aggressor widerstehen könnte.

Michael dachte damals nicht lange nach. So erzählt er es. Für ihn war klar: Er würde bleiben. Solange wie möglich. Solange die russische Armee nicht in der Stadt sein würde. In der Stadt, die seit so vielen Jahren nun auch seine war.

Michael war früher in Deutschland zwölf Jahre Zeitsoldat und Ausbilder bei der Bundeswehr. Er gehörte zu einer Elite-Truppe bei der Marine, deren Mitglieder als Einzelkämpfer ausgebildet worden waren. Am 24. Februar 2022 habe er morgens in Kyjiw sofort auf “Soldatenmodus” geschaltet, sagt Michael. “Ich habe versucht, mir einen Überblick über die Lage zu schaffen”, erzählt er. “Mein Plan war, erst wegzugehen aus Kyjiw, wenn die Russen die Stadt schon fast ganz eingekreist hätten. Hinzu kam, dass in unserem Wohnblock am zweiten Tag auf einem Aushang stand, dass sie Freiwillige für die Verteidigung suchen. Die meisten Leute in unserem Block waren schon weg. Ich habe mich gemeldet und schnell realisiert, dass sie alle keine Ahnung haben von Verteidigung oder vom Militär. Und ich habe ältere Männer gesehen und Frauen mit Kindern. Da war für mich klar: Ich kann die Leute nicht einfach im Stich lassen.”

Michael half mit, die Territorialverteidigung in seiner Wohngegend zu organisieren. Zusammen mit Anwohnern patrouillierten sie in Schichten rund um die Uhr und richteten einen Punkt für Lebensmittel-, Trinkwasser- und medizinische Versorgung ein. Nach knapp einer Woche organisierte Michael die Abreise seiner ukrainischen Frau und ihres Sohnes nach Deutschland, in seinen Heimatort in Niedersachsen. “Meiner Frau ging es psychisch immer schlechter. Es war klar, dass es besser ist, sie wegzubringen. Ich organisierte für sie und ihren Sohn die Zugfahrt von Kyjiw bis zur polnischen Grenze. Dort holten zwei Bekannte sie ab und brachten sie in meinen deutschen Heimatort.”

Schon zu dieser Zeit kontaktierten Michael Freunde und Bekannte aus Deutschland – sie fragten, ob und wie sie helfen könnten und was gebraucht werde. Schnell kamen Lebensmittel, Verbandszeug, Medikamente und andere medizinische Güter zusammen. Michael ließ den Transport bis zur polnischen Grenze organisieren und holte die Sachen dort in einem Lkw ab, den ihm ein Bekannter für diesen Zweck nebst Fahrer zur Verfügung gestellt hatte.

“Das war Mitte März 2022”, erzählt Michael. “Wir haben damals von der polnischen Grenze bis nach Kyjiw drei Tage gebraucht, weil wir wegen des ständigen Beschusses der Russen viele Umwege fahren mussten. Wir haben die Sachen dann direkt in ein Militärkrankenhaus nach Kyjiw gebracht. Das war mein erster Transport und der Anfang von allem. Denn ich habe davon Videos gepostet und daraufhin viele Rückfragen und weitere Angebote bekommen. Dann bin ich einfach dran geblieben. Ich habe zu Freunden und Bekannten gesagt, das und das brauche ich, Hilfsgüter und auch Geldspenden für Transportkosten. Damals gab es die Organisation “Direkthilfe-Ukraine” noch nicht. Ich war sozusagen Einzelkämpfer.”

In den ersten Wochen pendelte Michael mit dem geborgten Transporter zwischen polnischer Grenze und Kyjiw hin und her. “Aber mir wurde schnell klar, dass es nichts bringt, nur mit so einem kleinen Transporter in die Dörfer an der Front zu fahren”, erinnert er sich. “Da stehst du dann und kannst jedem nur eine Konserve und eine Packung Nudeln in die Hand drücken. Deshalb fasste ich im April 2022 den Entschluss, kurz nach Deutschland zu fahren, meine Frau zu besuchen und währenddessen auch einen LKW zu kaufen. Und das habe ich dann auch gemacht. Ich habe einen Teil meines eigenen Geldes und einen Teil der Spenden dafür verwendet. Es war ein 12-Tonnen-Lkw, den ich mit sechs oder sogar sieben Tonnen beladen konnte, je nach Zustand der Straßen und Fahrtdauer. Mit dem bin ich dann vollbeladen zurück nach Kyjiw gefahren.”

Bald darauf bekam Michael in der Nähe seines deutschen Heimatortes und auch in Kyjiw von Freunden kostenlose Lagerräume zur Verfügung gestellt und gründete die Organisation Direkthilfe-Ukraine. Seitdem sieht die Arbeit so aus: Materialspenden aus Deutschland kommen zunächst in das dortige Lager und werden dann mit kostengünstigen Spediteuren nach Kyjiw gebracht. Von dort aus fährt Michael die Hilfsgüter in Orte fast überall in der Ukraine – von Odessa über Cherson, Krywyj Rih, Dnipro und Saporischschja bis nach Charkiw. Michaels Frau Anna lebt seit März 2022 kontinuierlich in Deutschland. Sie kümmert sich um die Planung der Transporte und erledigt die bürokratischen Anforderungen. Die Arbeit in seiner Firma hat Michael weitestgehend einem Verwalter überlassen, er selbst ist eine Art stiller Eigentümer.

“Das Besondere an unseren Transporten ist, dass alles, was wir hierher bringen, vorher auch angefragt wurde”, sagt Michael. “Bei vielen anderen Organisationen landen die Sachen irgendwo hinter der ukrainischen Grenze, und dann weiß man oft nicht so richtig, was damit passiert. Wir arbeiten auf Anfrage und dokumentieren in jedem einzelnen Fall, wo was hinkommt.”

Inzwischen haben Michael und sein Team aus Unterstützern in Deutschland und in der Ukraine mehr als 600 Tonnen Hilfsgüter in die Ukraine gebracht und verteilt. “Das Ganze hat natürlich mit mir angefangen”, sagt Michael. “Trotzdem ist es inzwischen eine Teamleistung, weil es viele Leute gibt, die mitmachen. Vor allem meine Frau, die eine Art Managerin ist und die gesamte Bürokratie erledigt, aber auch Leute, die in Deutschland packen und verladen, Leute, die hier manchmal mitfahren und beim Verteilen helfen.”

Ankunft in Pawlohrad, in einer Seitenstraße etwas außerhalb des Stadtzentrums. Hier sind die Lagerräume des Freiwilligenzentrums “Schywa”. Oxana Schywaga und ihr Team warten schon. Sie begrüßen Michael herzlich, mit lautem Hallo und mit Umarmungen. Er ist wie ein alter Freund. Er war oft hier in den vergangenen zweieinhalb Jahren, so oft, dass er nicht mehr zählt.

Oxana, eigentlich Pädagogin, ist seit über einem Jahrzehnt in ukrainischen Wohltätigkeits- und Freiwilligenorganisationen tätig. Gleich zu Beginn des vollumfänglichen russischen Krieges gegen die Ukraine begann sie, in ihrer Heimatstadt Pawlohrad Binnenflüchtlingen zu helfen. Im Frühsommer 2022 gründete sie zusammen mit ihrer Tochter das Freiwilligenzentrum Schywa.

Pawlohrad, etwa 100.000 Einwohner, liegt etwa 120 Kilometer von der Front im Donbas entfernt. Die Stadt wird von Zeit zu Zeit mit Raketen oder Shahed-Drohnen angegriffen, aber sie ist weit genug weg von russischer Artillerie und kleineren Drohnen. Zivilisten, die auf der Flucht vor den Truppen des Aggressorstaats in den unmittelbaren Kampfgebieten sind, kommen zuerst hierher. Manche ziehen nach ein paar Tagen oder Wochen weiter, manche bleiben. In der Stadt gibt es konstant schätzungsweise 30.000 Binnenflüchtlinge – das heißt, ein Drittel der Einwohnerschaft kommt noch einmal hinzu. Es sind fast ausnahmslos Ältere, Frauen und Kinder. Ihnen helfen Oxana und ihr Team.

Michael hat an diesem Tag sechs Paletten mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln mitgebracht, unter anderem Milch, Mehl, Nudeln, Zucker, Babynahrung, Windeln, Seife und Shampoo, daneben 30 Matratzen, Rollstühle, Gehhilfen und Kinderbetten. Schnell laden die vielleicht 20 Freiwilligen aus dem Team die Sachen ab und bringen sie in die Lagerräume. Die Matratzen werden direkt an Leute verteilt, die auf einer Warteliste angemeldet waren und nun schon vor dem Zentrum in einer Schlange stehen. Den meisten sieht man an, dass es ihnen unangenehm ist, herzukommen. “Manchmal schlafen sie, wenn sie hier ankommen, wochenlang auf Decken auf dem Fußboden oder einfach in Schlafsäcken”, sagt Alina, die Tochter von Oxana.

Auch das ist das Gesicht des russischen Krieges gegen die Ukraine, den Russland “Befreiung” nennt. Eine “Befreiung”, die das Leben von Millionen Menschen zerstört. Ihre Familien, ihre Arbeitsplätze, ihr Eigentum, ihre Wohnorte, ihren Alltag.

Für die Spenderinnen und Spender machen wir ein paar Fotos von den mitgebrachten Sachen und vom Team. Oxana und ihre Leute bedanken sich von Herzen. Dann essen wir etwas. Alina hat wie immer gekocht für uns. Es gibt Borschtsch und mit Kohl gefüllte Pyrischky.

Wir sitzen zusammen und plaudern. Wie sind die Lage und die Stimmung in der Stadt? “Normalno”, sagen sie. Das hört man meistens und fast überall in der Ukraine. Es heißt zwar “normal”, ist aber in Wirklichkeit kaum übersetzbar. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sagen es zum Beispiel, wenn eigentlich nichts in Ordnung ist, aber sie es leid sind, darüber zu sprechen. Sie wissen, dass ihr Nachbar Russland sie vernichten will, sie erfahren es jeden Tag. Man sieht oft Tränen. Aber die Ukraine ist ein Land, in dem man so gut wie nie Klagen hört.

Irgendwann später am Nachmittag gehen wir in unser Schlafquartier. “So”, sagt Michael in seinem wortkargen Stil, “morgen dann um 5:30 Uhr weiter.”

Am nächsten Morgen geht es nach Kostjantyniwka. Die Stadt im westlichen Teil des Donbas liegt nur wenige Kilometer von der Front entfernt. Bald fahren wir durch eine Gegend, in der die Zerstörung immer größer und flächendeckender wird. Zerbombte Betriebe und Fabriken, zerbombte Straßen und Brücken, zerbombte Wohnblöcke und Bauernhäuser. Es sind verstörende Anblicke. Es ist verstörend zu wissen, dass Russland nicht aufhören wird. Es wird, solange es das kann, die Ukraine Stück für Stück dem Erdboden gleich machen.

Wir fahren schweigend in Richtung Kostjantyniwka. Irgendwann sagt Michael: “Das alles hier sollten sich mal unsere Politiker anschauen.” Er meint die deutschen. Eine Weile später fügt er hinzu: “All das hier, die vielen Toten, das hat auch der Westen und hat auch Deutschland mit zu verantworten. Hätte man die Ukraine von Anfang an sofort mit allen nötigen Waffen unterstützt, hätten sie die Russen schnell aus dem Land jagen können. Aber so konnten die Russen immer mehr Material nachliefern und sich festsetzen. Und deshalb sind wir jetzt in dieser Situation.”

Einige Kilometer vor Kostjantyniwka steigt eine schwarze Rauchwolke zum Himmel auf. Eine Fliegerbombe im Ostteil der Stadt, erfahren wir später. Es gibt in Kostjantyniwka nicht mehr viele unbeschädigte Häuser und Wohnblocks. Fast kein Gebäude hat mehr normale Fensterscheiben, sondern an ihrer Stelle Holzspanplatten. Allenthalben sind Ruinen zu sehen. Kostjantyniwka ist dabei, das nächste Bachmut, Awdijiwka, Kurachowe zu werden.

Wir fahren zum “Humanitären Punkt” von Olha Sawertanaja. Ein kleines Geschäft abseits des Stadtzentrums, in dem es früher alles Mögliche gab, von Haushaltswaren bis zu Ersatzteilen. Heute dient es als Lager für Hilfsgüter. Michael hat auch für Kostjantyniwka Lebensmittel und Hygienartikel mitgebracht, außerdem Kittel, Verbandszeug und Einmalbettwäsche für Krankenhäuser sowie Schutzkleidung und Ausrüstung für Feuerwehrleute.

Bis auf die Feuerwehrsachen laden wir alles ab, zusammen mit den Leuten aus Olhas Team. Es sind ausnahmslos ältere Frau und wehruntaugliche Männer. Später werden wir noch zur Feuerwehr fahren. Aus der Ferne ist Artilleriefeuer zu hören, es kommt von der Front bei Tschassiw Jar. Auch das ein in Schutt und Asche gelegter Ort. Irgendwann knallt es dumpf, eine leichte Druckwelle geht durch die Luft. Olha und ihre Leute schauen sich um, aber es ist nichts zu sehen. Sie machen einfach weiter mit dem Abladen.

Auch hier bekommen wir etwas zu essen. Olha hat Mlynzi gebacken und eine große Platte mit Käse, Wurst, Brot und frischem geschnittenen Gemüse auf den Tisch gestellt. Wenn man sie fragt, wie es ihr geht und wie sie sich fühlt inmitten der ständigen Bombardements, sagt sie: “Potichenky”. Auch das ist unübersetzbare ukrainische Geduld. Es heißt, so wie sie es sagt: “Langsam wird es schon werden.”

Olha will nicht weg aus der Stadt, trotz der Gefahr. Sie ist hier mit ihrem Sohn, der körperliche Einschränkungen hat. Sie bekommt nur eine kleine Rente, sie hat niemanden anderswo in der Ukraine. Und sie hat hier zu tun. Ihre handgeschriebene Hefte sind voll mit tausenden Namen von Leuten, die regelmäßig Unterstützung bekommen. Olha führt akribisch Buch. Und sie sagt: “Viele denken, das wir Schduny sind, heimliche Verräter, dass wir hier auf die Russen warten, aber das stimmt nicht. Wir sind ukrainische Patrioten. Ich weiß bloß nicht, wohin ich gehen soll. Ich bleibe hier so lange wie möglich.”

Die Zeit drängt, wir müssen Kyjiw noch vor der Sperrstunde um Mitternacht erreichen, den Lkw am nächsten Morgen beladen und zur nächsten Tour aufbrechen. Deshalb verabschieden wir uns schnell.

Es wird eine lange Fahrt. 700 Kilometer, zehn Stunden. Michael fährt seit fast drei Jahren durch die Ukraine. Es sind zehntausende Kilometer. Er hat kaum etwas anderes gemacht, als Hilfstransporte zu Menschen zu bringen. Im ersten Kriegswinter haben er und seine Frau 500 Geschenke für Kinder in der Ukraine gepackt. Michael verkleidete sich zur Übergabe als Weihnachtsmann und übergab jedem Kind persönlich sein Geschenk. Im zweiten Kriegswinter waren es tausend Geschenke. In diesem Kriegswinter 2.500. Michael hat auch schon als Freiwilliger einige Wochen lang verletzte Soldaten von der Front in Krankenhäuser gefahren. Wenn er in Deutschland ist, fährt er umher, um Materialspenden abzuholen oder um mit Leuten zu sprechen, damit sie Geld für Transportkosten spenden. Nur ein paar Mal war er mit seiner Frau für einige Tage im Urlaub.

Warum macht er all das?

Michael erzählt eine Geschichte aus dem Frühjahr 2022, wenige Wochen nach Beginn der vollständigen russischen Invasion. Von einer Tour in ein gerade befreites Dorf nordöstlich von Kyjiw. 120 Kilometer von Kyjiw, 10 Stunden Fahrt, kaum passierbare Straßen, gesprengte Brücken. “Wir haben abends im Gemeindehaus auf dem Fußboden geschlafen. Am nächsten Morgen kamen die Leute und haben sehr diszipliniert gewartet, bis sie bei der Verteilung an der Reihe waren. Die meisten Frauen weinten. Sie erzählten Geschichten von Kindern, die beim Spielen ermordet worden waren, von einem Mann, den die Russen mit dem Panzer erschossen hatte. Einfach aus Mordlust. So etwas kann man nicht vergessen.”

Michael schweigt eine Weile. Dann fügt er hinzu. “Letztlich ist es meine Heimat. Meine Frau und ich haben hier Freunde, unsere Wohnung, all unsere Sachen. Es ist einfach das Gefühl, dass man sein Land und seine Leute verteidigen will. Dass man etwas tun muss.”

Beitragende

Gründer von Ukraїner:

Bogdan Logwynenko

Autor des Textes:

Keno Verseck

Redakteur:

Björn Milbradt

Koordinatorin der deutschen Redaktion:

Нanna Horoschanska

Grafiker:

Anna Domanska

Chefredakteurin von Ukraїner International:

Anastasija Maruschewska

Koordinatorin von Ukraїner International:

Julija Kosyrjazka

Content-Manager:

Kateryna Jusefyk

Entdecken Sie die Ukraine jenseits der Schlagzeilen - Geschichten, die inspirieren, direkt zu Ihnen