In der Nacht zum 26. April 1986 ertönten nacheinander zwei Explosionen. Der Unfall am Kernkraftwerk Tschornobyl ist eine vom Menschen verursachte technogene und ökologisch-humanitäre Katastrophe, die die Vorstellung von Atomkraft weltweit veränderte. Über das Ausmaß der Katastrophe und die Evakuierung aller Bewohner wurde erst am nächsten Tag bekannt. Zur gleichen Zeit wurden alle Menschen aus dem Gebiet, das heutzutage als „Sperrzone“ bezeichnet wird, zwangsevakuiert.
Unvollendete Aufgaben, abrupt unterbrochene Tätigkeiten, nicht fertig gekochtes Essen – genau so stellt man sich denjenigen Abend vor, als die Evakuierung begann. Die Einwohner der Städte Prypjat und Tschornobyl sowie der benachbarten Dörfer und Siedlungen sollten für eine kurze Zeit, maximal drei Tage – wie man ihnen damals mitteilte – wegfahren. Keiner von ihnen könnte sich das Ausmaß der Katastrophe vorstellen und niemand ahnte, dass sie ihre Häuser für immer verlassen mussten.
Als öffentlich bekannt wurde, wie stark das Gebiet durch Strahlung kontaminiert ist, hat sich das Leben vieler Anwohner für immer verändert. Eine Rückkehr war unvorstellbar, denn von überall hörte man, dass die Strahlung höchst lebensgefährlich sei. Für die meisten Evakuierten war die Angst vor dem Unsichtbaren größer, als der Drang zurückkehren, weswegen fast alle an ihren neuen Wohnorten blieben. Eine Ausnahme bildeten die Samosely (Selbstsiedler).
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Einige Familien aus den Dörfern Tscheremoshna und Nywetske kehrten als die Ersten am 21. Juni 1986 in die Sperrzone zurück. Nach Angaben der staatlichen Agentur der Ukraine für die Verwaltung der Sperrzone leben derzeit hier etwa 130 Menschen, von denen alle im hohen Alter sind. Die meisten von ihnen kehrten innerhalb eines Jahres nach dem Unfall nach Hause zurück: Die Heimweh ließ nicht nach. Sogar das Militär und das umzäunte Gebiet konnten es nicht verhindern. Einige sind überhaupt nicht weggefahren – sie versteckten sich in Schuppen oder im Keller und ignorierten jegliche Aufforderungen zur Evakuierung. Außerdem blieben diejenigen, die am Kernkraftwerk Tschornobyl und seinen Tochterunternehmen tätig waren, stillschweigend in der Sperrzone. Sie erhielten temporäre Ausweise, die jedes Jahr erneuert werden mussten.
Lina Kostenko, eine der Teilnehmerinnen der historischen und ethnographischen Expeditionen in die Sperrzone, ist der Meinung, dass die Personen, die sich in der Sperrzone niedergelassen haben, nicht als „Samosely“, sondern als Rückkehrer bezeichnet werden sollen, da sie nach Hause zurückgekehrt sind. „Ich möchte alle bitten, diese Personen nicht als „Samosely“ zu bezeichnen. Dies ist beleidigend, denn dort ist ihre Heimat. Sie sind dort aufgewachsen und leben nach dem Unfall in ihren Häusern weiter, auch wenn sie von Gott und Staat vergessen wurden.“
Die Bewohner der Dörfer in der Sperrzone bezeichnen sich auch als Samosely, allerdings nur scherzhaft, denn schließlich sind sie ja zu Hause.
Yewhen
Der in Tschornobyl lebende Yewhen Markewytsch war früher gegen diese Bezeichnung, aber im Laufe der Zeit hat er sich damit abgefunden:
„Nun, wir sind die Samosely. Ich werde auch so genannt. Diejenigen, die hier vor dem Unfall lebten, haben ihre Arbeit fortgesetzt und lebten in ihren Häusern weiter. Als der Unfall geschah, war ich noch nicht mal 49. Jetzt bin ich schon fast 80. Immerhin ist 30 Jahre eine lange Zeit. Es ist ein großer Teil des Lebens, bei manchen sogar das ganze Leben.“
Obwohl Yewhen in Kyjiw geboren wurde, zog seine Familie 1944 nach Tschornobyl, als in Kyjiw die Hungersnot ausbrach. Damals war er 7 Jahre alt. Das Gehalt der Mutter reichte nicht aus, weshalb beschlossen wurde, zu ihrer Schwester umzuziehen:
„Wir sind umgezogen, weil das Haus meinem Großvater gehörte. Es wurde 1915, im vorigen Jahrtausend gebaut und ist also schon über hundert Jahre alt. Das Haus musste viel ertragen – Revolutionen, Kriege: den Bürgerkrieg, den Vaterländischen Krieg. Hier sind viele Einschläge von Granaten zu sehen, sogar in der Tür gibt es noch Löcher von Splittern.“
Damals, als der kleine Yewhen nach Tschornobyl umzog, musste er mit seiner Familie dreimal den Weg aus Kyjiw zurücklegen: zu Fuß, mit einem Dampfer, mit Mitfahrgelegenheiten. Er sagt, sie nahmen sogar eine Ziege mit:
„Sie hat mich geschlagen. Hier war ein kleiner Zaun, die Ziege war enthornt, aber sehr rauflustig. Einmal hat sie mich… ich war sehr schlank, einmal hat sie mich in die Luft gestoßen und über den Zaun geworfen. Sie war wunderschön. Sie gab immer Milch, da konnte man sich nicht beschweren. Eine Glas Milch – und schon war man kerngesund!“
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Vor dem Unfall lebten in Tschornobyl etwa 14.000 Menschen und ca. 185.000 im Landkreis. Nach dem Bau des Atomkraftwerkes wurden in der Stadt zügig mehrstöckige Wohnhäuser errichtet, die schnell von Arbeitern und deren Familien besiedelt wurden. Zuerst wurden Arbeitsplätze geschaffen, später eine Asphaltstraße gebaut:
„Nur das Atomkraftwerk hätte hier nicht gebaut werden, es brachte nur Unglück. Das kannst du hier nicht so machen, das geht nicht. Man soll Polissja nicht mit solchem Abfall bebauen. Seit der Unabhängigkeit geht alles dorthin. Und vor allem fragt niemand die Wissenschaft, nach Empfehlungen und ob sowas überhaupt gebraucht wird.Es wird einfach ausgeführt. So wie damals, als Moskau alles diktierte. Ein Atomkraftwerk bauen? Kein Problem, wir bauen es! Schließlich wurde es auch gebaut.“
Einmal fuhr Yewhen in das Dorf Nahirka, um dort zu angeln. Dort wurde gerade der erste Block des Kernkraftwerks errichtet, aber Yewhen sagt, dass es „kein von Gott gesegneter sondern im Gegenteil, ein schlechter Ort war“. Damals lebte in Nahirka ein Greis, der sagte: „So wie ihr hierher gekommen seid, so werdet ihr auch weggehen“. Yewhen zuckt nur mit den Schultern, wenn er sich daran erinnert:
„Und so ist es auch passiert. Anscheinend wusste der Greis etwas, er hat es geschnallt.“
Yewhen war damals Schullehrer, und am Tag des Unfalls ist er mit seinen Schülern in das Dorf Kopatschi gefahren, um Kartoffeln zu sammeln. Die Flammen waren nicht zu sehen, man spürte jedoch den Rauch, aber niemand achtete darauf, denn am Kernkraftwerk brannte oft etwas: mal die Farbe, mal die Reifen.
Am gleichen Abend brachte Yewhen seinen 9-jährigen Sohn Dennis zum Fluss, um ihm das Paddeln beizubringen. Als sie nach Hause kamen, l fanden sie eine Notiz von der Ehefrau mit der Bitte, den Sohn dringend mit jemandem nach Kyjiw zu deren Nichte zu schicken, da überall Chaos herrscht und die Menschen irgendwohin evakuiert werden:
„Mir wurde klar, dass ich meinen Sohn nicht einfach mit irgend jemand wegschicken kann, um dann das ganze Leben nach ihm zu suchen. Ich konnte mich noch an den Krieg erinnern, und an die Leute, die immer noch nach ihren Kindern suchten. Ich wickelte den Jungen sehr gut ein und setzte ihn in den Beiwagen meines Motorrads. Ich brachte ihn nicht nach Kyjiw, sondern nach Butscha, einen Vorort von Kyjiw, zu meinem Freund, mit dem ich zusammen in der Armee war. Ich sagte ihm: ‚Tolik, bring Denis morgen zu Natascha, zu den Verwandten in Kyjiw, denn ich muss morgen früh wieder in der Schule sein‘. Das war am Sonntag.“
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Am Montagmorgen war Yewhen bereits in der Schule, als mitgeteilt wurde, dass der Reaktor abgebrannt ist. Nicht mal die Hälfte der Kinder kamen zum Unterricht. Die Einwohner von Tschornobyl sind noch am vorigen Tag massenweise weggefahren. Drei Tage lang arbeiteten die Männer am Kernkraftwerk, sie löschten die Flammen mit Sand.
„Ich bin angekommen, habe meinen Motorradbeiwagen fertig gemacht und mich dabei gefragt, wo ich jetzt leben und arbeiten werde. Es gab keinen Ort, wo ich hätte hinfahren können.“
Yewhen ist nach Borodyanka gefahren, wo sich das Evakuierungszentrum befand, aber kehrte ziemlich bald nach Hause zurück. Er sagt, er habe verstanden, dass es nicht für ein oder zwei Tage ist, sondern höchstwahrscheinlich für immer.
Die Rückkehr
Als Yewhen nach Tschernobyl zurückkehrte, waren überall Patrouillen. Er musste mehrmals tricksen, um nach Hause zu gelangen. Er hat immer noch die spezielle Hose, die er damals trug; darauf ist ein radioaktiver Strahlenfleck zu sehen, der bis heute nicht abgewaschen werden kann. Diese Kleidungsstücke sind in Papier eingewickelt und liegen in der Garage.
Im selben Jahr traf er Mykola Istomin, den Leiter der Staatlichen Behörde für den Betrieb von Kraftwerken und Stromnetzen, der ihn in Tschornobyl als Schlosser für die Reparatur von Prüf- und Messgeräten einstellte:
„Er wollte mich zum Meister machen, aber ich lehnte ab, da ich diese Geräte zum ersten Mal sah. Stellen sie mich doch als einen einfachen Schlosser an. Die Stelle ist mir egal, ich kann auch Straßenfeger sein, Hauptsache – in Tschornobyl. Das Verlangen, hierher zurückzukehren, war sehr groß.“
Er arbeitete 20 Jahre lang dort. Während seiner Arbeit wurde er in die Abteilung für nukleare Sicherheit in eine Zweigstelle des Kurchatow-Instituts und später sogar nach Moskau eingeladen, aber Yewhen blieb hartnäckig im Labor für Dosimetrie in Tschornobyl. Weitere 15 Jahre trug er ein Strahlungsmessgerät mit sich und suchte nach den am stärksten kontaminierten Plätzen.
Heute ist die Strahlung für ihn nicht mehr so gefährlich wie vor über 30 Jahren. Vor zwei Jahren, zum dreißigsten Jahrestag der Tschornobyl-Katastrophe, besuchten zahlreiche Journalisten die Samosely. Am eigenen Beispiel versuchte Yewhen diese zu überzeugen, dass man in der Sperrzone gut leben kann, er lebt ja selber schon so lange dort. Gemüse hat man aus dem eigenen Garten: Tomaten, Kartoffeln, Zwiebeln. Die eigenen Hühner brachten Eier.
„Haben wir überlebt? Natürlich haben wir überlebt! Wurde jemand krank? Nein, niemand! Ist jemand an Strahlung gestorben? Nein. Daraus sollte man entsprechende Schlussfolgerungen machen.“
Yewhen ist überzeugt, dass es kein Geheimnis für die Langlebigkeit gibt. Die Samosely leben stressfrei an der frischen Luft, essen ihre eigenen Erzeugnisse aus dem Garten und beziehen Rente. Das einzige Problem ist nur, wenn man vergißt, das Haus zu heizen.
„Wenn ich nicht sofort zurückgekommen wäre, wäre ich schon längst tot. Ich möchte nur in Tschornobyl leben, nirgendwo anders. Ich bin der Meinung, dass ich die Zeit im hohen Alter sehr gut verbringe. Keiner stört mich, keiner will etwas von mir, niemand geht mir auf den Geist.“
Hanna
Hanna Zavorotna ist 84 Jahre alt. Heute leben 18 Menschen in ihrem Dorf Kupatowe. Anfangs waren es über 30 Rückkehrer. Vor der Katastrophe lebten hier etwa eintausend Einwohner. Hanna verlässt sehr selten das Dorf, eine Verkehrsverbindung gibt es nicht.
Nach dem Unfall blieb Anna fast sechs Tage lang im Dorf, niemand erzählte ihr von der Explosion und der Strahlung. Sie arbeitete damals in einer Kolchose am Land, als der Gemeindevorsteher kam und über die Evakuierung mitteilte. Hanna erzählt darüber mit gelassener Stimme. Sie sagt, dass es sehr chaotisch war und es ihr schwerfiel, alles einfach liegen zu lassen:
„Der leitende Agronom sagte, dass wir die Sachen packen sollen. Er sagte zu mir, dass alle in meinem Haushalt Invaliden sind: ‚Der Ehemann ist behindert, die Schwiegermutter ist behindert, die Mutter kann nur mit Stock gehen. Wir sollten schnell unsere Sachen packen!‘.“
Nach dem Unfall wurde ihre Familie in das Dorf Kopyliw im Bezirk Makariw gebracht, wo sie den Sommer verbrachten. Sie arbeiteten dort in der Kolchose. Dann zogen sie in das benachbarte Dorf Gruzke, wo ihnen ein Haus bereitgestellt wurde. Anna klagt, dass sie das Notwendigste bekamen, aber das Haus keinen Ofen hatte. Als sie dort einen Winter verbrachten, beschlossen sie zurückzukehren:
„Damals kehrten etwa 30 Personen zurück. Viele ließen sich im Dorf Tomashiwka nieder, ich glaube, es war im Bezirk Fastiw. Alle sind bereits gestorben, nur drei Leute leben noch, aber alle Anderen liegen schon auf dem Friedhof. Und diejenigen, die im Dorf Gruzke geblieben sind, alle nutzen jetzt Gehstock. Aber wir sind wohl von Gott gesegnet, da wir zu Hause sind.“
Die Rückkehr
Im Garten gibt es Kartoffeln, Karotten, Rüben, Kohl, Knoblauch. Mais wird nicht gepflanzt, weil Wildschweine es aufessen. Hanna hat kein Vieh, lediglich sechs Hühner. Nach dem Tod ihres Mannes, der Traktorfahrer war, arbeitet sie im Garten alleine.
Einmal in der Woche kommt ins Dorf Kupowate ein Verkaufswagen mit Lebensmitteln. Dieser gehört einer Familie, die in die Sperrzone aus der Stadt Ladyzhyn nahe Winnyzja umgezogen ist.
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An religiösen und weltlichen Feiertagen, wie Geburtstag, Namenstag oder Beerdigung, kommt das ganze Dorf zusammen. Aber nun ist es eher selten, daß alle Dorfbewohner sich zusammentreffen:
„Wir treffen uns, wir treffen uns. Wieviele sind es noch hier? Sieben Seelen, oder nur fünf. Aber der eine will nicht kommen, die andere ist krank, der dritte kann nur humpeln… Man soll zumindest die Gräber sauber halten.“
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Früher wurden im Dorf traditionelle Lieder gesungen. Bis vor Kurzem war es noch Brauch, zu Ostern einander zu besuchen und zu Weihnachten zusammen zu singen. Hanna singt über ihr Leid:
Die Pferde liefen schnell, über Feld und über den Hain.
Bei der Witwe wollten die Soldaten eine Nacht geblieben sein;
Oh, du, Witwe, Witwe, gib den Pferden Futter!
Kann ich nicht, Soldaten, ich bin nicht mehr munter,
Schon seit achtzehn Jahren bin ich hier allein.
Hanna achtete nicht auf radioaktive Strahlung. Für sie war es wichtiger, nach Hause zurückzukehren:
„Strahlung gab es 1933, als ich geboren wurde. Zwei Kinder wurden geboren, aber es gab nichts zu essen, das war eben die Strahlung. Jetzt sehe ich sie nicht. Und sollte es sie geben, so habe ich keine Zähne mehr, ich kann sie nicht beißen.“
Sie erzählt, dass sie oft von ihren Freunden und Bekannten aus der ganzen Ukraine besucht wird. Sie dankt ihnen dafür und bittet, öfters zu kommen, da solche Besuche für sie inspirierend seien.
Erst einige Jahre nach Erhalt der Unabhängigkeit gewährte die Ukraine den Rückkehrern einen offiziellen Status und bezeichnete die Einheimischen der Sperrzone, die nach der Tschornobyl-Katastrophe in ihre Häuser zurückgekehrt waren, als Samosely. Noch in den 1990er Jahren wurden die Gas- und Stromleitung wiederhergestellt und seitdem werden Lebensmittel- und Haushaltswaren geliefert.
Die Katastrophe von 1986 ist weltweit die erste solcher Art. Das Phänomen der Samosely (Selbstsiedler) ist einzigartig, ebenso wie die Tatsache, dass so viele Menschen auf wundersame Weise seit so vielen Jahren in der Nähe des Epizentrums der Strahlung leben. Deshalb wurden über die Bewohner dieser Gebiete viele Filme gedreht und zahlreiche Bücher geschrieben, sowohl ukrainische als auch ausländische. Sie selbst sind froh, wieder zu Hause zu sein. Man sagt nämlich, vier eigene Wände machen einen Menschen frei.
Wie wir gefilmt haben
unterstützt durch
Diese Geschichte wurde dank der Unterstützung von der Botschaft der Ukraine in Österreich ins Deutsche übersetzt und publiziert.