Oksana Lyniv ist eine der bekanntesten Dirigentinnen auf Weltklasseniveau, eine Kulturbotschafterin der Ukraine, die mit den führenden Musikbühnen der Welt zusammenarbeitet. Sie leitet einige Orchester im Ausland, und in der Ukraine gründete sie das Kulturfestival für klassische Musik LvivMozArt sowie das Jugendsinfonieorchester der Ukraine. Dank ihr erscheinen im Repertoire europäischer Orchester immer öfter Werke von bekannten ukrainischen Komponisten. Von Ljatoschynskij bis Sylwestrow. 2021 wird Oksana Lyniv zur ersten weiblichen Dirigentin in den 145 Jahren Geschichte der Bayreuther Festspiele — des renommiertesten Opernfestivals der Welt.
Frauen am Dirigentenpult von großen Sinfonieorchestern sind immer noch selten in Europa, denn bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die klassische Musik tatsächlich ein Privileg für Männer. Die Ukrainerin Oksana Lyniv wohnt zurzeit in Deutschland und treibt ihre Karriere als Dirigentin in Zusammenarbeit mit den besten Orchestern der Welt erfolgreich voran. 2017 wurde Oksana zur Chefdirigentin der Oper Graz und des Grazer Philharmonischen Orchesters gewählt, wodurch sie zur ersten Frau in der Stadtgeschichte in dieser Position wurde. Als Star der internationalen Klassikszene realisiert Oksana große Kunstprojekte und ist eine bekannte Botschafterin der ukrainischen Kultur in der Welt.
Foto aus dem Archiv des Festivals LvivMozArt
Mozart hat in Lwiw gelebt
Oksana Lyniv ist vor Kurzem umgezogen und ist gerade dabei, ihr neues Zuhause einzurichten: Sie packt Bücher, CDs, Alben, Spiele und Figuren aus den Kisten aus. Düsseldorf ist bereits die achte Stadt, in der die Dirigentin leben wird. Die Besonderheiten des Berufs sind die vielen Umzüge und Reisen. Oksana sagt, sie sei an den schnellen Takt ihres Lebens gewohnt, der ihr neue Impulse an Kreativität gibt:
„Du musst ständig bereit sein, dem eigenen Kunstideal zu folgen — wie unter einem Schicksalsstern. Du kannst nie planen, wo du in drei bis fünf Jahren sein wirst. Immer mischt sich das Schicksal ein, gibt dir ein einzigartiges Zeichen und du musst es enträtseln und annehmen.“
Die Verträge mit Ensembles wechseln ständig, so wie die Landschaften hinter dem Fenster, doch überall nimmt Oksana die wichtigsten Dinge mit. Die meisten davon haben in irgendeiner Weise einen Bezug zu Mozart. Die Lebens- und Schaffensgeschichte des österreichischen Komponisten ist eine anhaltende Leidenschaft von Oksana.
„Mozart hat in meinem Leben eine besondere Rolle gespielt und ich bin in der Tat wegen Mozart nach Deutschland gegangen. Ich begriff, dass es eine besondere Kunst, ein besonderer Komponist war. Er hatte einen wirkmächtigen Einfluss auf die weitere Entwicklung der gesamten klassischen Musik aller nachfolgenden Jahrhunderte. Mozart ist auch die bessere Brücke zwischen der Ukraine und den musikalischen Traditionen des westlichen Europas.“
Foto aus dem Archiv des Festivals LvivMozArt
Alles begann mit einem Buch über Mozarts Vorfahren, in dem die Familiendynastie bis zur fünften Generation vor Wolfgang Amadeus Mozart erforscht wurde. Aus diesem Buch erfuhr Oksana, dass sein jüngster Sohn eine gewisse Zeit lang in Lwiw (damals Lemberg — Red.) lebte. Dreißig Jahre lang (1808–1838) gestaltete Franz Xaver Wolfgang Mozart die musikalische Landschaft der Stadt als Pianist, Komponist und Dirigent des Lemberger Stadttheaters mit. Aber nicht nur die Musik hatte Mozart in der Stadt aufgehalten. Er verliebte sich in die Gräfin Josephine Baroni von Cavalcabò, deren Kinder er Musik unterrichtete. Franz Xaver Wolfgang Mozart gründete in Lwiw die Chorgemeinschaft St. Cäcilia, welche den Anfang des professionellen Musiklebens in der Stadt anstieß.
„Die Philharmonie von Lwiw, die Gründung der Musikhochschule (heute die Musikakademie), des Konservatoriums — all‘ das ist auf das Wirken von Franz Xaver Mozart zurückzuführen.“
Bei dem Konzert im Jahre 1826, in Gedenken an Wolfgang Amadeus Mozart, führte der Komponist das berühmte Requiem seines Vaters in der griechisch-katholischen St. Georgs-Kathedrale auf. Noch am selben Abend trat auch der Chor der neugegründeten Gesellschaft St. Cäcilia auf. Mozarts Sohn erhoffte sich nach seiner Europatour Weltruhm, damit wollte er die Gräfin beeindrucken und ihr offiziell den Heiratsantrag stellen.
Oksana zitiert Briefe aus dem Reisetagebuch von Franz Xaver Wolfgang Mozart. Einen davon adressierte der Musiker an seinen Freund. Darin schreibt er, dass man die Rückadresse nicht eingeben muss, sondern nur den Namen schreiben soll. Denn jeder Einwohner von Lwiw wisse, wo Mozart lebt.
Solche biografischen Fakten waren der breiten Masse nicht bekannt, nur einigen Musikforschern.
„Ich habe einfach gedacht, ob heutzutage jeder Einwohner von Lwiw weiß, dass in Lwiw tatsächlich ein Mozart lebte?“
Foto aus dem Archiv des Festivals LvivMozArt
Aktuell ist Oksana die Herausgeberin eines Bandes, der unter anderem eine Briefsammlung von Franz Xaver Mozart und sein Tagebuch in ukrainischer Übersetzung beinhalten wird. Die Hälfte seiner Briefe, die in deutscher Sprache gefunden werden konnten, wurden aus Galizien gesendet.
Inspiriert von der künstlerischen Tätigkeit des Sohnes von Wolfgang Amadeus Mozart, gründete die Dirigentin das internationale Festival der klassischen Musik LvivMozArt, dass die besten Musiker der Ukraine und der Welt vereint, um neue musikalische Formate und Traditionen zu schaffen. Die Aufführung von unbekannten Werken Franz Xaver Mozarts wurde zu einer der Kernaufgaben des Festivals. Außer den unerforschten Manuskripten aus den Lemberger Archiven wurden für das Programm auch seltene Partituren (Notenschrift eines vielstimmigen Werkes für die Aufführung in einem Ensemble, Orchester oder Chor — Red.) und Klavierauszüge (Übersetzungen einer Oper- oder Sinfoniepartitur für Gesang mit Klavierbegleitung oder zur Wiedergabe auf dem Klavier — Red.) aus Österreich eingesetzt, die bis dahin von Wissenschaftlern aufbewahrt wurden.
Seit 2017 ertönt beim LvivMozArt neben den klassischen Werken auch moderne akademische Musik, es finden experimentelle Performances und Ausstellungen an einem der interessantesten Standorte, der Lem-Station, im Raum eines ehemaligen Tramdepots aus dem Ende des 19. Jahrhunderts statt. Auf den Straßen gibt es zudem Mitmachprogramme und Meisterkurse für Kinder und Erwachsene.
Neben der Popularisierung der Werke von Franz Xaver Mozart möchte Oksana ukrainische Künstler unterstützen, ihre Kunst fördern und auch die ukrainische Kultur dem Westen präsentieren.
„Erstens, der Welt über die Ukraine erzählen, zweitens, über die geschichtliche Verbindung der Ukraine mit der großen europäischen Kulturtradition. Aber auch, dass zusammen mit bekannten Kompositionen weltberühmter klassischer Musiker die Werke berühmter ukrainischer Komponisten ertönen. Bei jedem Festival LvivMozArt entdecken wir neue Namen, und ich bin sehr glücklich darüber, dass ukrainische Komponisten ihre Werke eigens dafür komponieren.“
Oksana. Beginn der musikalischen Karriere
Oksana Lyniv ist in der Stadt Brody in Galizien geboren und in einer Musikerfamilie aufgewachsen. Oksanas Mutter hat Klavier an einer Musikschule unterrichtet und ihr Vater hat den Sängerchor „Bojan“ in Brody gegründet und leitet diesen als Dirigent. Ihr Großvater war auch ein Dirigent.
„Ich gehöre schon zur dritten Generation von Dirigenten in unserer Familie. Und für mich gab es nie die Frage der Berufswahl, wir hatten schöne Kunsttraditionen in der Familie. Seit der frühen Kindheit war ich Teil des Familienensembles, das von meinem Vater gegründet wurde. Wir alle haben irgendwelche Musikinstrumente gespielt, ukrainische Lieder gesungen und wir haben an vielen ukrainischen Festivals teilgenommen.“
Klavier ist das erste Instrument, das Oksana beherrschte. Nach der Musikschule hat sie eine Musikausbildung in Drohobytsch und später in Lwiw absolviert, wo sie auch das Spielen der Flöte gelernt hat. Die Abschlussprüfung beim Dirigieren des studentischen Volksorchesters setzte Zeichen: Einige Zuhörer wandten sich zu Oksana und fragten sie, ob sie nicht schon mal über den Beruf Dirigentin nachgedacht hatte.
„Damals klang für mich diese Frage irgendwie witzig oder sogar absurd, da ich nie eine Frau als Dirigentin hinter einem Pult gesehen hatte und ich sicher war, dass Frauen in diese Abteilung des Konservatoriums nicht zugelassen werden.“
Dennoch beschließt Oksana ihre Kräfte zu messen und tritt der Musikakademie in Lwiw im Fach „Opern- und Sinfoniedirigieren“ bei. Die Klasse wurde von Bogdan Daschak geleitet, dem Chefdirigenten der Lemberger Oper. Von ihrem ersten Lehrer erlernte Oksana die Techniken und den Stil, und wurde später zu seiner Assistentin. Allmählich wurde das Dirigieren zur professionellen Leidenschaft.
„Ich habe realisiert, dass es ein Beruf ist, dem man sein ganzes Leben widmen muss. Wenn du wirklich erfolgreich werden willst, wird sich dieser Erfolg nicht nur auf die Tätigkeit in einem Land begrenzen, man muss wirklich die besten Bühnen der ganzen Welt erobern. Und damit begann in der Tat die große Reise meines Lebens, die bis heute andauert.“
Während des Studiums und bei den ersten Schritten und Erfahrungen als Dirigentin bei Konzerten ist Oksana auf eine Anzeige über den Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb in Bamberg aufmerksam geworden. Ungeachtet dessen, dass sie bis dahin niemals Sinfonien von Mahler live gehört hatte, beginnt Oksana selbständig mit der Vorbereitung auf den Wettbewerb. Für die Teilnahme musste Sie die Werke Mahlers mit einem Orchester dirigieren und aufnehmen — es gelang ihr, ein Ensemble zu finden und ein Video aufzunehmen. Von 400 Bewerbern schaffte es Oksana Lyniv bis ins Finale.
In Bamberg trat Oksana gegen erfahrene Absolventen europäischer Konservatorien an und erreichte den dritten Platz als einzige weibliche Finalistin. Trotz des Erfolgs beim Wettbewerb schienen gute Karriereperspektiven in der Ukraine für die Dirigentin unerreichbar zu sein. Das meiste wurde über Beziehungen geklärt und faire Wettbewerbe mit offener Abstimmung gab es kaum.
„In der Ukraine waren die Umstände in der klassischen Musik damals, Anfang der 2000er Jahre, sehr korrupt.“
So half die Jury des Wettbewerbs in Bamberg Oksana ein Stipendium sowie ein sechsmonatiges Praktikum vom DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst — Red.) zu bekommen. Die Arbeitserfahrung mit einem der besten deutschen Orchester gab der Dirigentin die Möglichkeit, einen Studienplatz an der Hochschule für Musik Dresden zu bekommen. Dort lernte Oksana aktiv die deutsche Sprache und nahm am Unterricht von bekannten Dirigenten auf Weltklasseniveau teil.
„Wenn ich kein Basiswissen in der Ukraine bekommen hätte, würde ich es nicht zu dem Erfolg bringen, den ich jetzt habe. In Deutschland konnte ich tatsächlich meine Kenntnisse verfeinern.“
Doch ukrainischen Musikhochschulen fehlt es immer noch an moderner Fachliteratur, unter anderem an aktuellen englisch- und deutschsprachigen Ausgaben, findet Oksana. Neben veralteter Literatur ist es ein verbreitetes Problem, dass handgeschriebene Notenschriften ukrainischer klassischer Musiker immer noch nicht strukturiert und herausgegeben wurden. Es gibt oft nicht einmal ein Register der Schriften oder Informationen darüber, wo genau die Originalpartituren und Manuskripte aufbewahrt werden.
„In den letzten 50 Jahren ist in der Aufführungspraxis Europas und der Welt eine große Revolution passiert und wirklich sehr wichtige Forschungen bei der historischen Aufführungspraxis.“
Durch die Verwendung der Ergebnisse von genau diesen wissenschaftlichen Fortschritten können die Studierenden den Interpretationsstil des Jahrhunderts erlernen, zu dem der Komponist gehörte. Früher wurden Mozart, Bach und andere bekannte Komponisten nach Notenausgaben gespielt, die vor 50–100 Jahren bearbeitet und herausgegeben wurden. Deswegen seien der Zugang zu den neuesten Fachbeiträgen und die Arbeit mit Originalpartituren enorm wichtige Aspekte in der musikalischen Ausbildung, behauptet Oksana.
Kulturbotschafterin
Nach dem Studium in Dresden war Lyniv Dirigentin des Nationalen Akademischen Theaters von Odessa. Später zog sie nach München, wo sie als Assistentin von Kirill Petrenko arbeitete — des Generalmusikdirektors der Bayerischen Staatsoper. Dort hatte Oksana ihr Debüt als Operndirigentin und plante ihre Auftritte. Später unterzeichnete sie einen Vertrag mit der Oper Graz — der zweitwichtigsten nach der Wiener Staatsoper.
Für Oksana stellen der Erfolg und die Weltkarriere eine große Verantwortung dar. In erster Linie gegenüber ihrer Heimat, denn sie sieht in der Popularisierung und der Unterstützung ukrainischer Musik ihre Aufgabe. Die Dirigentin wurde mit der Tatsache konfrontiert, dass Europäer wenig über die Musik ukrainischer Komponisten wissen, wie etwa die von Bortnjanskyj, Sylwestrow, Beresowskyj, Wedel. In deutschsprachiger Musikliteratur fehlt sogar die Erwähnung von Mykola Leontowytsch, während sein Weihnachtslied „Schtschedryk“ (Carol of the Bells — engl.) auf der ganzen Welt in verschiedensten Arrangements gespielt wird. Doch Oksana bemüht sich, die Situation zu ändern. Als Dirigentin hat sie die Möglichkeit, das Repertoire zu erweitern, und schließt deswegen häufig Werke von ukrainischen Komponisten im Repertoire der Orchester weltweit ein. Bei ihrem Debüt in Düsseldorf fügte Oksana zum Konzertprogramm beispielsweise eine Suite aus der Oper „Der Goldene Ring“ von Borys Ljatoschynskyj hinzu, die vor hundert Jahren komponiert wurde. Dank ihren Bemühungen lernt man so im Ausland einen besonderen ukrainischen Komponisten kennen.
Die Oper „Goldener Ring“
Eine Oper von Borys Ljatoschynskyj (auch bekannt als „Goldener Kranz“, „Sachar Berkut“ und „Berkuty“) zum Libretto von Jakiw Mamontiw nach der Novelle „Sachar Berkut“ von Iwan Franko.„Borys Ljatoschynskyj hat den ‚Goldenen Ring‘ nach einem Klassiker der ukrainischen Literatur komponiert, und Iwan Franko hat ‚Sachar Berkut‘ nach Motiven von Legenden über die Freiheitskämpfe der Einwohner eines ukrainischen Ortes gegen die mongolische Horde geschrieben. Und diese Musik, diese Themen sind nach wie vor sehr aktuell und lassen sich modern interpretieren.“
Tonhalle Düsseldorf — Konzerthaus in Düsseldorf, in dem Oksana Lyniv dirigiert
Oksana gründete mehrere Musikinitiativen in der Ukraine, die vom Ukrainischen Kulturfond unterstützt wurden. Unter anderem ein großes Kunstprojekt „Die Arche Ukraine: Musik“, dessen Online-Premiere am 24. Oktober 2020 stattfand. Die Kernidee des Projektes ist es, das ukrainische Altertum und moderne klassische Werke zu verbinden. Der Name ist nicht zufällig gewählt, denn das Projekt symbolisiert eine echte musikalische Arche und deren Berufung ist es, das ukrainische Erbe zu erhalten und an die nächsten Generationen weiterzugeben. An der Umsetzung dieser Idee haben sich ca. 200 Teilnehmer aus der ganzen Ukraine beteiligt: die Bands „DakhaBrakha“, „Kurbasy“, der Männerchor „Dudaryk“, Kyjiwer Mykola-Lysenko-Frauenchor, Serhij Zhadan, die Sängerin Dominika Tschekun aus Polissja mit einzigartigem Gesangsstil. Unter den Teilnehmern sind auch die Schüler von Oksana: das Jugendsinfonieorchester der Ukraine.
Diashow
Jugendsinfonieorchester der Ukraine
Das 2016 gegründete Jugendsinfonieorchester der Ukraine (YsOU) ist zu einer einflussreichen Entwicklungsplattform für junge Musiker geworden und hat internationale Anerkennung bei Festivals erhalten.
„Damals, während meines Studiums in Deutschland, hatte ich die Möglichkeit, mit solchen deutschen Jugendorchestern zu arbeiten. Es gibt viele davon in Deutschland, jede Region hat ihr eigenes Orchester. Es war mein Traum, etwas ähnliches in der Ukraine zu erschaffen. Und so gab es 2017 beim Festival LvivMozArt unser Debüt, und dann beim Beethovenfest in Bonn, bei Konzerten in Kyjiw und Berlin.“
Die Liebe zur klassischen Musik und zum eigenen Instrument über Alles zu setzten, — das sind die wichtigsten Anforderungen an die Teilnehmer. Wenn diese Liebe echt ist, stehen die Chancen, sich vor der Kommission gut zu präsentieren und Teil des Orchesters zu werden, ziemlich gut.
„Durch erfolgreiche Bewerbung und Auswahlverfahren können Kinder aus allen Regionen der Ukraine Mitglieder des Orchesters werden. Und wir sind sehr stolz darauf, dass über 25 Groß- und Kleinstädte sowie Dörfer in unserem Orchester vertreten sind.“
Ein großer Erfolg für das Orchester war die Einladung zum größten Festival von Jugendorchestern Young Euro Classic in Berlin. Damals war das ukrainische Orchester erst ein Jahr alt, und auf der Bühne des Konzerthauses Berlin treten üblicherweise prestigeträchtige Ensembles mit großer Geschichte auf. Doch Oksana konnte die Festivalleitung überzeugen, der Teilnahme ihres Orchesters zuzustimmen.
Konzerthaus Berlin
Ein im 19. Jhd. für das Berliner Theater errichtetes Konzerthaus. Heute ist es die Heimbühne des gleichnamigen Orchesters (bis 2006 Berliner Sinfonie-Orchester).Oksana erinnert sich, was für eine Herausforderung dieser Auftritt war und wie jeder Teilnehmer von den Emotionen überwältigt wurde:
„Das sind Kinder, die nur für einige Wochen aus allen Ecken der Ukraine zusammengekommen sind, und sie alle sind unterschiedlichen Alters — von 14 bis 22 Jahre, älter ist niemand. Und sie sitzen tatsächlich zum ersten Mal zusammen in einem Ensemble auf einer so prestigeträchtigen Bühne und müssen bei vollem Saal in Berlin, im Herzen Deutschlands eine Sinfonie eines deutschen Autors spielen und sich einen Namen machen.“
Das Konzert des jungen Orchesters endete mit einem Triumph: Der überfüllte Saal des Konzerthauses Berlin applaudierte stehend.
Wassyl Wyschywanyj
Eines der Projekte, an dem Oksana als musikalische Leiterin beteiligt ist, ist „Wyschywanyj. König der Ukraine“ — eine Oper über das Mitglied der österreichisch-ungarischen königlichen Familie Wilhelm von Habsburg.
„Das ist ein sehr ambitioniertes Projekt, initiiert und gesponsert durch den österreichischen Honorarkonsul in der Ukraine, das in der Oper von Charkiw realisiert werden soll. Es ist einem herausragenden Politiker gewidmet, der aus der Habsburger-Dynastie stammt — Wilhelm von Habsburg, der sich sehr für die Ukraine begeistert hat und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Wien gekommen ist, um den Freiheitskampf der Ukraine zu führen. Er mochte es sehr, Wyschywankas zu tragen (Wyschywanka ist eine traditionelle ukrainische Volkstracht — Üb.), und bekam deshalb diesen Spitznamen.“
Man fing an, über Wilhelm von Habsburg in der Ukraine und im Ausland zu sprechen, nachdem das Buch „Der Rote Prinz. Das geheime Leben des habsburgischen Erzherzogs“ des amerikanischen Historikers Timothy Snyder veröffentlicht wurde. Die Begeisterung für die Ukraine entstand noch in der Kindheit, denn der Erzherzog wuchs in Westgalizien auf (heute ein Gebiet in Polen), reiste durch die Karpaten. Später, während seiner Ausbildung an der österreichischen Militärakademie, lernte er die ukrainische Sprache, las Franko, Schewtschenko, Stefanyk, Fedkowytsch und Hruschewskyj. Bald entwickelte sich das Interesse von der Kultur hin zur Beteiligung am politischen Leben der Ukrainer in Österreich-Ungarn: Im Ersten Weltkrieg führte Wilhelm ein Heer, in dem Ukrainer dienten, überwiegend aus dem Bezirk Solotschiw (heute Galizien). Einer der Soldaten schenkte ihm eine Wyschywanka, die Wilhelm von da an auch in der Öffentlichkeit trug, wofür er den Spitznamen Wassyl Wyschywanyj bekam. 1918 kam Wilhelm an die Spitze der Legion der Sitscher Schützen (militärische Einheit der Armee der Ukrainischen Volksrepublik — Üb.). Nach einigen Jahren aktiver Tätigkeit in der Ukraine ging er in den Ruhestand und emigrierte nach Wien, wo er aktiv am Leben der ukrainischen Diaspora teilnahm, bis er nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 von der sowjetischen Besatzungsregierung der Spionage für den Westen beschuldigt wurde. Wilhelm wurde zu 25 Jahren Haft in sowjetischen Lagern verurteilt, doch er starb zuvor an Tuberkulose in einem Gefängniskrankenhaus und wurde 1989 posthum rehabilitiert.
Die Aufführung „Wyschywanyj. König der Ukraine“ wird 100 Jahre alte Revolutionsereignisse widerspiegeln, als Wilhelm von Habsburg zusammen mit Ukrainern für die Unabhängigkeit kämpfte. Die Idee, die Persönlichkeit von Wassyl Wyschywanyj den Ukrainern bekannt zu machen, haben auch andere Künstler unterstützt: Die Musikautorin wurde die bekannte ukrainische Komponistin Alla Sahajkewytsch, der Autor des Librettos — Serhij Zhadan, der Regisseur — Rostyslaw Derzhypilskyj. Die Hauptrolle der Oper wird vom Schauspieler Wjatscheslaw Dowzschenko gespielt, der für seine Rolle im ukrainischen Film „Cyborgs“ vom ukrainischen Präsidenten ausgezeichnet wurde. Eine solche Initiative gehört zu dem Wichtigsten in den Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit, meint Oksana.
Die Dirigentin kann sich selbst ohne eine Wyschywanka nicht vorstellen — weder auf der Bühne, noch im Privatleben. Bunte, vielfältige, altertümliche und moderne aus allen Regionen — in Oksanas Sammlung gibt es ca. 30 Wyschywankas, und in Lwiw gibt es noch drei Truhen davon.
„Ich trage Wyschywankas an jedem Ort: in Wien, in Paris, und es sieht immer einzigartig aus. Sie wurden zwar von einfachen Leuten gemacht, aber es ist nicht verwunderlich, dass die ganze Welt eine echte Begeisterung für diese Sachen zeigt. Ich habe so viele Wyschywankas, dass ich sie gern und sehr oft trage.“
Foto: Serhij Horobez, privates Projekt „Shape“
Das Dasein als Dirigentin
Musik begleitet Oksana bei allem. In ihrer Wohnung in der Lohengrinstraße, benannt nach einer Oper Richard Wagners, hängt das Plakat eines unvergesslichen Konzerts. Sie erinnert sich, dass sie damals ihr Debüt mit den Düsseldorfer Symphonikern hatte:
„Dieses Konzert hatte eine besondere Bedeutung für mich, da bei dem Orchester auch ein Ukrainer gearbeitet hatte — Andrij Mursa aus Odessa spielte bei den ersten Geigen. Und so kam es, dass wir uns kennenlernten. Und jetzt ist er meine Liebe. Deswegen ist hier sein Autogramm, als Andenken daran, dass wir uns in Düsseldorf kennengelernt haben, und zwar dank der ukrainischen Sinfoniemusik.“
Oksanas Partituren haben unzählige Markierungen. Sie betreffen die Aufführungspraxis, den Stil, die Zäsuren (kurze Pausen zwischen den Musikphrasen oder den Abschnitten eines Werks — Red.), den Klang, das Tempo. Lyniv strebt ein vielseitiges Repertoire an und freut sich über Entdeckungen. Die Orchester, mit denen Oksana arbeitet, wissen bereits von ihrem guten Geschmack.
„Ich bin glücklich darüber, dass jetzt mein Name bereits eng mit der Ukraine verbunden wird und dass, wenn ich Einladungen von verschiedenen Orchestern erhalte, mir häufig angeboten wird, das Programm selbst zu gestalten.“
Die größte Kunst eines Dirigenten ist, Oksanas Auffassung nach, die Interpretation. Oft wählt sie Werken, die sie früher bereits aufgeführt hat, und schaut abgearbeitete Partituren durch. Einerseits kann man auf diese Weise die bisherige Erfahrung in Erinnerung bringen, andererseits unerkannte Subtexte verstehen und neue Bedeutungen erkennen.
„Eine Partitur ist das Manuskript meiner Gedanken. Denn Musik ist eigentlich nicht das, was in den Noten steht. Musik ist das, was hinter den Noten steht.“
Um die gespielten Komponisten tiefer zu verstehen und zu spüren, was sie dazu bewegt hat, ein konkretes Werk zu komponieren, studiert Oksana Biographien. Man könnte meinen, geschichtliche Nachforschungen sind für eine Musikerin fakultativ, doch solche Forschungen beeinflussen immer ihr Dirigat. Sie sagt, klassische Werke zu spielen, bedeute Zeitgenosse des Komponisten zu werden und mithilfe der Musik sich dem Ewigen anzuschließen:
„Wenn Sie momentan die Musik von Bach hören, trifft die Sie dermaßen emotional, Sie erleben so eine Katharsis, dass sie in diesem Moment physisch, emotional und geistig konkret auf Sie einwirkt. Durch bestimmte Werke, durch den Klang, durch jene Formeln sind diese genialen Leute keine leblosen Portraits in Museen, sondern sind tatsächlich unter uns.“
Foto: Serhij Horobez, privates Projekt „Shape“
Die Kunst eines Dirigenten besteht nicht nur darin, die Vergangenheit zu erforschen und den originalen Klang des Werkes zu finden, sondern auch darin, ihn mit Aufführungsort und -zeit zu verbinden. In solchen Momenten wird der Dirigent zum Begleiter des Komponisten, zu seiner „Stimme“.
„Als Dirigent ist man verantwortlich für die Qualität der Aufführung der Musik und des Werkes eines Komponisten und das bedeutet, dass man den Inhalt dessen, was er der Menschheit mitteilen wollte und der Ewigkeit hinterlassen hat, weitergibt.“
Doch die wichtigste Herausforderung eines Dirigenten sei es, die Interaktion zwischen den Musikern und dem Auditorium zu fördern, findet Oksana. Während des Dirigierens versucht sie in erster Linie, Synergien zwischen Publikum und Orchester zu finden:
„Ein voller Saal, die Ruhe, vor dir sind Hundert Musiker in einem Orchester, manchmal auch auf der Bühne, falls es im Opernhaus ist, und alle halten inne. Von deiner Intensität, deinem Wirken überträgt es sich von den Händen bis zu den Musikern. Man regt sie an — sie reagieren. Das alles wird zu solch einem Klang, einer Klangvibration, welche den Saal erfüllt und mit ihrer Aura die Hörer überwältigt. Die größte Magie und auch Schwierigkeit im Beruf eines Dirigenten besteht aber darin, dass man selbst inmitten dieses Kosmos steht, ohne selbst irgendeinen Ton dabei zu erzeugen.“
unterstützt durch
Das deutsch-ukrainische Projekt wird gefördert im gemeinsamen Programm „Culture for changes“ der Ukrainischen Kulturstiftung und des Förderprogramms „MEET UP! Deutsch-Ukrainische Jugendbegegnungen“ der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ). Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.