Die Ortschaft Nyshnje Selyschtsche, die in Transkarpatien liegt, gefällt schon in den ersten Aufenthaltsminuten. Wir sind auf die Einladung von Inna Prygara hierher gereist. Inna hat vor ein paar Monaten in Frankreich das Herstellen von Käse angefangen zu lernen.Wenn die praktischen Monate vorbei sind, plant Inna mit neu erworbenem Wissen zurück zu kommen, und wird das Gelernte in der Arbeit bei Käseherstellung versuchen zu anwenden. Sie hat uns zu ihrem Vater eingeladen, der nicht nur in Transkarpatien bekannt ist. Petro Prygara hat auch mit Auslandspraktikum angefangen und im Jahr 2002 öffnete er „Selysjka Syrowarnja“ (Üb. – Selyschtscher Käserei). Die lokale Milch wird hier nach Tausend Jahre alter Herstellungstradition der Schweizeralpen in qualitätsvolle Käse verwandelt. Wie ein wahrer Enthusiast seines Handwerks, prüft Petro nicht nur alle Herstellungsprozesse persönlich, sondern arbeitet an ökologischen Möglichkeiten von Käseherstellung.
Das Entstehen der Käserei veränderte diesen Ort für immer. Jeder Morgen beginnt hier mit Zusammentragen und -fahren der Milch von allen Dorfmitbewohnern und auch von Menschen aus manchen Nachbardörfern. Oft werden Kinder auf Fahrrädern mit Glasdosen und Kannen voller Milch geschickt. Die eigene Milchherstellung ist für viele Einwohner ein wesentliches Zusatzeinkommen neben Lohn oder Rente geworden und die Käserei gab außerdem einen Anstoß für die kulturelle Dorfentwicklung.
Man will von hier nicht weg ziehen, hier gibt es Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten, hier kann man eigenes Geschäft mit Handwerk aufmachen und dabei sich von denjenigen inspirieren lassen, die ihr Handwerk schon vor langer Zeit angefangen haben.
Alles hat mit der linken Kooperative mit dem Namen „Longo Maï“, die in den Transkarpatien im Jahr 1989 entstanden ist, angefangen. Damals sind sie aus Frankreich angereist, haben mit ukrainischer Universität Vertrag abgeschlossen und haben begonnen, französischsprachige Studenten zum Praktikum nach Europa zu bringen. Mitglieder der Longo Maï Kooperative wohnen in der Regel in Kommunen und interessieren sich besonders für postkommunistische Länder. 10 Jahre lang hatten ukrainische Studenten die Möglichkeit, praktische Erfahrungen zu sammeln, Frankreich kennen zu lernen und die Sprachkenntnisse zu verbessern. In einer diesen Gruppen war der Bruder von Petro Prygara, Student Iwan aus Nyshnje Selyschtsche. Iwan lud damals die ausländischen Gäste in Nyshnje Selyschtsche ein, sie sind ein paar Mal gekommen. An einem Abend während man Schaschlik grillte, kam die Idee, alle junge Menschen zu sammeln und etwas in einem der depressiven Dörfer aus der Umgebung aufzubauen. In 1994 sind aus Selyschtsche fünf Personen nach Frankreich gereist, um dort definieren zu können, was man Zuhause aufbauen kann, gleichzeitig ein Sozialprojekt starten und möglichst viele Menschen involvieren.
„Als ich zum ersten Mal in Longo Maï gewesen war, waren viele Sachen für mich seltsam: eine total andere Kultur von Franzosen, dazu die Sprache habe ich damals nur wenig beherrscht. Wenn ich aber jetzt nach Frankreich oder in die Schweiz verreise, fühle ich mich dort als deren Freund: es gibt Menschen, die mich kennen und die ich um Hilfe oder Übernachtung bitten kann. Damals hat mich deren Lebensstill schockiert und jetzt fühle ich mich dort wohl, weil ich ihre Sprache beherrsche und Freundschaften geschlossen habe. In jener Zeit sind wenige nach Europa gereist, und noch weniger nach Frankreich.“
Die Gemeinschaft „Longo Maï“ entstand in Frühling 1973 als Folge des Zusammenschlusses zweier Gemeinschaften aus Österreich „Spartakus“ und aus der Schweiz „Hydra“. Die ersten Mitglieder der gegründeten Kooperative zogen gemeinsam in ein Landgut in Limans ein, das in der Provence liegt.
In Frankreich befinden sich die meisten Bauernhof-Kooperative. Die größte Kooperative ist in der gleichen Gemeinde Limans bei Forcalquier. Dort züchtet man Schweine, Pferde, Schafe, Ziegen und Hühner, man stellt Käse her und bäckt Brot, dort wachsen alte Sorten von Weizen und außerdem Obst und Gemüse, das auch bald eingemacht wird. Außerdem gibt es hier eine kleine Werkhalle für Holzverarbeitung, eine Schneiderei und sogar ein eigenes Radio, das ZinZin heißt. Außer Frankreich sind solche Kooperative auch in Österreich, in der Schweiz, in Deutschland, in der Ukraine und in anderen Ländern zu finden.
In Transkarpatien trennte sich die Kooperative in jener Zeit. Das bedeutet, dass Nyshnje Selyschtsche offiziell zwei Longo Maï Gemeinschaften hat.
Alles beginnt mit Praktikum
In den 90er Jahren hat die Kooperative für Petro nach Praktika gesucht. Das erste Mal war es in Sommer 1995 im Ort der Schweizer Alpen in der Nähe von Gruyères, was 1400 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Dort waren 44 Kühe, Weiden, Melken und der Käse wurde auf Holzfeuer gekocht. Es war ein Bauernhof ohne Strom, es gab nur Stromgenerator und Kupferkessel, in dem man Käse zubereitet hat. Petro hat dort 1,5 Monate lang Praktikum gehabt.
„Was dort am schwierigsten für mich war, – war der Bauernhofbesitzer, der einen ziemlich strengen Charakter hatte. Und wie jeder Besitzer eines Schweizer Bauernhofes kannte er alle seine 44 Kühe namentlich. Er konnte jede Kuh bis 40 Meter weit weg entfernt erkennen. Und man müsste jede Kuh an ihrem eigenen Platz festbinden. Und bloß nicht verwechseln.“
Jedoch hatte dieser Käsehersteller auch eine andere Tradition: jedes Mal, wenn seine Angestellten drei Greyerzer je 40 Kilogramm zubereitet haben, bevor sie den Käse unter die Presse gestellt haben, hat man Weißwein aus dem Keller geholt, in kaltes Wasser gestellt und nach dem Käse unter die Presse kam, haben sie die Flasche geöffnet und den Wein getrunken. Das war ein Symbol dafür, dass der Käse gut gelingt. Und so haben sie jeden Tag gemacht.
„Ich habe in den Alpen sehr viel gelernt und habe angefangen, Milch besser zu verstehen. Für mich als Käsehersteller war das die größte Erfahrung.“
In 1996-1998 hat Petro bei größeren und soliden Betrieben seine Praktika absolviert, jedoch am besten hat es ihm in den Alpen gefallen. Das zweite Mal hat er in der Käserei im Dorf Bellelay gearbeitet. Bellelay ist ein kleines Dorf mit nur ca. 10 Häusern, mit eigenem Restaurant, mit der Post, die nur ein paar Tage in der Woche geöffnet ist. Und in so einem Dörfchen hat diese Käserei 12 Tonnen Milch verarbeitet, die aus Nachbardörfern gebracht wurden. Petro hat dort im Keller, in der Käserei und in der Herstellung gearbeitet. Später hat genau diese Käserei ein Teil der Ausstattung nach Nyschnje Selyschtsche verkauft und ein Teil geschenkt. Heutzutage, wenn Petro mal in die Schweiz fährt, kommt er immer dort zum Kaffeetrinken vorbei.
Wahrnehmung der Ukraine in den 90er Jahren
„Als ich erklärt habe, was die Ukraine ist und ob sie Schewtschenko kennen, haben alle mir geantwortet, dass sie nur den Fußballspieler kennen, den anderen Schewtschenko kennen sie aber nicht. Und wenn ich fragte, warum ich eingeladen wurde, keiner gab mir eine klare Antwort. Sie haben erzählt, dass deren Eltern auch noch jetzt Angst haben, dass die Russen kommen und uns haben sie für Russen gehalten. So stark hat Kalter Krieg ihr Bewusstsein beeinflusst, insbesondere von älterer Generation. Ich habe gefragt, ob sie verstehen, was die Ukraine ist. Manchmal wurden wir als Russen empfangen. Zu diesem Zeitpunkt gab es generell viel Negatives dort, ich persönlich aber hatte keine Probleme damit bekommen, dass ich ein Ukrainer bin. Weder bei Behörden noch bei der Polizei habe ich Probleme bekommen. Mit ukrainischem Autokennzeichen bin ich jedes Mal gereist und kein einziges Mal wurde ich gefragt, was ich dort mache. Dort verläuft alles ziemlich demokratisch.“
„Die Kultur war für mich ziemlich anders. Ich war dort genau zu dem Zeitpunkt, als ein Referendum stattfand. Es gibt ziemlich oft Referendum in der Schweiz. Wir sind zum Dorfrat gegangen, es war ein Zimmer von 5 mal 5 Quadratmeter. Dort lagen Formulare, Wahlscheine, aber niemand war da. Dann sagte ich zu meinem Kollegen: ‚Hör mal, ich pass am Eingang auf und du nimmst die Wahlscheine, fühlst sie aus und wirfst sie in die Wahlurne rein‘. Und er: ‚Was? Das ist ja ein Betrug. Alles muss fair verlaufen. Was sagst du da, Petro? Ich will, dass nur meine Stimme gezählt wird‘. Und wie war es noch vor kurzem in der Ukraine? Es stehen 20 Beobachter, 10 Mitglieder der staatlichen Wahlkommission, jedoch ist alles eine einzige Fälschung. Ich habe meine Kinder, als sie ca. 20 Jahre alt waren, ins Ausland mitgenommen. Obwohl ich die Möglichkeit hatte, schon erwachsenen Kindern die verlockende touristische Seite des Auslands zu zeigen, wollte ich jedoch zeigen, wie das Leben und die Arbeit in Europa aussehen.“
Wie der Anfang der Dorfkäserei in Selyschtsche war
„Wie wir die erste Milch gesammelt haben? Wir haben eine Liste zusammen gestellt, wo drauf stand, wie viele Menschen im Dorf leben, wie viele Kühe jeder besitzt und wie viel Milch eine Familie gebrauchen kann. Wir haben sozusagen die Lage studiert und haben festgestellt, dass für die Käseherstellung Trinkwasser benötigt wird. Wir haben eine Wasserquelle untersucht, die ein paar Kilometer weit weg von hier war, und haben festgestellt, dass man von 8 bis 10 Kubikmeter gutes Wasser zu uns transportieren konnte und das auch ohne Pumpen und ohne Weiteres. Damals hatten wir so viel Geld, dass wir allen Dorfeinwohnern Leitungswasser installieren konnten, damit sie Wasser nicht aus Brunnen holen mussten, sondern aus Zentralwasserversorgung, aber sie wollten das nicht. Da wir ganz am Anfang waren, hat man uns nicht geglaubt. Wir haben damals die Wasserleitungen in die Käserei, in die Schule, ins Kindergarten und ins Haus der Kultur, in die Ambulanz verlegt und ein WC im Dorfzentrum gebaut.“
Diashow
„Verstehen Sie, das größte Problem besteht darin, dass ein Mensch nicht glauben kann, dass man für jemanden etwas einfach so machen kann. Ich bin oft unterwegs und wenn ich mein Auto anhalte, um Menschen mitzunehmen, verlange ich nie Geld dafür, jedoch keiner will mir glauben, dass ich schlicht und einfach helfen möchte. Jetzt ändert sich etwas in Nyschnje Selyschtsche. Bei uns gibt es kein Widerstand mehr, kein Widerstand von der Dorfseite, das Dorf unterstützt uns. Früher haben manche erzählt, dass das Dorfzentrum wegen Käserei stinken wird. Wie sie sehen, es stinkt hier nicht. Wahrhaftig habe ich in der Schweiz eine Käserei direkt neben der Kirche und im Dorfzentrum gesehen, und habe mir eigentlich sowas bei uns vorgestellt. Die Leute haben aber Angst bekommen und außerdem war das Gesundheitsamt dagegen.“
Aber wir haben eine Vereinbarung abgeschlossen. Der prinzipienfeste Standpunkt von Petro war niemandem Schmiergeld zu geben. Man hat alles über den offiziellen und legalen Weg gemacht
„Jedes Mal, wenn man eine gemeinnützige Sache macht, eine, wie z.B. ehrenamtliche Organisationen machen und in unserem Fall war das die Schulsanierung und Sanierung des Kulturhauses, sofort haben Menschen angefangen zu fragen, warum wir das machen und was wir persönlich davon haben würden. Nur wenigen glauben, dass man Sachen einfach so, ohne persönliche Vorteile machen kann. Es ist schwierig nachvollziehbar, dass ein Mensch am Tag 2 bis 3 Stunden mit sozialer Arbeit sich beschäftigen kann. Der Grund ist, dass der Mensch von der Arbeit Gewinn haben muss, und entweder klaut er vom Zuschuss oder holt sich das Geld woanders. In Selyschtsche etwas tut sich verändern, allerdings sind die Menschen hier innerhalb von zwei Jahren wütender geworden. Das hängt mit der Wirtschaft zusammen. Wenn es viel Milch in die Käserei gebracht wird, ist es ein Zeichen dafür, dass das Lebensniveau niedrig ist: weil jeder Cent zählt wird, jeder Liter Milch nicht für eigenen Verbrauch oder für Schweine genommen, sondern in die Käserei gebracht.“
Qualitätskontrolle von Milch
„Diejenigen, die zu schummeln versuchen, gibt es fast nicht mehr. Die in die Käserei gebrachte Milch lässt sich leicht anhand drei Kriterien kontrollieren: Aggregatzustand, Milchtemperatur und Reste. Wenn man etwas in die Milch hinzufügt, sieht man das sofort. Wenn die Milch schon etwas gestanden ist und dann aufgewärmt wurde, ist es auch zu erkennen. Wir haben ein paar Mal solche Menschen schon aufgedeckt. Das sind Menschen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind. Das ist ein Mensch, der irgendwelche Probleme hat und denkt, dass wenn er 200 Gramm Wasser in Milch reintut, dann hat er was davon. Ich glaube, dass die Ukraine nur von den Menschen aufgebaut werden muss, die sich selbst realisiert haben. Sie sind rein, ehrlich und arbeiten fair. Und wenn ein Mensch aus irgendeinem Grund merkt, dass er etwas nicht erreicht hat, hat er ein Problem, – er ist automatisch leicht verfault. Es gibt ältere Menschen, die Wasser in Milch hinzufügen. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Einmal habe ich eine alte Frau erwischt. Sie wollte mir Schmiergeld geben, damit ich sie weiterhin Milch bringen lasse. Nach einer Weile habe ich sie erneut erwischt und auch gewarnt, dass wenn sie das noch einmal macht, solange ich hier arbeiten werde, wird sie keine Milch bringen dürfen. Sie ist 80 Jahre alt. Ich sagte zu ihr: “Gehen Sie in die Kirche und beten, man darf solche Taten nicht vollbringen, so sagt die Bibel, und umso weniger mit Gottes Milch”.“
„Und später war ein Nachbar bei mir. Er kam in die Käserei am Abend an. Auf einmal wurde ich von einer meinen Mädels gerufen: ‚Petro Jossypowytsch, kommen sie bitte, da hat er übertrieben‘. Wir haben dafür einen Begriff ‚pereborschtschyw‘. Er ist Nachbar von meiner Mutter. Als ich bei ihm stand, merkte ich, dass die Milch tatsächlich heiß ist, eine Kuh kann so eine Milch nicht geben. Dann nahm ich Thermometer und maß Milchtemperatur einmal, dann noch einmal. Und dann komme ich auf eine Idee, weil ich ihn ja nicht beleidigen wollte, aber auch zeigen wollte, dass wir alles kontrollieren, sagte ich ihm: ‚Schauen Sie, ihre Kuh hat ein Problem. Sie haben ja schon gemolken, haben Behälter gewechselt und die Milch hierher gebracht. Aber ihre Kuh gibt ca. 50 Grad heiße Milch. Nehmen Sie die Milch mit, ich kann das so nicht aufnehmen, aber man muss dringend was mit der Kuh machen. Sie kann sterben. Eilen Sie nach Hause und holen Sie einen Tierarzt für ihre Kuh‘. Selbstverständlich hat er gemerkt, dass ich verstanden habe, worum es hier geht. Aber mittels solcher Dorfdiplomatie haben wir einen Konflikt vermeiden können. Hätte ich ihm die Wahrheit gesagt, hätte er im Dorf rumgeschrien, was für einer ich bin.“
Globalisierung
„Globalisierung ist ein echt ein Problem. Warum? Ich war einmal in Österreich auf einer Farm. Ich kam raus in die Natur und ein schönes Bild zeigte sich: ein Kiefernwald, Gras und Holzhaus, aber es fehlt etwas. Und ich konnte lange nicht herausfinden, was es war. Später bin ich drauf gekommen, dass ich keine Nebengeräusche gehört habe, dass eine komplette Stille herrschte. Weder Insekten noch Vogelgezwitscher waren zu hören. Für mich ist es ein Ton der Globalisierung. Das ist die Chemie, die alles tötet. Alles wurde betoniert und asphaltiert. Und der zweite Indikator ist das soziale Leben. Das Leben dort scheint auch betoniert zu sein. Wenn ein Ausländer in die Ukraine reist und ich ihm erzähle, dass ich Mitternacht meinen Nachbar wecken kann, kann er das nicht nachvollziehen.“
„Wir hatten einmal einen Schweizer Minister Herrn Fust zu Besuch hier. Neben Wyschkiw wurden Deiche gebaut, eine Million Dollar hat das alles gekostet. Als die lokale Behörde die gebauten Deiche zeigen wollte, hat man mich angerufen: ‚Petro, würden Sie zu uns kommen, wir brächten einen Dolmetscher‘. Wir sind ins Auto eingestiegen und gefahren. Beim Empfang gab es Käse und Herr Fust hat angefangen zu fragen, woher so einen Käse in der Ukraine geben konnte. Wir haben ihm alles erklärt und dann sagte er: ‚Jungs, hier ist meine Visitenkarte. Wenn einfache Schweizer dieser Käserei hier helfen, bin ich als Beamte bereit, euch auch zu unterstützen. Ich lade euch zum Kaffee oder zum Mittagessen ein. Aber sie müssen zu mir nicht einfach so kommen, sondern um etwas bitten. Ihr müsst bereit sein, danach zu fragen, was ihr braucht‘. Später haben wir ein Projekt von Wasserversorgung fest ausgemacht, das Geld wurde direkt aus der Schweiz an eine ehrenamtliche Organisation überwiesen. Es war für manche Menschen ziemlich neu und seltsam. Herr Fust kam öfter in Transkarpatien und er wurde oft kritisiert, weil er überall auf der Welt geholfen hat, jedoch in der Ukraine nur in Transkarpatien, sonst nirgendwo. Er sagte immer, dass Transkarpatien ihm an die alte Schweiz erinnern. Als er ein kleines Kind war, sind Hühner auf der Straße gelaufen, Kühe wurden durch die Straßen getrieben, jetzt gibt das alles nicht mehr, und er hat Nostalgie aus der Kindheit bekommen.“
„Manche sagen, wir sind 50 Jahre bei der Entwicklung zurück geblieben, aber ich denke nicht, dass das so ist, umgekehrt, – wir leben gut in Harmonie mit der Natur. Was ist besser? Ich glaube, dass am besten ist, wenn der Mensch glücklich ist. Dass der Mensch viel arbeitet oder wenig verdient, – das ist kein Glück. Der Mensch muss in einer Umgebung leben, in der er sich wohl fühlt.“
Einfluss auf Dorf
„Ich hoffe, dass die gemeinsamen Projekte mit Longo Maï, mit Orest und Jürgen, und alles was wir weiter verwirklichen, einen Einfluss darauf haben, dass das Dorf nicht kleiner wird. Man muss etwas Patriotismus und Liebe wecken. Ein Dorf kann etwas normales sein, in dem man leben und kreativ sein kann. Unser größtes Problem ist, dass wir an uns selbst nicht glauben. Wir denken, dass jemand anderer für uns alles machen und uns helfen muss.“
In die Schule von Nyshnje Selyschtsche gehen ca. 350 Kinder. Hier gibt es die ganze Infrastruktur: ein Kindergarten, ein Kulturhaus und eine Schule. Es gibt auch eine Bäckerei, eine Käserei, einen Metzger und ein Sägewerk. Über das Dorf wird immer geredet und man versteht dabei, dass diese Auffälligkeit Wirtschaft und Geschäft auf sich aufmerksam macht.
„Meine Tochter möchte hier im Dorf leben, der Sohn Mychajlo jedoch nicht, er möchte in die Stadt ziehen. Jeder hat andere Vorstellungen, aber man kann nicht sagen, dass das Dorf langsam verschwindet. Vor zehn Jahren war ich der zentralen Ukraine und dort gibt es Dörfer, in denen nur alte Menschen leben und weder ein funktionierender Kindergarten noch eine Schule zu finden sind, und da kann ich verstehen, dass so ein Dorf bald verschwinden wird. Entweder müssen junge Menschen dort leben oder junge Familien dazu ziehen, und dann kann so ein Dorf wiederbelebt werden. Bei uns gibt es solche Extremfälle nicht.“
Identität
„Oft werde ich gefragt, ob ich ein Russiner bin. Woher soll ich das wissen? Mein Großvater lebte in der Österreich-Ungarn, meine Großmutter war unbekannter Herkunft und ich bin ein gebürtiger Ukrainer in Transkarpatien. Oft werden diese Begriffe von rassistischen Menschen benutzt, um das Land zu spalten. Das Transkarpatien ist ein problematisches Gebiet, weil wir hier Ungarer, Rumänen und andere Minderheiten haben, die so herausstechen, dass man sie nicht verwechseln kann. Und wenn man noch dazu Russinen nimmt, dann werden wir uns nur gegenseitig prügeln. Ich habe einen französischen Freund, der schon seit 20 Jahren hier lebt und ihn halte ich für mehr Transkarpatier als meinen Bruder, der hier geboren ist, jedoch in Deutschland schon 25 Jahre lang lebt. Der Franzose fährt die gleichen Straßen wie ich, trifft die gleiche Polizei und Bürokratie, er lebt unter gleichen Bedingungen und hat die gleichen Probleme wie ich. Und mein Bruder hat andere Interessen, Probleme und Möglichkeiten. Wobei Möglichkeiten, glaube ich, habe ich hier mehr als er dort. Weil ich ein freier Mensch bin und er das aber nicht ist.“
Pläne
„Ich will nicht expandieren. Ich möchte meine Aufmerksamkeit noch mehr auf die Qualität der Produkte richten, eigentlich auf das, was ich gerade auch tue. Auch möchte ich die Milchqualität verbessern. Zu den wichtigsten Zukunftsprojekten zähle ich Entwicklung von Tourismus. Warum Tourismus? Aus dem Grund, dass in Transkarpatien Tourismus ein einziges und starkes Potenzial hat. Mit Tourismus könnte man die Region wirtschaftlich unterstützen und den Ukrainern helfen, sich glücklich Zuhause zu fühlen. Damit man nicht in die Türkei, nach Frankreich oder sonst wohin fahren muss, sondern zuhause bleiben kann. Das könnte unser Gemüt aufheitern, dass man bei sich zuhause Urlaub machen kann, schöne Plätze entdecken und was Leckeres verkosten kann.“
„Wir haben auch unsere Ideen. Meine Tochter macht gerade Praktikum in Frankreich und ich warte auf ihre Vorschläge. Ich habe zwar auch meine Ideen, aber ich möchte, dass sie selber erkennt, was man noch machen kann. Es gibt ein sehr spannendes Thema, – Schafzucht. Zwar gibt es bei uns Schafzucht, aber keiner macht hier Schafskäse. Man macht irgendwelche ‚Butz‘ (Üb. – eine Käsesorte, bei der Milch speziell fermentiert wird), jedoch echter Schafskäse wird nicht hergestellt, und da konnte man den Schäfern helfen. Ich sehe, in welchen wirtschaftlichen Schwierigkeiten sie leben, zwischen 4 und 5 Monaten leben sie im Wald oder auf dem Feld. Dieses Jahr haben wir fast alle Schäfer aus dem Chust Gebiet gesammelt, es waren ca. 30 Mann. Es ist schwierig mit ihnen, denn alles, was sie machen wollen, ist die einfache Herstellung von ‚Butz‘ ohne zusätzliche Bearbeitung, sie sehen auch keine Perspektiven bei der Sache. Man muss ihnen einfach alles zeigen. Vielleicht wird einer von denen anfangen, Schafskäse herzustellen. Die Ideen sind da, jedoch wie und wo wir diese verwirklichen können, weiß ich im Moment nicht. Ich bin mit dem, was Nyshnje Selyschtsche im Moment hat, ziemlich zufrieden.“