Die Gemeinschaft Emmaus-Oselya (Oselya bedeutet auf ukrainisch Zuhause — Üb.) ist eine der ersten Organisationen in der Ukraine, die angefangen hat, mit Obdachlosen zu arbeiten. Seit 2001 helfen die Ehrenamtlichen denen, die in Not geraten sind. Heute stehen ihnen ein soziales Wohnheim, eine Möbelrestauration-Werkstatt, eine Werkschaft der guten Taten und ein Wohltätigkeitsladen, in dem die gebrauchten Waren verkauft werden, zur Verfügung. Die Gemeinschaft bietet den Obdachlosen nicht nur Schutz, sondern wird zugleich ihr neues Zuhause und ihre Familie, die ihnen hilft, die sozialen Kontakte und Kompetenzen zu erneuern.
Die Gründerin der Gemeinschaft, Olesja Sanozka, nahm sich die Organisation der internationalen Emmaus-Bewegung zum Vorbild. Diese unterstützte die Gründung eines Zentrums in Lwiw und half, das erste Gebäude zu kaufen. Am 12. Juni 2003 zog der erste Bewohner in das Haus der Gemeinschaft ein, und 2010 trat Oselya der Emmaus-Bewegung bei. Die Tochter der Gründerin Chrystyna Kornijenko und ihre Schwester Natalja Sanozka setzen das Werk von Olesja fort, die die Ehrenauszeichnung der Stadt Lwiw bekommen hat — leider posthum.
Oselya. Olesja
Olesja Sanozka, Malerin von Beruf, beschloss zusammen mit Roman Protschko, das Projekt zu realisieren, mit dem Ziel den Menschen zu helfen, die in eine Notsituation geraten sind. Schließlich gelang es, das Haus in der Stadt Wynnyky zu kaufen, erzählt Chrystyna, die Tochter von Olesja.
„Ich weiß, dass meine Mama ihr ganzes Leben geglaubt hatte, dass jeder Mensch eine zweite Chance hat, vielleicht auch eine dritte, eine vierte. Es passierte sehr oft, dass die Menschen, die aus diesem oder jenem Grund die Gemeinschaft verlassen haben, zu uns nach Hause kamen. Aber sie wollten zurückkommen und nochmal die Resozialisierung beginnen, nochmal probieren, eine Chance zu bekommen. Es gab keine Menschen, den sie abgesagt hätte.“
Die erste Veranstaltung, die für Arme und Obdachlose organisierte wurde, war ein Mittagessen am Heiligabend. Dadurch wollten die Ehrenamtlichen in Erfahrung bringen, wie viele Menschen in Lwiw Hilfe brauchen und welchen Problemen sie begegnen.
Es kamen dreimal mehr Menschen, als wir erwartet hatten. Es stellte sich heraus, dass es viel mehr von denen gab, die Hilfe brauchten, und ihre Probleme waren ganz anders, als die Ehrenamtlichen vorausgesehen hatten. Abgesehen von den Grundbedürfnissen an Nahrung, Hygiene und Kleidung wollten diese Menschen die Einsamkeit loswerden. Die Tradition von festlichen Mittagessen ist in der Gemeinschaft bis heute geblieben, weil sie eine Möglichkeit ist, befreundet zu sein.
„Wir kamen zusammen und halfen zu organisieren. Jeden Heiligabend und jedes Weihnachten organisieren wir einen großen Tisch für mehr als fünfhundert Menschen, und alle Bedürftige hierherkommen, und wir singen zusammen, feiern zusammen.“
In der Regel helfen die Glaubensgemeinschaften den Bedürftigen. Täglich geben die Hilfszentren bei den Kirchen Essen für die Armen, und an den großen Festen versammeln sie sich unter einem Dach. Die Hilfsgemeinschaft Emmaus-Oselya hilft den Menschen ohne religiösen Hintergrund.
Im Hans-Kofoed-Zentrum, einem Tageszentrum für Obdachlose, kann man sich duschen, Wäsche waschen, Haare schneiden lassen, saubere Kleidung holen und essen. Das Zentrum bietet aber keine Übernachtung. Solche Initiativen gibt es in der Ukraine kaum: Um die Möglichkeit, sich zu duschen und Wäsche zu waschen, geht es gar nicht. Meistens verteilen die Ehrenamtlichen Essen, Kleidung und Medikamente. In Lwiw verteilen die Ehrenamtlichen der Emmaus-Oselya das Essen einmal in der Woche neben dem Pulverturm, erzählt Chrystyna.
„Uns wird geholfen, und wir helfen den anderen — so ist es gerecht. Solidarität ist es dann, wenn ich zum Beispiel das Essen für die Obdachlosen beim Pulverturm verteile und mit ihnen zusammen esse. Nicht weil ich hungrig bin, aber damit wir zusammen sind. Mir ist es wichtiger, was sie fühlen, aber nicht wie ich mich fühle. Wenn sie zu mir kommen und für das Essen bedanken, dann bedanke ich mich dafür, dass es sie gibt. Verstehen Sie, das sind Beziehungen. Oselya, das sind Beziehungen.“
Die internationale Emmaus-Bewegung unterstützt Oselya, denn die Werte und Ideen sind sehr ähnlich. Aber sie verbreiten sich nicht im großen Maßstab über die Ukraine, — solche Initiativen bleiben meistens lokal.
Viele KünstlerInnen fingen an, über Oselya zu erzählen. Unter denen auch Robin Alysha Clemens aus den Niederlanden, die neulich eine Fotoausstellung „Oselyata“ in Zusammenarbeit mit der ukrainisch-niederländischen Schriftstellerin Lisa Weeda organisiert hat. Da werden die BewohnerInnen der Oselya in einem anderen Licht gezeigt: Sie werden nicht versteckt, man bewundert sie sogar. Hier sind die Bilder:
Diashow
Der Laden
Eine der Richtungen des sozialen Unternehmertums der Oselya ist der Wohltätigkeitsladen. Dorthin kann man Sachen spenden und bekommen das, was man braucht. In Lwiw stehen die Sammelcontainer für Altkleider und Haushaltsgegenstände. Der größte Teil wird den Obdachlosen gegeben, und der Rest wird im Laden verkauft. Durch die Basis der Erlöse funktioniert die gesamte Gemeinschaft.
Im Laden arbeiten auch die BewohnerInnen der Oselya zusammen mit SozialarbeiterInnen und Ehrenamtlichen. Sie haben die Möglichkeit, sich zu sozialisieren, ihre Kommunikationsfähigkeiten, die wegen des Lebens auf der Straße meistens verloren werden, zurück zu bekommen und mit dem Geldverdienen zu beginnen.
„Wir haben hier alles. Alles, was die Leute geben, wird hier im Laden verkauft. Hier haben wir eine Männerabteilung. Es gibt eine Schuhabteilung, wir haben auch Möbel. Es gibt auch Spielzeug, Taschen. Eine gute Kinderabteilung: Hier gibt es Waren sowohl für Jungs als auch für Mädchen. Es gibt Jäckchen und Sakkos. Wir haben auch Bettwäsche.“
Die Möbel im Laden sind auch gebraucht wie fast alle andere Sachen, die verkauft werden. Die BewohnerInnen der Oselya reparieren selbst, renovieren die alten Sofas und Sessel und verdienen dadurch ihren Lohn. Genau dort arbeitete Saschko Horondi, Gründer der Marke Horondi, vor der Gründung seines eigenen Unternehmens.
Lest unser Material über Saschko Horondi „Rucksäcke als Therapie“. Schaut auch die Geschichte auf Youtube:
Die Ehrenamtlichen der Gemeinschaft helfen auch Familien mit niedrigen Einkommen und großen Familien, alleinerziehenden Müttern, Veteranen der Antiterroristischen Operation (ATO, Operationen gegen die militärische Aggression der Russischen Föderation in den Gebieten Donezk und Luhansk — Üb.) und ihrer Familien. 2018 baten achtzig Familien um Hilfe.
Im sozialen Wohnheim der Hilfsgemeinschaft Emmaus-Oselya gibt es noch eine Werkschaft der guten Taten, in der man viele unterschiedliche Kulturveranstaltungen besuchen kann. Zum Beispiel hielt hier die Dichterin Halyna Wdowytschenko literarische Abende. Die Ehrenamtlichen schlagen meistens vor, irgendeinen Meisterkurs, Filmabend oder thematischen Abend zu organisieren.
„Wir realisieren hier aber nicht so sehr Dinge, sondern wir realisieren unsere Emotionen. Viele Menschen kommen hierher, um einfach die Zeit zu verbringen, einfach zu sitzen. Sehr viele Mütter kommen zu uns, weil wir eine ganze Kinderabteilung haben, und um sich von Kindern ein bisschen zu erholen. Um einen leckeren Kaffee von Frau Ljuba zu trinken, um ein Buch zu lesen. Um einfach die Zeit schön zu verbringen. So haben wir sozusagen nicht nur einen Laden, sondern einen Ort der guten Emotionen.“
Wjatscheslaw
Wjatscheslaw Moskaljow kam vor fünfzehn Jahren zu Oselya, als er seine Wohnung verlor. Sein Freund, der ihm half, sie zu verkaufen, verschwand zusammen mit dem Geld. Zuerst lebte Wjatscheslaw bei der Nachbarin.
„Sie hat mir dann von Oselya erzählt, was das ist. Über die Menschen, die Möbel restaurieren und dort im Haus in Wynnyky leben. Und es gab eine Telefonnummer. Die Nachbarin rief an. Dort war Schimpfen, aggressives Verhalten und Alkoholkonsum verboten. Genau das, was mir passt. Das ist das, was ich, ein gut erzogener Mensch, versuche, nicht zu machen. So kam ich zu Oselya. So war es. Im Jahr 2004.“
Bevor man zum Bewohner oder zur Bewohnerin der Oselya wird, muss man eine Probezeit bestehen. Innerhalb eines Monats beobachten die Ehrenamtlichen und andere BewohnerInnen der Oselya die Person, damit sie verstehen können, ob sie tatsächlich ihr Leben verändern will und kann. Es ist verboten, Alkohol zu trinken und Drogen zu nehmen, zu schimpfen und Konfliktsituationen zu provozieren. Wenn man von der Person ein Alkoholgeruch riecht oder sie betrunken sieht, dann wird die Probezeit verlängert. Am Ende des Monats gibt es eine Abstimmung.
Diese Voraussetzungen sind für jeden verpflichtend. Die Person muss zeigen, dass sie für Veränderungen bereit ist, dass sie arbeiten kann, dass sie allein fürs Leben verdienen kann und dass sie selbständig Entscheidungen treffen kann. Nur danach wird ihr ein Platz im sozialen Wohnheim zugewiesen und ein Job angeboten. Natalja Sanozka, die Schwester von Olesja Sanozka, der Gründerin der Emmaus-Oselya, sagt:
„Wenn sie mehr physische Kraft haben, dann arbeiten sie mehr, machen viel schwerere Arbeit, ja. Und wer keine schwere Arbeit machen kann, der sortiert Schuhe oder macht noch etwas anderes. Das heißt, jeder findet hier die Arbeit entsprechend der eigenen Kräfte, ja, aber so einfach gar nicht arbeiten, wie man hier sagt — schwänzen — das darf man hier nicht. Weil die Gemeinschaft dies nicht dulden wird, ja, weil Arbeit für Oselya sehr wichtig ist. Weil in Oselya der Mensch durch die Arbeit wieder zu Kräften kommt.“
Natalja sagt, dass die Arbeit dem Menschen ein Gefühl der Würde gibt. Der Mensch versteht: Man kann das Geld verdienen, ohne zu betteln. Die BewohnerInnen der Oselya helfen auch denen, die noch ärmer sind, so ermutigen sie die Menschen, ihr eigenes Leben zu verändern.
Wjatscheslaw ist diesen Weg gegangen. Es gelang ihm nicht ohne weiteres, aber es brachte Erfolg. Nach zwei Jahren hatte er beschlossen mit seiner Geliebten zu leben und in fünf weiteren Jahren kam er nach Oselya zurück. Das ist sozusagen sein zweites Zuhause.
„Oselya, das ist so ein…Das ist wie ein Schiff, wissen Sie, wie man in einem Lied singt? ‚Mein Segel wird weiß, so einsam vor dem Hintergrund der großen Schiffe.‘ In unserer kleinen Welt ist es tatsächlich eine Gemeinschaft von Menschen, die helfen, zusammen in schwieriger Zeit zu überleben. So wie das ist.“
Über Hilfe und gegenseitige Unterstützung in Oselya sprechen sowohl die BewohnerInnen als auch die SozialarbeiterInnen und die Ehrenamtlichen. Natalja sagt, dass jeder die Abhängigkeit vom anderen Bewohner spürt, aber auch ein Bedürfnis nach ihm. Die Band der Beziehungen verbindet sich unter allen.
„Ich sage Ihnen, dass es mir scheint, als dass generell die Menschen, die in die Gemeinschaft kamen und hier sogar für den Monat dieser Probezeit waren — sie sind schon anders geworden. Ja, sie konnten es da nicht schaffen, weil es tatsächlich, also, tatsächlich muss man sich viel Mühe geben, um etwas im eigenen Leben zu verändern. Und manchmal, ja, schaffte der Mensch das nicht, scheiterte, wurde betrunken und so weiter. Aber auch das sind Menschen, in deren Seelen schon ein Korn von Oselya irgendwo hingefallen ist, und ich glaube, dass es noch immer irgendwann keimt.“
Emmaus-Oselya ist ein echtes Zuhause für alle, die hier hingezogen sind, und die Gemeinschaft heißt die neuen BewohnerInnen herzlich willkommen, damit man zusammenarbeitet, sich erholt und den anderen hilft.