Hamburg. Ein Chor, der Menschen verbindet

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Der deutsche Softwareentwickler und Gründer des ukrainischen katholischen Kirchenchors Martin Dietze und die ukrainische Philologin Natalija Kostjak leben schon fast 10 Jahren im Norden Deutschlands, in Hamburg. Das Ehepaar gründete den Deutsch-Ukrainischen Kulturverein e.V. und führt literarische Veranstaltungen mit ukrainischen Schriftstellern, Ausstellungen und Kunsthandwerk-Workshops durch. Auf diese Weise fördern sie den kulturellen Austausch zwischen den Ländern.

Was kann Interesse eines modernen Deutschen an der ukrainischen Kultur erwecken? Bereits als Teilnehmer an der Sommerschule der ukrainischen katholischen Universität in Lwiw begann der Hamburger Softwareentwickler Martin Dietze Ukrainisch zu lernen. Während seines Studiums lernte er viele interessante Menschen kennen und war nach seiner Rückkehr sehr motiviert, weiter Ukrainisch zu erlernen: Er suchte gezielt nach einem Kreis, wo er die Sprache mehr hören und üben konnte. Bevor Martin in die Ukraine gefahren ist, begann er im orthodoxen Kirchenchor zu singen und gründete später selbst den Chor bei der ukrainischen Kirche in seiner Heimatstadt Hamburg.

Die Philologin und Ukrainistin Natalija Kostjak lebte in Lublin, wo sie mit einer Dissertation in der Philologie promovierte und gerade ihren Umzug nach Prag plante.

In Prag trafen sich Martin und Natalia zum ersten Mal, obwohl sie schon lange online kommunizierten. Sie wurden durch ihre gemeinsame Freundin, — ukrainische Juristin Sofija Kernytschna bekannt, die gerade in Hamburg ihr Praktikum machte und mit Martin befreundet war. Zuerst haben sich Martin und Natalija auf Englisch unterhalten, aber bald konnten sie sich schon auch auf Ukrainisch verständigen. Zudem half Natalijas Lehrerfahrung ihrem Mann, die Sprache noch besser zu beherrschen:

„Wenn man eine Person aus einem anderen Land verstehen will, muss man ihre Muttersprache kennen. Die Sprache ist eine Quelle der Seele und der Denkweise eines Menschen.“

Natalija. Advent und Pasky zum Ostern

Galizianerin Natalija Kostjak stammt aus Ternopil, und ihre Verwandten — aus Lemkiwschtschyna. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie ins Gebiet der Sowjetunion umgesiedelt. Mit der deutschsprachigen Kultur verband Natalija nur die Herkunft ihres Großvaters, der im Jahr 1900 in der damaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie geboren wurde.

Lemkiwschtschyna
Das Gebiet des modernen Polens, der Slowakei und der Transkarpatien, das von der ukrainischen ethnischen Gemeinschaft Lemky bewohnt wird.

„Nach Österreich hatte ich immer eine Sehnsucht, weil ich doch das Gefühl habe, dass es meine historische Heimat ist, dass wir einst ein Staat waren. Und Deutschland war für mich fremd, ich habe da ein paar Veranstaltungen besucht und habe jedoch nie geplant, dorthin umzuziehen.“

Da Natalia bereits die Lebenserfahrung im Ausland hatte, glaubte sie, dass es ihr genauso leicht sein wird, sich in Deutschland anzupassen. Der Unterschied zwischen Kultur und Mentalität war jedoch stärker im Westen zu spüren, als in Osteuropa:

„Ich glaube, dass ich mich sehr leicht an alles anpassen kann. In Polen und Tschechien gab es denselben Kulturkreis wie in der Ukraine. Hier in Deutschland ist es schon anders: Hier muss man lernen, aufpassen, beobachten. Manchmal verstehe ich die Logik der Deutschen nicht.“

Allerdings kam Natalija mit der Familie Dietze schnell klar, denn der Vater von Martin stammt aus dem Südosten Deutschlands, wo die Kultur von Sorben verbreitet ist, die slawische Wurzel haben. Martin erklärt, dass die geografische Entlegenheit Unterschiede in der Weltanschauung verschiedener ethnischer Gemeinschaften verursacht. Insbesondere sind die Menschen in Süddeutschland direkter und das macht sie den Ukrainern ähnlich.

Sorben [Serboluschytschany]
Eine ethnische Gemeinschaft, die im Südosten Deutschlands lebt und slawische Wurzel hat.

„In Süddeutschland ist die Kultur konservativer. Wenn man da etwas Falsches macht, wird einem ganz deutlich darüber gesagt. Im Norden ist das ganz anders. Bei uns heißt es ‚den Ball flach halten‘.“ (Der Ausdruck bedeutet die Absicht, kein unnötiges Risiko einzugehen, sich zurückhaltend und vernünftig zu verhalten, die Situation realistisch einzuschätzen — Red.).

Natalija und Martin schätzen sowohl deutsche als auch ukrainische Traditionen. An Ostern oder Weihnachten fahren sie nicht in die Ukraine, weil sie immer Feierlichkeiten in der Kirche mit dem Chor organisieren, also muss Martin an Ort und Stelle sein. Jedes Jahr backt das Ehepaar traditionell zu Ostern Pasky und am 6. Januar stellen sie den Weihnachtsbaum auf. Alle Feiertage begeht das Ehepaar meistens in zwei Familienkreisen:

„Zweimal können wir mit der gleichen emotionalen Stimmung nicht feiern. Dementsprechend feiern wir die Feste nach dem gregorianischen Kalender mit Martins Eltern auf ihrem Territorium. Und die ukrainische Feste feiern wir in unserem Haus privat.“

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Einige katholische Bräuche haben Natalija besonders gefallen, beispielsweise Advent — eine Vorbereitungszeit vor Weihnachten, die vier Wochen dauert. An jedem Sonntag wird an einem Kranz aus Tannenzweigen eine Kerze angezündet, bis am 24. Dezember alle vier Kerzen brennen. Eine andere Tradition, die die einheimischen Kinder über alles lieben, ist der Adventskalender. Ab dem ersten Dezember öffnen die Kinder jeden Tag ein Fensterchen im Kalender und finden dort kleine Geschenke oder Süßigkeiten.

Zu Hause haben Martin und Natalija ein eigenes Zimmer, in dem alles an die Ukrainische Kultur erinnert: ausgestickte Tücher, Ikonen, Bücher, Pysanky [kunstvoll beschriebene Ostereier], Familienfotos, Natalias Gemälde, sowie die der ukrainischen Künstler. Natalija ist überzeugt: Wo auch immer man wohnt, kann man um sich herum eine Atmosphäre der Heimat schaffen:

„Für mich ist dieses Zimmer ein Symbol, dass die ukrainische Kultur überall sein kann. Wir bringen allerorten unser Kulturgepäck mit. In diesem Haus ist wirklich das Territorium der Ukraine.“

Natalija interessiert sich für unterschiedliche Volkskunstarten. Sie stickt selbst Tücher, Hemden, malt Pysanky. Ihre Hochzeits-Tücher stickte Natalija selbst. Für Martin war es grundsätzlich, in der ukrainischen Wyschywanka [das bestickte Hemd der Nationaltracht] zu ehelichen.

„Wir haben in der ukrainischen Kirche hier in Hamburg geheiratet. Und Martin wollte auch wirklich alles im ukrainischen Stil ausstatten. Er sagte, dass er keine Krawatte, sondern ein besticktes Hemd zur Hochzeit tragen wollte.“

Besonders begeistert ist Natalia für die traditionelle der Ostereier-Malerei „Pysankarstwo“. Als Kind lernte sie mit ihrer Schwester Halja, Pysanky (Ostereier) zu malen: Damals verwendeten die Mädchen die für die lemkiwer Tradition charakteristische Technik. Von Martins Vater erfuhr Natalija, dass die Sorben eine ähnliche Technik der Malerei verwendeten. So wurden Pysanky für das Ehepaar zu einer gemeinsamen Tradition und einem Schutzamulett.

Martin. Der ukrainische Kirchenchor

Martin sang und spielte schon von früher Jugend in verschiedenen Musikgruppen. 2010 fand er eine ukrainische Kirche in Hamburg und schlug vor, dort einen echten Kirchenchor zu gründen und wurde zu seinem Leiter. Der Deutsche erinnert sich an seine ersten Dirigiererfahrungen im Chor:

„Ich kam zu meinem Gesangslehrer und sagte ihm: ‚Weißt du was, ich bin jetzt ein Chorleiter. Aber ich weiß nicht, was ich mit meinen Händen machen soll‘. Er sagte, er werde mir alles klar zeigen. Die erste Hälfte jedes unseres Unterrichts dirigierten wir, und zweite Hälfte – sangen. So habe ich unseren ersten Gesang, einen ‚Cherubimgesang‘ vorbereitet.“

Martins IT-Erfahrung ist immer nützlich, wenn er die Begleitmusik für einen Choral komponieren muss. Martin bereitet das Arrangement selbst vor: er verwandelt den Text in die Partitur mit einem Notensatzprogramm LilyPond.

„Ich kann wirklich die Musik programmieren. Es gibt eine Programmiersprache, mit der ich alle meine Noten und Texte schreibe. Und dieses Programm verwandelt die Noten in Soundfiles.“

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Derzeit singen im Chor zeitweise von 12 bis 16 Mitglieder. Die Anzahl ändert sich ständig, weil nicht jeder Beteiligte solche Möglichkeit hat, regelmäßig an Proben und Gottesdiensten teilzunehmen. Die jungen Sänger widmen ihre Zeit den Familien oder ziehen in andere Städte um, und die ältere Generation muss sich ab und zu erholen. Darüber hinaus wurde es aufgrund der weltweiten Coronavirus-Pandemie schwierig, den Ereignisablauf vorhersehen und Pläne zu machen, so Martin:

„Schon vor der Pandemie hatten wir die Einsicht, dass wir die neuen Mitglieder finden müssen. Wenn wir immer das Gleiche singen, wird es den Leuten langweilig. Es muss einen Fortschritt geben. Und das ist mir natürlich auch wichtig.“

Die Pandemie hat die gewohnte Lebensweise und die Fortentwicklung des Chors empfindlich gebremst. Diesjährige Osterfeier unterschied sich wesentlich von der traditionellen: es gab keine gewöhnliche Liturgie und man musste schließlich den Osterdienst Online anschauen.

„Ich hatte viel zu tun, während es bei mir buk und alles roch, organisierte er den ganzen Ostergesang. Dann fiel diese Arbeit weg und er sehnte sich sehr danach.“

Zusammen mit dem Chor stand Martin während der ukrainischen Revolution der Würde nicht fern. Damals habe die ganze ukrainische Gemeinschaft den Ereignisablauf auf Maidan verfolgt, erinnert sich Natalia.

„Als dort real Menschen erschossen werden, und ich da einfach nur saß und nicht wusste, was ich tun sollte, erinnerte ich mich an etwas, was ich im Internet gesehen hatte: Marjana Sadowska hat in Köln in der Kirche etwas organisiert. Und sagte zu Martin, dass wir hier auch etwas veranstalten mussten, weil es Wahnsinn ist. Man sitzt einfach da und kann auf nichts einwirken.“

Zu hause verfolgten sie die Ereignisse online und als immer mehrere Menschen getötet wurden, wandte sich das Ehepaar an die Hauptkirche St. Petri in Hamburg, um einen Gottesdienst für die Toten zu organisieren.

„Das war ein sehr schönes Gebet. Meiner Meinung nach war das vielleicht das Beste, was wir in demjenigen Moment gemacht haben. Es kamen sowohl Deutsche als auch Ukrainer, die verschiedenen Konfessionen angehörten, nicht nur griechische Katholiken, sondern auch Orthodoxe und andere, sogar Atheisten. Die Menschen sagten, dass sie eine Katharsis erlebt hatten.“

Martin erinnert sich an diese Zeit mit blutendem Herzen:

„Ich habe in der Arbeit geweint, weil ich dort die ganze Zeit diesen Online-Stream gesehen habe. Die Sendung wurde Live übertragen, und niemand hat kontrolliert, was dort gezeigt wurde. Man arbeitete und sah auf dem Bildschirm, dass die Menschen starben. Es war ein Schock für mich.“

Kulturdiplomatie und Stereotypen

Derzeit leben in Deutschland etwa 138 tausend Ukrainer. Laut Natalija existieren zugleich auch solche Organisationen, wie die Ukrainische Pfadfinderorganisation „Plast“, die Vereinigung der ukrainischen Jugend, Dachverband der ukrainischen Organisationen in Deutschland und noch eine Reihe von lokalen Gemeinschaften.

„Es gibt einige ukrainische Gemeinschaften, und jede hat sich ihr eigenes Betätigungsfeld gewählt, deshalb haben wir keine große Mannschaft, sondern viele kleine und geschlossene, die miteinander zusammenarbeiten. Eine Mannschaft schickt Hilfelieferungen, die freiwilligen Helfer kümmern sich beispielsweise um die Verletzten, die hier behandelt wurden. Wir finden bestimmte Anknüpfungspunkte und helfen den Menschen.“

Im Jahr 2015 gründeten Natalija und Martin die Deutsch-Ukrainische Kulturgemeinschaft mit dem Ziel, den kulturellen Austausch zwischen den beiden Ländern zu vertiefen und das ukrainische Kulturerbe zu präsentieren. Natalija führt regelmäßig Workshops in Ostereier-Malerei, in Herstellung von Motanky [Ethno-Volkspuppen aus Stoff] und in Nähen von Wyschywankas. Sie trifft sich mit Ukrainerinnen aus der Region, um zusammen zu singen oder ukrainische Speisen zu kochen.

„Das Singen ist auch unsere Tradition. Unsere Mira Frankewych hat sich verpflichtet, die Gesangsstunden der populären ukrainischen Lieder zu organisieren, die zu Hause oder auf Hochzeiten gesungen werden. Mira ist selbst Mitglied in Plast [‚Plast‘ – ukrainische Pfadfinderorganisation]. Sie stammt aus München und kennt diese Lieder seit ihrer Kindheit. Zu den Treffen kamen meistens nur die Mädchen. Nach dem Arbeitstag haben wir uns versammelt, Tee und Kaffee getrunken. Wir sangen und unterhielten uns. Wir haben auch Pysanky gemalt und Motanky-Puppen herstellt. Darüber hinaus haben wir auch untereinander verschiedene Kochrezepte ausgetauscht.“

Natalia merkt an, dass nicht nur die ukrainische Diaspora an solchen Betätigungen interessiert ist:

„Wir haben Workshops an verschiedenen Orten veranstaltet, und in der Regel kamen zu uns unsere deutschen Bekannte und sogar Menschen anderer Nationalitäten – Freunde, Freundinenn, die etwas neues lernen oder ausprobieren wollen.“

Der Kirchenchor wurde auch zum Bindeglied zwischen den Kulturen. Wie sich herausstellte, gefallen Koljadky [Weihnachtslieder] der ukrainischen Komponisten wie Kyrylo Stezenko und Mykola Leontowytsch nicht nur Martin, sondern auch vielen Deutschen. Und wenn der Chor die Möglichkeit hat, in der deutschen Kirche aufzutreten, schließen sich auch die Deutschen der Aufführung ukrainischer Koljadky an. Martin:

„Ich mag die ukrainischen Koljadky sehr, besonders die Bearbeitungen von Komponisten wie Stezenko. Damals hatten wir den Verein gegründet. Wir hatten eine Idee — mit den Deutschen zusammen diese Weihnachtslieder zu singen, wie ein kleiner Chor mit vier Stimmen. Als wir das zum ersten Mal gemacht haben, kamen viele Deutsche, die im Chor der russischen Kirche sangen, und sie waren sehr aufgeschlossen. Das war für sie sehr interessant. Letztes Jahr haben wir das zum dritten Mal gemacht. Da war es noch interessanter, weil es die Möglichkeit gab, mit anderen Chören in einer großen Kirche aufzutreten. Wir versammelten uns mit den Deutschen und mit den Ukrainern. Dort waren die Sänger unseres Chors und andere deutsche Sänger anwesend. Dann haben wir ein kleines Programm vorbereitet: Es war uns besonders wichtig, ‚Schtschedryk‘ zu singen. Es ist das berühmteste ukrainische Weihnachtslied und die Leute in Deutschland wissen nicht, dass es ein ukrainisches Lied ist.“

Das Ukrainische Konsulat in Hamburg unterstützt aktiv die kulturellen Veranstaltungen, die Martin und Natalia zusammen mit der ukrainischen Community organisieren. So war es auch mit Natalias Initiative, eine Ausstellung von Kunstwerken des verwundeten Marinesoldaten Wadym Nikolajew im Dezember 2019 zu veranstalten. Der Mann kommt aus Wolnowacha (Osten der Ukraine) und wurde damals in Deutschland behandelt:

„Wir haben eine sehr schöne Ausstellung gemacht. Damals war in Hamburg ein Bandura-Spieler [Bandura – ukrainisches Folk-Saiteninstrumen] aus Lwiw Roman Antonjuk. Als er hörte, dass es eine solche Ausstellung geben wird, sagte er: ‚Ich möchte da gern auftreten‘. Es wurde für uns zu einem Feiertag und wir haben viele positive Emotionen bekommen.“

Nach der Revolution der Würde begann man über die Ukraine in ganz Europa zu sprechen. Laut soziologischen Umfragen von 2015 verbanden mehr als die Hälfte der Deutschen die Ukraine vor allem mit dem Krieg, weiter mit Russland und dann schon mit den Klytschko-Brüdern und dem Armut. Leider bleibt das Kulturerbe der Ukraine im Schatten. Beispielsweise wird Dmytro Bortnjanskyj in Deutschland als russischer statt ukrainischer Komponist wahrgenommen. Deshalb bemühen sich Natalija und Martin, das positive Image des Landes zu unterstützen und zu zeigen, woran es Europas Interesse erwecken kann. Dabei achten sie auf das Kulturgut und die Traditionen der Ukraine.

„Es ist ein Teil der kulturellen Diplomatie, weil wir dort der deutschen Bevölkerung das wahre Gesicht der Ukraine zeigen können, das nicht politisch ist. Nicht das, was man in den Nachrichten sieht, sondern ihre echte Kultur.“

Stereotypen bezüglich der Ukraine und ihrer Vergangenheit sind in Köpfen von Deutschen überraschend stark verwurzelt.

„Martins und meine Eltern sind fast gleichaltrig. Wir sind eine Generation, und wir vergleichen immer zwei Geschichten: Wie das Leben hinter dem Eisernen Vorhang aussah und wie sieht jetzt das Leben in einer freien Welt aus. Am Beispiel alltäglicher Sachen.“

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Russland zu ihrem Synonym in der Welt. Andere Nationalitäten und Staaten wurden mehr oder weniger überhaupt nicht als unabhängige souveräne Subjekte wahrgenommen. Viele Deutsche wussten laut Natalija gar nicht, dass es in der Ukraine eine eigene Sprache gibt:

„Eines Tages brachte Martin zur Probe (in der Meisterklasse) die Partituren mit den ukrainischen Texten in lateinischer Umschrift. Als sie dann den ukrainischen Text sahen, sahen die Deutschen, dass das eine ganz andere Sprache als russisch war. Es passiert sehr oft, und es ist notwendig, den Menschen das zu erklären.“

Dank der Revolution der Würde ist die Ukraine im europäischen und im ganzen Weltinformationsraum erschienen. Über Ukrainer haben die Leute angefangen, als über die unabhängige Nation zu sprechen, die europäische Werte mitteilt, aber noch fremden Nachbarn nicht vertraut ist. Und hier sei laut Martin gerade die aufklärende Kulturarbeit ein gewichtiger Hebel des Wandels:

„Es ist sehr wichtig, den Deutschen ein bisschen mehr der echten Ukraine zu zeigen: wie die Leute dort leben, wie ihre Denkweise und ihre Traditionen sind.“

Neben Workshops organisieren Natalija und Martin literarische Abende. Der erste literarische Abend in Hamburg war ein Treffen mit der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko.

„Sie unterstützte uns sehr. Sie sah, dass wir einen Traum hatten und etwas schaffen wollten. Zuerst hatte ich Angst – eine solche Persönlichkeit, eine derartige Intellektuelle, aber am Ende haben wir sehr viele schöne Dinge mit ihr erlebt.“

Bemerkenswert ist, dass für Martin und Natalija eines der ersten gemeinsamen Themen für die Diskussion der Roman von Oksana Sabuschko „Museum der vergessenen Geheimnisse“ war. Natalija empfiehl Martin ihn zu lesen.

„Ich habe ihm dann gesagt: ‚Martin, es gibt so ein Buch, es ist auch auf Deutsch erschienen!‘ Und nach einigen Tagen sagte Martin: ‚Ich habe es schon gekauft‘. Und nach kurzer Zeit gab er Bescheid, dass er das Buch schon gelesen hatte. Ich glaube, wenn eine Person diesen Text gelesen und verstanden hat, dann gehört der Text eben zu ihr.“

Abgesehen davon, dass die Literatur einen kulturellen Dialog zwischen den Ländern zu bauen hilft, ist sie auch für die Emigranten aus der Ukraine notwendig. Sie fordert einen zu seinem Ursprung zurückzukehren und seiner nationalen Zugehörigkeit bewusst zu werden. Für die Generation der Ukrainer, die noch in der Zeit der Sowjetunion nach Deutschland emigriert sind, ist es wegen der langen Assimilation schwierig, ihre eigene Nationalität und Kultur zu identifizieren. Natalija ist überzeugt, dass die Literatur zur vergessenen Vergangenheit zurückbringt und an die eigenen Wurzeln erinnert:

„In Deutschland leben die Menschen, die die Ukraine bereits in der Zeit der Sowjetunion verlassen haben. Und hier waren alle Dinge für sie unerreichbar und unbekannt. Wenn wir beispielsweise Olexander Irwanez zu einem Treffen einladen, ist es für sie eine Entdeckung. Wir haben eine Freundin aus Riwne, die nicht wusste, dass Irwanez einen so unglaublich coolen Roman ‚Riwne/Rowno (die Wand)‘ geschrieben hat. Das heißt, wir holen auf eine bestimmte Weise nach, was unsere Mitbürger nicht mitbekommen haben. Solche gemeinsamen Treffen mit Literaten schaffen und vereinigen die Gemeinschaft, weil es immer die Gespräche und Reflexionen bedeutet.“

Natalija freut sich, dass es positive Entwicklungen im kulturellen Leben der Ukraine gibt. Besonders freut sie sich über die Gründung des Ukrainischen Instituts für Bücher und des Ukrainischen Kulturfonds, denn mit Hilfe von offiziellen Vertretungen wird es beidseitig immer einfacher, Kontakte zu knüpfen. In diesem Sinne sind die Bedingungen der Quarantäne vorteilhaft, weil man ohne unnötigen Anstrengungen und Ausgaben literarische Lesungen, Diskussionen oder sogar Konzerte Online organisieren kann. Dennoch plant Natalija, zum Live-Format zurückzukehren: Dank Paul Celans Literaturzentrum und dem Projekt „Meridian Czernowitz“ sind für Dezember 2020 literarische Lesungen mit der Teilnahme von Serhij Schadan, Ihor Pomeranzew und anderen Literaten geplant.

Natalija und Martin bemerken, dass die Deutschen allmählich anfangen, das Ukrainische zu identifizieren und es vom Russischen zu trennen. Die Anerkennung der Ukraine wächst jetzt nicht wegen der politischen Verwirrung, sondern durch das Kennenlernen der alten Traditionen, Handwerken und talentierten Ukrainern. Das sind die Dinge, die ein positives Image des Landes im Ausland bilden:

„Es ist wirklich schön, dass wir eine Gelegenheit haben, uns zu engagieren, den Menschen auf irgendwelche Weise zu helfen, mit Rat oder Koordination. So funktioniert es. Und so sieht man, dass das Ergebnis dieser Arbeit die Entdeckung der Ukraine für die Welt ist.“

unterstützt durch

Das deutsch-ukrainische Projekt wird gefördert im gemeinsamen Programm „Culture for changes“ der Ukrainischen Kulturstiftung und des Förderprogramms „MEET UP! Deutsch-Ukrainische Jugendbegegnungen“ der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ). Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.

Beitragende

Projektgründer:

Bogdan Logwynenko

Autorin des Textes:

Marija Karapata

Redakteurin:

Sofija-Olha Kunhurzewa

Projektproduzentin:

Karyna Piljugina

Kateryna Akwarelna

Natalka Pantschenko

Produktionsassistentin:

Jewhenija Lysak

Ksenija Fuchs

Fotograf:

Oleksij Scherepenko

Fotografin:

Kateryna Akwarelna

Kameramann:

Pawlo Paschko

Serhij Korovajnyj

Kamerafrau:

Anna Sawtschuk

Filmeditor:

Dmytro Bartosch

Filmeditorin:

Lisa Lytwynenko

Regisseur:

Mykola Nossok

Wasyl Hoschowskyj

Bildredakteurin:

Kateryna Akwarelna

Transkriptionist:

Roman Azschnjuk

Wiktor Perfezkyj

Transkriptionistin:

Tetjana Prodanets

Interviewerin:

Olha Wojtowytsch

Übersetzer:

Swjatoslaw Gusel

Übersetzungsredakteurin:

Diana Melnyk

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