Im zweiten Teil der Serie von Aufklärungsmaterialien über den Holodomor beschlossen wir, über die bekanntesten und beeindruckendsten Mythen des Völkermordes in der Ukraine 1932–1933 zu erzählen. Höchstwahrscheinlich haben Sie schon mehrmals gehört, dass es überhaupt keinen Holodomor, sondern eine Missernte gab oder dass Hunger auf dem ganzen Territorium der UdSSR verbreitet war oder dass die Ukrainer diesen selbst hervorgebracht haben. In diesem Artikel widerlegen wir die meistverbreiteten Mythen.
Der Holodomor war eine zielgerichtete Politik der Sowjetunion, um das ukrainische Volk zu vernichten. Dies bestätigen hunderte Aussagen von Augenzeugen, Dokumente und Tagebuchaufzeichnungen. Schon beim ersten Anblick sollten die Archivfotos der Holodomor-Opfer, die schrecklichen Erzählungen über damalige „schwarze Tafeln“ (die „schwarzen Tafeln“ waren die Listen von den Dörfern, die gezwungen waren, den Handel einzustellen und alle Waren abzugeben, weil sie ihr Ablieferungssoll nicht erfüllt hatten — Red.), die Misshandlungen von Aktivisten und das Justizsystem keinen Zweifel über das Verbrechen der Sowjetmacht lassen. Jedoch kann dieses historisches Trauma noch nicht komplett heilen, solange es Menschen gibt, die an seiner Wahrhaftigkeit zweifeln. Deshalb widerlegen wir die Mythen über den Holodomor in den Jahren 1932–1933.
Der Tod durch Hunger auf den Straßen von Charkiw, 1933. Foto: Ingenieur A. Wienerberger. Die Bilddokumente sind von A. Wienerbergers Großenkelin Samara Pearce vorgelegt.
Es gab keinen Holodomor
„Wir werfen die Fragen des erfundenen Charakters des Holodomors wie beispielweise durch Politisieren dieser gemeinsamen Probleme der Vergangenheit nicht auf“, erklärte der amtierende Präsident Russlands Wladimir Putin schon im Jahre 2008. An dieser Auffassung hält Russland weiterhin fest und bestätigt dadurch sein Image als Nachfolger der Sowjetunion. Diese Worte spiegeln einen der weitverbreitetsten Mythen des Holodomors wider, der durchdacht und penibel durch die sowjetische Macht fast vor einem Jahrhundert festgesetzt wurde.
Im Allgemein behaupten die Befürworter dieses Mythos am häufigsten, dass es Hunger gab, jedoch wurde er nicht durch eine gezielte Politik der sowjetischen Macht, sondern durch Zufallsumstände verursacht. Zu den Ursachen zählen demnach Sabotage der ukrainischen Bauern, die Notwendigkeit, den Staat in der Zeit der Weltwirtschaftskrise über Wasser zu halten, und ungünstige Wetterbedingungen. Und darüber hinaus gibt es die Aussage, dass es keinen Holodomor gab, weil seine Ausmaße und Folgen ausgedacht seien.
Ein Mythos zwingt oft zum Zweifel: Wie war der Hunger im Land, das eine Modernisierung durchführte, möglich? Man sagte ja, die Sowjetunion ernähre alle Menschen. Und die Ukraine galt für die UdSSR, wie auch zuvor für das Russischen Reich nur als ein Rohstoffland. Ihre Rolle bestand darin, Erz und Metalle zu gewinnen und sich dem politischen System schweigend zu beugen. Die ukrainischen Bauern hatten keinen Platz in einem solchen System.
Roman Podkur, Historiker. Foto: Oleh Perewersew.
„Die Lebensmittel und alle Konsumgüter wurden nach Lebensmittelkarten ausgegeben. Die ganze Bevölkerung wurde in fünf Kategorien eingeteilt. Die größte Kategorie waren Bergarbeiter, Metall- und Schwerarbeiter. Sie bekamen pro Monat 800 Gramm Brot, 200 Gramm Fleisch, ein paar Fische und eine bestimmte Menge Butter. Es wurde auch ein paar Liter Öl und irgendwelche Breie ausgegeben. Aus diesen Dingen bestand zumindest für die Schwerarbeiter ein Lebensmittelpaket. Die weiteren Kategorien bekamen weniger und weniger Nahrungsmittel. Die fünfte Kategorie waren unterhaltsberechtigte Familienangehörige der Arbeiter. Die Bauern gehörten zu diesem System der zentralen Versorgung nicht. Das heißt, sie mussten sich selbst versorgen. Deshalb ist es noch ein Mythos, dass die sowjetische Regierung alle ernährte. Ja, sie ernährte, aber nur die Arbeiter und Beamten, die in der Stadt wohnten, und die Nomenklatur der KPdSU“, so der Historiker Roman Podkur.
„Hätten die Menschen darüber geschwiegen, wenn es den Holodomor gegeben hätte?“
„Ja. Aus verschiedenen Gründen: Die Zeugen — wegen der Angst um ihre Leben und erlebten Traumata, die Parteielite — wegen der Unvorstellbarkeit, diese Handlungen zu anerkennen, die Übrigen — wegen Informationsmangel und sowjetischer Propaganda.“
Die repressiven Sowjet-Maßnahmen erreichten ihren Höhepunkt in den 1930er Jahren. Dissens, böswillige Gegenpropaganda, Kosmopolitismus und bürgerlicher Nationalismus verursachten Millionen von Arresten und Verbannungen in den Gulag (das Netz von Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion — Üb.). Offen über die mehr als 7 Millionen Opfer der gezielten Politik der Vernichtung der Ukrainer in der Sowjetunion zu sprechen, bedeutete, das eigene Todesurteil zu unterschreiben. Sogar innerhalb der Parteielite wusste über die reale Situation nur ein äußerst beschränkter innerer Kreis um Stalin Bescheid: Kossior, Kaganowitsch, Molotow, Postyschew. Und diejenigen, die die Wahrheit wussten, verheimlichten sie oder beschuldigten die Parteileitung, sodass sie ihre Verantwortung abgaben, weil sie auch ein Teil des Systems waren.
„Die Sowjetunion konnte vieles ohne schriftliche Genehmigung machen. Jedoch, wenn wir über den Holodomor sprechen, gibt es Dokumente, Briefe und viele Beweise über die Künstlichkeit dieses Ereignisses. In jedem Fall konnte man aber viel machen, ohne die realen Absichten offenzulegen oder dadurch, dass man eigene Pläne mittels einer äsopischen Sprache darstellte“, sagt der Journalist Witalij Portnikow.
Diashow
Ein weiterer Grund für das Schweigen ist die Vernichtung von Dutzenden Dörfern. Die Zeugen der Ereignisse sind kaum unter den Lebenden geblieben, denn die Bevölkerung ging unter, da ganze Familien und ganze Ortsstraßen, die für den Ein- und Ausgang gesperrt wurden und auf die „schwarze Tafel“ eingetragen wurden, ausgestorben sind. Auf solch eine „Tafel“ landeten Dörfer, die Getreidebeschaffungspläne nicht erfüllten. Dies bedeutete die völlige Isolation von der Außenwelt. Sie wurden von Truppen umgeben, die für die BewohnerInnen den Sauerstoff (die Lebensmittellieferungen) komplett abschnitten, bis die BewohnerInnen innerhalb des Dorfes starben.
„Würden andere Staaten nicht anfangen, gegen solche unmenschlichen Ereignisse zu protestieren?“
„Nein, sie würden nicht anfangen. Für die anderen Staaten sickerten die meisten Informationen nicht durch den Eisernen Vorhang des totalitären Systems.“
Am 26. August 1933 kam der französische Politiker Édouard Herriot mit dem Dampfer nach Odessa. Am Tag zuvor erhielt der Leiter der OGPU (Vereinigte staatliche politische Verwaltung — Üb.) Jagoda eine Nachricht von Stalin: „Laut Angaben von Jewdokimow (der OGPU-Vertreter im Nordkaukasus) bereiten die Weißgardisten einen Terroranschlag gegen Herriot in Odessa oder in den anderen Orten der UdSSR vor. Meiner Meinung nach sind die Vermutungen von Jewdokimow begründet. Es ist notwendig, Balyzkyj (Leiter der GPU der Ukrainischen SSR, Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik — Red.) sofort anzuweisen, da zu sein, wo Herriot ist, und alle Maßnahmen gegen mögliche Exzesse zu ergreifen“. Im Wesentlichen ging es darum, dass Stalin befahl, eine „Tour“ für den Gast zu organisieren und seine Aufmerksamkeit auf die blühenden Städte statt auf die geschwollenen Körper in den Dörfern zu lenken. Infolgedessen veröffentlichte die Zeitung „Prawda“ (auf ukrainisch „Die Wahrheit“ — Üb.) am 13. September einen Artikel mit dem Titel „Alles, was in Russland zu sehen ist, ist schön“.
Die inszenierten Touren „mit dem Ziel, einen Angriff zu verhindern“ und die Besuche in die durch Hunger ausgestorbenen Dörfer, die wiederum neu besiedelt wurden, und dann als Beispiel für Wohlstand demonstriert wurden (wie beispielsweise das Dorf Hawryliwka in der Region Dnipropetrowsk), zeigten wie die UdSSR handelte.
Foto: Oleh Perewersew
„Sie (die Sowjetunion) konnte sowas ungestraft machen und deshalb einfach erklären: ‚Wir haben zwar Hunger auf unserem Territorium, aber wir versuchen, den Menschen zu helfen. Aber nicht alles steht in unserer Macht‘. Das Ausmaß der Hungersnot wurde verheimlicht. Die Verordnungen der sowjetischen Parteiämter, die diese Hungersnot künstlich gemacht hatten, wurden geheim gehalten. In Moskau wird immer noch behauptet, dass diese Hungersnot nicht künstlich war, basierend auf all diesen Entscheidungen, die während der stalinistischen Zeit getroffen wurden und die das wahre Ausmaß der Tragödie maskierten“, erzählt Witalij Portnikow.
Die Zeugnisse über den schrecklichen Hunger in der Sowjetunion drangen jedoch in Wirklichkeit zu der ausländischen Presse durch. So hielt beispielsweise der britische Journalist Gareth Jones nach seiner Reise in die UdSSR die Pressekonferenzen im März 1933 in Deutschland ab. Er erklärte, dass die Ukraine als Teil der UdSSR unter schwersten Druck stand und dass Tausende von Menschen dort ohne Essen starben. Über die Ereignisse in der Ukraine berichteten noch ein paar Journalisten, wie zum Beispiel Malcolm Muggeridge, aber auch ein paar Verlage in den USA. Das Problem von diesen Leuten und Verlagen bestand aber darin, dass sie nicht so einen starken Einfluss hatten wie ihr Kollege Walter Duranty. Er war ein Pulitzer-Preisträger, eine dem Präsident Franklin Roosevelt nahestehende Person und der einzige ausländische Journalist, der persönlich ein Interview mit Stalin führte, — seine Materialien gewannen. Er behauptete, dass die Hungersnot eine Fiktion war, dass seine Maßstäbe sehr übertrieben waren und dass die vorübergehenden Lebensmittelschwierigkeiten eine natürliche Etappe in der Entstehung der UdSSR waren. Die Öffentlichkeit hatte das alles geglaubt.
Neben den Schwierigkeiten bei der Einreise in die USSR wurde dazu Ausländern im Jahre 1933 verboten, auf dem Territorium der Ukrainischen SSR und im Kuban-Gebiet zu sein. Eine solche Entscheidung von Stalin riefen die gleichen Artikel und Erklärungen von westlichen Journalisten über die reale Situation in der Ukraine hervor. So wurde der Presse, der vierten Gewalt, fast jeglicher Zugang zu primären Quellen und zur Möglichkeit, Informationen zu bekommen, verwehrt. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden sogar die einzelnen Erwähnungen über den Holodomor aus der Öffentlichkeit verdrängt.
„ Gibt es Beweise?“
„ Ja. Die Beweisgrundlage enthält tausende von Dokumenten (offenen und immer noch geheimen in den Moskauer Archiven), Zeugnisse von Hunderttausenden von Augenzeugen der Ereignisse sowie Forschungen, Untersuchungen und viele andere Materialien.“
„Alle sagen: ‚Beweisen Sie die Tatsache der gezielten Vernichtung der Bevölkerung‘. Und zu den Tatsachen der bewussten Vernichtung der Bevölkerung gehörten die Getreidebeschaffungen. Das war ein Instrument, mit dem Stalin gegen die Ukraine vorging und mit dem er die Ukraine zu bestrafen begann“, so Roman Podkur.
Heutzutage ist der Holodomor von 17 Ländern als Genozid anerkannt. Um das zu erreichen, musste man das absichtliche Handeln gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen beweisen. Tausende von Augenzeugen erzählten die Wahrheit, und ihre Geschichten wurden zu der Basis dieser Anerkennung. Den Holodomor bezeichnete der Menschenrechtsaktivist Raphael Lemkin, der selbst den Genozid-Begriff prägte, als Genozid. Die Zeugnisse ergänzten Archivdokumente, die seit der Verkündung der Unabhängigkeit der Ukraine zugänglich gemacht wurden. Heute wird die Arbeit fortgesetzt, und die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen vom Museum des Holodomor-Genozids befragen die Augenzeugen des Genozidverbrechens noch weiter. Mehr dieser Geschichten kann man in der Serie von Ukraїner über den Augenzeugen des Holodomors und auf der Webseite vom Museum des Holodomor-Genozids in der Spalte „Zeugnisse“ finden.
Dabei bleiben noch hunderte Seiten von Dokumenten in den Archiven des Kremls (das politische Zentrum in Moskau — Üb.). Höchstwahrscheinlich wird Russland den Zugang zu diesen Dokumenten nie freigeben, weil sie nur den Fakt des Genozids am ukrainischen Volk bestätigen werden.
Die Aufladung der Getreide zum Versand in die Getreidesammelstelle der Kolchose namens H. I. Petrowski. Das Dorf Petrowo-Solonycha, Mykolajiwer Region, 1933 — Das Zentrale Staatliche Kino-Foto-Phono-Archivs der Ukraine namens G.S. Pschenytschnyj.
Der Hunger wurde durch Missernte verursacht
Dieser Mythos kann als eine Variation des vorherigen Mythos betrachtet werden — er besagt, es gab keinen Holodomor, es gab eine Hungersnot wegen Missernte. Und vor allem gab es in diesem Sinne keine zielgerichtete Politik von Stalin und seinen Unterstützern gegen die ukrainische Nation.
In der Tat wurde der Holodomor nicht durch eine schlechte Ernte verursacht. Dazu führten die zielgerichteten Handlungen der sowjetischen Macht gegen ukrainische Dörfer — Vernichtung durch Hunger. Im Jahre 1932 wurden keine kritischen Wetterbedingungen registriert, die zum Getreidemangel und dadurch zum Tod von mehr als 7 Millionen Menschen führen konnten. In diesem Jahr, im Vergleich zum Jahr 1931 wurde tatsächlich weniger Getreide geerntet (12,8 Millionen Tonnen gegenüber 17,7 Millionen Tonnen im Jahr 1931). Der Grund für die geringeren Erträge war eine unbedachte Politik der Getreidebeschaffung: In den Dörfern fehlte es an Getreide, um die Felder einzusäen, es wurde mehr und mehr aus der Ukrainischen SSR exportiert, ohne etwas für die Aussaat zu hinterlassen. Aber sogar diese Menge hätte ausgereicht, um den Hunger zu vermeiden, wenn es nicht eine gezielte Politik des Völkermordes gegeben hätte.
„Die regionale Führung (die Parteiführung — Red.), die über die Situation sehr gut Bescheid wusste, erwähnte nie Trockenheit oder Wolkenbrüche. Sie sagten: ‚Dort, in irgendeinem Bezirk ist etwas passiert, aber es kommt sehr selten vor‘. Die Sekretäre der Regionalkomitees der Partei haben diese Dinge nicht erwähnt. Das heißt, wenn sie diese Dinge nicht erwähnten und nicht sagten, dass sie eine der Hauptgründe für das Massenhungern der Bevölkerung waren, dann gab es einfach den Holodomor nicht“, erzählt Roman Podkur.
Außerdem behaupten die Augenzeugen, dass es beispielsweise in den benachbarten Dörfern und Städten, ein paar Kilometer nah der Grenze, keinen Hunger gab. Zum Beispiel, während die Grenzregionen Siwerschtschyna oder Sloboschanschtschyna litten, gab es in der Nähe, in Russland oder Belarus keine Probleme mit den Ernten. Bei Naturkatastrophen müsste aber nicht nur ein Staat betroffen sein.
„Solange die Ukraine ihre nationale Einheit bewahrt, solange ihre Menschen fortfahren, sich selbst als Ukrainer sehen und nach Unabhängigkeit streben, so lange stellt die Ukraine eine ernsthafte Bedrohung für das Herz der Sowjetideologie dar. So ist es nicht verwunderlich, dass die kommunistischen Führer größte Aufmerksamkeit der Russifizierung dieses unabhängigen Mitgliedes ihrer ‚Union der Republiken‘ widmeten und sie dazu bestimmten, in der Art umgestaltet zu werden, dass sie in ihr Bild einer russischen Nation passt. Der Ukrainer ist kein Russe und war es auch nie. Seine Kultur, sein Temperament, seine Sprache, seine Religion — alles ist unterschiedlich. An der Hintertür Moskaus weigerte er sich kollektiviert zu werden, Deportationen oder den Tod zu akzeptieren. Und so ist es besonders wichtig, dass der Ukrainer an dieses Prokrustesbett, das Ideal des Sowjetmenschen, angepasst wird“, so Raphael Lemkin, der Menschenrechtsaktivist und Begründer des Begriffs ‚Genozid‘ im Artikel „Der sowjetische Genozid in der Ukraine“ (der komplette Artikel von Lemkin auf 28 Sprachen, aus dem Englischen von Andreas Stein — Red.).
Eine Kolchosbäuerin der Kolchose namens Komintern des Bezirks Jampilskij, Region Winnyzja, Sawyzka A. F. im Feld bei der Ernte, 1939
Die realere Tendenz dieser Periode bestand darin, dass der Hunger in solchen Ausmaßen ausschließlich in den Regionen herrschte, in denen die Ukrainer die Mehrheit der Bevölkerung bildeten: Kuban-Gebiet, bestimmte Bezirke des Nordkaukasus und der Unteren und Mittleren Powolschje (Wolgaregion). An keinem anderen Ort der UdSSR gab es die Politik der „schwarzen Tafeln“, die de facto ganze Dörfer tötete. Die abscheulichsten der repressiven Anordnungen betrafen sowohl die Ukraine als auch gleichzeitig das Kuban-Gebiet. Die Organisatoren des Hungers waren die gleichen Menschen: Im Nordkaukasus führten Mikojan und Kaganowitsch persönlich, Letztgenannter setzte später damit fort, den Hunger auch in der Ukraine zu organisieren.
Am 1. Januar 1932 gab es 2,033 Millionen Tonnen Getreide in den ‚Unveräußerlichen und Mobilisierten Fonds der UdSSR‘ und am 1. Januar 1933 waren es 3,034 Millionen Tonnen. Diese Reserven reichten aus, um 10 Millionen Menschen im Jahr 1932 und 15 Millionen Menschen im Jahr 1933 zu ernähren (zum Vergleich: In zwei Jahren starben mehr als 7 Millionen Menschen). In den Jahren 1932–1933 exportierte die UdSSR aktiv Getreide. Im Mai 1933 wurden rund 2,8 Millionen Tonnen Getreideernte vom Jahr 1932 über Seehäfen exportiert.
Für die Erfüllung von 97% des Jahresplans an Getreideexporten durch die Ukraine (d.h. für die Organisation des Holodomors) prämierte Moskau die oberste Führung der Republik mit zwei Autos. Und am 29. April 1933 unterzeichnete Ljubtschenko, stellvertretender Vorsitzender des sowjetischen Rates der Volkskommissare der Ukrainischen SSR, einen Antrag auf Auszeichnung für MitarbeiterInnen des Außenhandels der Ukraine.
Der Holzschnitt „Was man aus der Ukraine nach Russland ausführt“ aus dem Grafikalbum von Nil Chassewytsch
Der Hunger war in der ganzen Sowjetunion
„Russen… das ist Russland, das Dorf Bondarewo ist von uns, von Hannusiwka, sieben Kilometer entfernt. Die Mütter hatten Lischnyky (Decken aus Schafwolle — Üb.), Rushnyky (bestickte Handtücher — Red.) und andere Sachen — alles wurde nach dort weggebracht. Und dort gab man kaum ein Stückchen Brot dafür… Russland hungerte nicht. Das heißt, die Menschen, die noch bei Kräften waren und sich auf ihren Füßen halten konnten, eilten sich nach Russland, das gleich in der Nähe war, und brachten das alles und auch all‘ die Rushnyky dorthin. Dort tauschten sie ein wenig Waren und blieben am Leben. Und die Russen … wohnten ganz in der Nähe und denen ging es nicht schlecht“ (Powolozkyj I. M., geboren 1927, Dorf Hannusiwka, Bezirk Nowopskowskyj, Region Luhansk).
Der Holodomor 1932–1933 hinterließ viele Erinnerungen bei den Augenzeugen, die an den Grenzen der Ukrainischen SSR mit anderen Republiken lebten. Im russischen Nachbardorf gab es zumindest etwas zu essen und die Möglichkeit der Rettung. Die Menschen versuchten auch, nicht nur in die ukrainischen Städte, sondern auch nach Osten in die RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik — Üb.) zu fliehen.
In Stalins Kommunikation mit den ihm nahestehenden Personen — Organisatoren des Holodomors — war die Frage der Ukraine von besonderer Bedeutung. Die Beweise dafür kann man in zahlreichen Befehlen, Protokollen von Parteitagen und Memoiren finden.
Das Hauptinstrument der Bevölkerungsvernichtung waren die von Moskau für die Ukraine festgelegten unerfüllbaren Getreidebeschaffungspläne. Von den 12,8 Millionen Tonnen der Jahresernte 1932 sollten 53% des Getreides aus den ukrainischen Dörfern konfisziert werden, verglichen mit 39% im Vorjahr, als die Bruttoernte 17,7 Millionen Tonnen betrug. Dies reichte für die normale physiologische Existenz der Bevölkerung nicht mehr aus. Tatsächlich erreichte die Beschlagnahmungsrate 70–75%, wodurch die Dörfer in Todesgefahr kamen. Um den Plan umzusetzen, forderte das Kyjiwer Regionalkomitee der KP(b)U (Kommunistischen Partei (Bolschewiki) der Ukraine — Üb.) am 7. Januar 1933 „alles verfügbare Getreide zu konfiszieren, einschließlich der sogenannten Saatgutfonds“. Tatsächlich blieb das Dorf ohne irgendwelche Nahrung und ohne Möglichkeit, die Felder zu säen.
Am 18. November 1932 verabschiedete das Zentralkomitee der KP(b)U eine Verordnung „Über Maßnahmen zur Stärkung der Brotbeschaffung“. Danach folgte die Praxis der berüchtigten „schwarzen Tafeln“. Die konkreten Entscheidungen, dass die Dörfer auf solche „Bretter“ eingetragen werden, wurden von den Regionalkomitees getroffen. In den Jahren 1932–1933 wurden 25% der Bezirke, darunter 400 Kolchosen in der Region Charkiw auf die schwarzen Tafeln eingetragen.
Das Begräbnis von einem Aktivisten im Dorf Serhijiwka, Region Donezk, Anfang der 1930er Jahre
Die Ukrainer leisteten keinen Widerstand
Noch ein weiterer populärer Mythos über den Holodomor ist eine Variation zum Thema „selber Schuld“: Wenn die Ukrainer keinen Widerstand leisteten, dann ließen sie selbst zu, dass sich eine solche Situation entwickelte. Die Wahrheit ist hier genau andersrum: Gerade deshalb weil die Ukrainer Widerstand leisteten, wurde ja der Holodomor begangen.
„Die russischen Chauvinisten, denen Stalin seinem Wesen nach angehörte, obwohl er ein Bolschewik war, waren einfach darüber erschrocken, was in den Jahren 1917–1920 auf den ukrainischen Ländern geschah. Und sogar danach, als die Gespräche über die Unabhängigkeit unter Partei- und Wirtschaftselite unter den Bedingungen der besetzten Sowjetukraine fortgesetzt wurden und andererseits die Bauernaufstände und der Widerstand gegen die Kollektivierung andauerten“, erzählt Witalij Portnikow.
Die absurde Politik der UdSSR, die Zwangskollektivierung und die Zuweisung in die Kolchosen konnten die privaten Eigentümer nicht positiv gegenüberstehen. Und diese Eigentümer waren vor Beginn der Kollektivierung mehrheitlich Bauern. Gerade in den Dörfern lebten bis zu 90% der Ukrainer. Stalin und seine Anhänger begannen die totale Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung unter nationalen Gesichtspunkten.
„Tatsächlich war die Landbevölkerung an die Kolchose gekettet, und es war unmöglich, davon loszukommen. Daher war es eine Kolchosen-Sklaverei, die erst Mitte der 1960er Jahre aufhörte. Dann bekamen die Bauern tatsächlich Pässe und konnten damit bei der Kolchose kündigen und sie verlassen“, so Roman Podkur.
Die Gruppe der Aktivisten von Borysiw Maschinen-Traktoren-Station im Bezirk Tscherniwzi, Region Winnyzja, Dorf Borowa, 1936
Bereits im Jahre 1930 fanden in der Ukraine 30% der Bauerndemonstrationen gegen die Sowjetherrschaft in der ganzen UdSSR statt. Rund 1,2 Millionen Menschen nahmen daran teil. Im selben Jahr wurden in den ukrainischen Dörfern 2779 Angriffe auf Aktivisten, auf Verantwortliche für die Getreidebeschaffung und auf Mitarbeiter der GPU registriert. Die Angriffe machten 20,12% von ähnlichen Fällen in der ganzen Sowjetunion aus.
Um solche Demonstrationen zu stoppen, wurden nach Angaben der Sonderabteilung der OGPU der UdSSR 70.407 Haushalte von Anfang bis zum 10. Dezember 1930 in der Ukraine entkulakisiert (Entkulakisierung war eine politische Repressionskampagne gegen sogenannte Kulaken, relativ wohlhabende Bauern, die in Form von Verhaftungen, Enteignungen, Exekutionen und Deportationen durchgeführt wurde — Red.). Von diesen Haushalten wurden 31.993 Familien (146.229 Menschen) deportiert: 19.658 Familien in den Nördlichen Krai (eine Verwaltungseinheit im äußeren Nordosten der RSFSR von 1929 bis 1936 — Red.) und 11.935 nach Sibirien. Jedoch hörte damit der Widerstand der Bevölkerung nicht auf.
Aufgrund der Verschärfung der Unterdrückungen und der allmählichen Beschlagnahme nicht nur von Getreide, sondern aller Lebensmittel versuchten die Menschen, Verstecke einzurichten. Dort, in den Gruben, unter den Dächern, in den Wänden und Öfen, sammelten sie Lebensmittel, um die Familie zu retten. Viele dieser Verstecke wurden von Patrouillen entdeckt, die alles bis zum letzten Körnchen wegnahmen. Die Menschen versuchten auch, aus den hungernden Dörfern in die Städte zu fliehen. Einige gingen in die benachbarten Dörfer, in denen keine Ukrainer lebten. In solchen Dörfern war es möglich, etwas Nahrung zu finden und auf solche Weise konnte man überleben und die eigene Familie retten.
„Schandruk Matwij Iwanowytsch, Kolchosbauer des Dorfes Leonardiwka, 25 Jahre alt, nach dem sozialen Status gehörte er der Mittelschicht an. Beim Treffen mit Kolchosbauern lachte er sie aus und fragte sie: ‚Warum geht ihr zur Kolchose arbeiten, warum? Ihr werdet sowieso nichts davon haben‘,“ so Weretnyk, Kommissar der GPU der Ukrainischen SSR im Bezirk Kalyniw, Januar 1933.
Die Flucht aus den Kolchosen und die Sabotage wurden zu einer weiteren Form des Widerstands. So berichtete der stellvertretende Leiter der GPU der Ukrainischen SSR Karlsson am 13. Juli 1932, dass bereits im Juni 14.055 Anträge auf Austritt aus den Kolchosen eingegangen seien (4.754 Kolchosen von 111 Bezirken). Aktiv durch Proteste oder passiv durch Sabotage widersetzten sich die Ukrainer dem System mit aller Kraft; mehr als irgendwo in der UdSSR. Und mehr als irgendwo in der UdSSR zahlten sie den Preis dafür. Es kostete mehr als 7 Millionen Menschenleben.
Der Holzschnitt „Was man aus der Ukraine nach Russland ausführt“ aus dem Grafikalbum von Nil Chassewytsch
Den Holodomor haben die Einheimischen organisiert
Die Befürworter dieses Mythos behaupten, dass nicht Moskau schuldig ist, sondern die „eigenen“ einheimischen ukrainischen Beamten, die die Anforderungen der Getreidebeschaffungspolitik erfüllten. Oft lassen sie jedoch ein Detail aus — die Positionen von denjenigen, die diese Maßnahmen ausführten. Fast jede davon hatte eine Kombination von Buchstaben KP(b)U, die Kommunistische Partei (Bolschewiki) der Ukraine. Das heißt, jedenfalls war jeder Beteiligte unabhängig von seiner Nationalität in erster Linie ein Parteimitglied, das folglich ein Teil der sowjetischen Besatzungsmacht war. Diese Menschen gehörten für das ukrainische Volk nicht zu den „eigenen Leuten“.
Trotzdem versuchten sogar die ideologischen Kommunisten, die Situation der Ukrainer unter solchen Bedingungen zu lindern. Teil der hiesigen AktivistInnen und KomsomolzInnen, die die wirklichen Pläne des Kremls nicht kannten, konnten nicht verstehen, wie man etwas tun konnte, was bewusst zum Hunger von Hunderten Menschen in Dörfern und Städten führt. Beispielsweise schrieben der Sekretär des Ljubarer Kreisparteikomitees Dowschynow und der Vorsitzende der Prüfkommission Bassysstyj an das Zentralkomitee der KP(b)U, dass „der erhaltene Getreidebeschaffungsplan nur dann erfüllt werden kann, wenn 58% der Bruttoernte geliefert wird, was den Richtlinien der Partei widerspricht“. Aus dem Analysebericht des Leiters der GPU der Ukrainischen SSR Redens vom 20. November 1932 geht hervor, dass sich eine Unzufriedenheit in der Ukraine in der gesamten Hierarchie der Kommunalverwaltung ausbreitete.
„Unser Großvater versteckte das Essen in den Gruben. Im Hain, im Beet, im Garten. Er markierte alles. Er legte Gras hin, damit es im Schnee zu sehen ist. Im Garten gepflanzte Rüben wurden nicht geerntet, sondern nur gefroren ausgegraben. Das Gefrorene wurde nicht weggenommen. Und wir aßen das. Im Sommer sammelten wir Ähren, suchten nach Zieselmäusen, fingen Wachtelkönige auf der Wiese und aßen Tauben. Mein Großvater hatte einen Taubenschlag und wir aßen allmählich alle Tauben auf. Unser Hund verschwand, und mein Großvater sagte, dass ihn die Wölfe gefressen hatten. Sie waren wirklich gekommen, ich hatte sie gesehen. Und dann erzählte uns unsere Mutter, dass wir den Hund gegessen hatten. Die KomsomolzInnen warnten ihre Verwandten. Ihren Bekannten sagten sie, dass sie Kartoffeln und Lebensmittel verstecken sollten, um zu überleben. Dafür wurden sie später erschossen“, erzählt Zyba Wasyl Iwanowytsch, geboren 1928, Dorf Rajhorodok, Region Tschernihiw.
Lokale Beamte verzögerten bewusst die Genehmigung von Getreidebeschaffungsplänen, weigerten sich später, diese einzuhalten, traten aus der Partei aus, verließen ihre Arbeitsstellen und so weiter. In der Region Schytomyr, laut Aussagen der GPU, „erklärte der Leiter des Dorfrats von Bondariwka, Parteimitglied Ponomarchuk während einer Getreidesammlung: ‚Ich kann den Plan nicht annehmen, ihr könnt mich verklagen und das Parteibuch entnehmen‘.“ Die Sowjetregierung handelte kompromisslos: Die Ultimaten wurden so durchgeführt, dass man für Ungehorsam streng bestraft wurde. Nachdem sich der Kommissar im Bezirk Melitopol A. Woltjanskyj absichtlich in den Unterarm seiner linken Hand geschossen hatte, um nicht am Prozess der Getreidebeschlagnahme teilzunehmen, wurde er zu 10 Jahren Konzentrationslager verurteilt. Das waren keine Einzelfälle.
Zunächst versuchte sogar die oberste Parteileitung der Ukrainischen SSR, Stalin über die Unwirklichkeit der Getreidebeschaffung zu berichten. Er nannte jedoch Kossior, den damaligen Leiter der Ukrainischen SSR, ‚Weichei‘. Danach verstärkten sich die Unterdrückungen nur noch weiter. Die sowjetische Parteiführung wusste genau, was damals wirklich in der Ukraine geschah. Als Beweis dafür gelten die zahlreichen Berichte und Notizen über die reale Situation sowie die Zeugnisse über die Verstärkung der Maßnahmen zur Zerstörung der ukrainischen Bauernschaft.
Die Rote Übergangsfahne von Losiwska MTS, die der Kolchose „Nowe Schyttja“ (Das neue Leben) in der Region Charkiw für hervorragende Leistungen in der Saatkampagne verliehen wurde. Mai 1932.
Über den Holodomor ist schon lange alles bekannt
Im Jahre 1937 wurde in der UdSSR eine Volkszählung durchgeführt. Von Anfang an lief sie etwas anders als geplant: Sie fand an einem Tag statt. Und nachdem Stalin bereits die ersten Ergebnisse der Volkszählung erhalten hatte, befahl er, alles geheim zu halten. Sicherheitshalber wurden die Organisatoren der Volkszählung unterdrückt.
Die Union versuchte jede mögliche Erwähnungen, Dokumente, Schriften und Veröffentlichungen auf jede Weise zu verbergen, die den Tod von Millionen Menschen in der Ukraine bestätigen konnten. Dies wurde durch eine Propagandamaschine gefördert, die die Stimmen von Dutzenden von Journalisten sogar in den fernen USA und Großbritannien zum Schweigen bringen konnte. Unter mysteriösen Umständen verschwanden Geburts- und Sterberegister, die ausgestorbenen Dörfer wurden neu besiedelt und Menschen starben (wie beispielsweise Gareth Jones, der auf mysteriöse Weise auf seiner Reise in die Innere Mongolei starb).
Die Erinnerungen waren für lange Zeit das einzige Zeugnis derjenigen, die den Holodomor überlebten und in andere Länder fliehen konnten. In den 1980er Jahren sammelte James Mace die Erinnerungen von Hunderten von Augenzeugen des Holodomor für eine US-Sonderkommission. In der Zusammenschau konnten sie ein Gesamtbild hervorbringen und damit den subjektiven Faktor maximal nivellieren. Diese Erinnerungen bewiesen, dass der Holodomor ein Völkermord an der ukrainischen Nation war. Für die ForscherInnen bleiben jedoch noch viele Fragen offen und viele Dokumente und Archive geschlossen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fand sich ein großer Teil der Archivdokumente über die Repressivmaßnahmen der 1930er Jahre in Moskau. Dort gibt es unzählige Dokumente, Zeugnisse und höchstwahrscheinlich Informationen über die tatsächliche Anzahl von denen, die durch Hunger getötet wurden. All‘ diese Informationen sind notwendig, um das Verbrechen zu verstehen, das durch von Stalin geführten kommunistischen totalitären Regime in den Jahren 1932 und 1933 begangen wurde.
Opfer des Hungers. Charkiwschtschyna, 1933. Foto aus der Sammlung von Kardinal Theodor Innitzer (Das Archiv der Erzdiözese Wien). Foto: Ingenieur A. Wienerberger. Die Bilddokumente sind von A. Wienerbergers Großenkelin Samara Pearce freigegeben.
Der Holodomor ist kein Genozid
Artikel II der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes:
Völkermord oder Genozid bedeutet eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
(A) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(B) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
(C) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
(D) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
(E) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Die Politik der UdSSR, die auf dem Territorium der Ukraine geführt wurde, war genau auf die Ukrainer gezielt, da genau die Ukrainer die Basis der Bauernschaft bildeten. Keine andere Nationalgruppe erlitt solche Verluste. In keinem anderen Ort des Landes wurden solche Maßnahmen angewendet, außer dort wo eine hohe Dichte an Ukrainern gab. Die Zeugnisse dafür sind die Verordnungen der obersten Leitung der UdSSR, die Gesundheitsakten, die Sterberegister, die Zeugenaussagen über den Holodomor und hunderte andere Dokumente.
Am 28. November 2006 verabschiedete die Werchowna Rada (das Parlament) der Ukraine das Gesetz „Über den Holodomor von 1932–1933 in der Ukraine“, und stufte den Holodomor als Völkermord am ukrainischen Volk ein. Im Mai 2009 eröffnete die SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine — Üb.) das Verfahren „Über die Tatsache des Völkermords in den Jahren 1932–1933“.
Die Ermittlung bewies, dass die Leitung der UdSSR beabsichtigte, ein Teil des ukrainischen Volkes zu vernichten, was dringend ist, um den Völkermordcharakter des Verbrechens zu beweisen. Fazit: Man kann die Absicht aus den entsprechenden Fakten und Umständen ableiten.
Durch Gerichtsbeschluss des Berufungsgerichts der Stadt Kyjiw von 13. Januar 2010 wurde für erwiesen erachtet, dass der Holodomor 1932–1933 in der Ukraine:
– mit dem Ziel geplant wurde, die ukrainische Befreiungsbewegung zu unterdrücken und die Bildung des Ukrainischen Staates zu verhindern;
– durch gewaltsame Beschlagnahme aller Lebensmittel von den ukrainischen Bauern durchgeführt wurde, was denen den Zugang zum Essen verhinderte. Das heißt, künstliche Schaffung von Lebensbedingungen, die zu physischer Vernichtung des größten Bestandteils der ukrainischen Bevölkerung — die ukrainischen Bauernschaft — führte;
– als integraler Bestandteil der Sonderoperation gegen diese Nationalgruppe begangen wurde. Es war aber das ukrainische Volk (nicht die nationalen Minderheiten), das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts war, und nur das Volk konnte das in der Verfassung der UdSSR von 1924 verankerte Selbstbestimmungsrecht verwirklichen und zwar durch Austritt aus der UdSSR und Bildung des unabhängigen ukrainischen Staates;
– durch die oberste Parteileitung des kommunistischen Regimes organisiert wurde, unter denen sieben im Verfahren hervorgehobene Personen eine besonders wichtige und aktive Rolle bei der Durchführung des Verbrechens spielten.
Im Beschluss des Berufungsgerichts wurden sieben Haupttäter der Durchführung des Holodomors genannt:
„Durch Ermittlungsverfahren ist vollständig und umfassend festgestellt, dass Stalin (Dschugaschwili) I. W., Molotow (Skrjabin) W. M., Kaganowitsch L. M., Postyschew P. P., Kossior S. W., Tschubar W. J. und Chatajewitsch M. M. die Absicht verfolgten, den Teil der ukrainischen (und keiner anderen) Nationalgruppe zu vernichten, und es ist objektiv erwiesen, dass diese Absicht genau die ukrainische Nationalgruppe als solche betraf.“
Die besondere Aufmerksamkeit widmete das Gericht der Anordnung über die Rückwirkung des Gesetzes. In Anlehnung an Artikel 7 der Europäischen Konvention von 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und an Artikel 1 der UN-Konvention von 1968 über die Nichtanwendbarkeit der Verjährungsfrist auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellte das Gericht fest, dass „es keine gesetzlichen Verbote für die rückwirkende Anwendung des Teils 1 § 442 StGB der Ukraine gibt“. Diese Feststellung bezieht sich auf die Handlungen der Personen, die den Genozid 1932–1933 in der Ukraine begangen haben. Deshalb wurde der Holodomor als Verbrechen gegen Menschlichkeit und als Genozid des ukrainischen Volkes im rechtlichen Kontext auf Staatsebene in der Ukraine anerkannt.
Ein Opfer des Holodomors. Charkiw, 1933. Foto aus der Sammlung von Kardinal Theodor Innitzer (Das Archiv der Erzdiözese Wien). Foto: Ingenieur A. Wienerberger. Die Bilddokumente sind von A. Wienerbergers Großenkelin Samara Pearce freigegeben.
Zusammen mit der Ukraine haben 17 Länder den Holodomor als Völkermord anerkannt: Estland, Australien, Kanada, Ungarn, Vatikan, Litauen, Georgien, Polen, Peru, Paraguay, Ecuador, Kolumbien, Mexiko, Lettland, Portugal und USA.
„Das ist nicht einfach ein Fall von Massenmord. Es ist ein Fall von Genozid, der Vernichtung nicht nur von Individuen, sondern einer Kultur und einer Nation. Wenn es möglich wäre, dies ohne Leid zu tun, wären wir trotzdem gezwungen, es zu verdammen, wegen der Verbundenheit im Geiste, der Einheit der Ideen, der Sprache und der Gebräuche, die das formen, was wir eine Nation nennen, die eine der wichtigsten Träger von Zivilisation und Fortschritt darstellt“, so Raphael Lemkin im Artikel „Der sowjetische Genozid in der Ukraine“.