Die ukrainische Emigration zu Sowjetzeiten war politisch geprägt. Um den Verfolgungen und den Repressalien zu entgehen, haben die GegnerInnen des Regimes ihre Heimatorte verlassen. Unter ihnen waren VertreterInnen der Intelligenz, sowie BäuerInnen und ArbeiterInnen. In den neuen Ländern wollten sie ihre Identität aufbewahren und diese den Nachkommen überliefern. So hat sich die ukrainische Diaspora gebildet. Diese Geschichte erzählt von einer ukrainischen Familie, die in der Nachkriegszeit in Deutschland gegründet war und heute auf mehreren Kontinenten lebt. Und dennoch pflegt sie die ukrainische Kultur über mehrere Generationen hinweg und vermittelt sie der Welt.
Die Familie Halaburda wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im besetzten Deutschland gegründet. Iwan und Paraskewija initiierten das ukrainische öffentliche Leben zunächst in einem DP-Lager – Lager für Displaced Persons – und später in Belgien. Sie hatten vier Töchter, die in Liebe zur Ukraine erzogen wurden. Nadija Halaburda, eine der Schwestern, hat in zwei ukrainischen Verlagen im Ausland gearbeitet und engagiert sich heute ehrenamtlich, um die Ukraine zu unterstützen. Darüber hinaus beteiligt sie sich oft an den Aktivitäten der ukrainischen Diaspora in München. Nadija und ihre Schwestern sticken gern. Sie stickt nach authentischen Stickmustern und sammelt ukrainische Wyschywankas. Gerne würde sie diese in Deutschland im Rahmen einer großen Ausstellung der Öffentlichkeit präsentieren.
Wyschywanka
Traditionelles ukrainisches Hemd mit Stickmustern.Auswanderungswellen
Die Geschichte der ukrainischen Diaspora im Ausland, und zwar in Deutschland, geht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück und begann mit einer Arbeitsmigrationswelle. Die Massenauswanderung aus der Ukraine in den 20-30er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte hingegen hauptsächlich einen politischen Charakter: Damals verließen viele UkrainerInnen, die der sowjetischen Regierung Widerstand geleistet haben, das Land. Während des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges bildete sich eine neue Auswanderungswelle der „antisowjetischen UkrainerInnen“, der Kriegsgefangenen und der DissidentInnen.
Die Verwandten von Nadija Halaburda sind nach Deutschland im Jahr 1942 ausgewandert, während die ukrainischen Territorien durch die Wehrmacht besetzt wurden. Sie waren unter den vielen UkrainerInnen, die eine Zwangsauswanderung in den NS-Staat erlebt haben. Die zur Zwangsarbeit verschleppten Personen aus den besetzten östlichen Gebieten wurden als OstarbeiterInnen bezeichnet.
Von 1942–1944 wurde die überwiegende Mehrheit der ukrainischen BürgerInnen zwangsmäßig aus der besetzten Ukraine in das Dritte Reich gebracht. Während des Zweiten Weltkrieges wurden im Dritten Reich und auf den besetzten Territorien insgesamt Millionen von Männern, Frauen und Kindern aus mehreren europäischen Ländern der Zwangsarbeit unterworfen.
Viele UkrainerInnen sind in Deutschland geblieben und haben sich in Gemeinden zusammengeschlossen, wie z. B. in Essen, Düsseldorf, Neu-Ulm, München und Augsburg. Andere, sofern sie die Möglichkeit hatten, sind nach Belgien, Frankreich, Großbritannien, Kanada oder in den USA ausgereist.
Zur Zeit des Eisernen Vorhangs lief die Kommunikation mit der Ukraine im Untergrund.
Eiserner Vorhang
Die Abgrenzung der sozialistischen Staaten im Osten von den kapitalistischen westlichen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jh.„Es wurden viele Druckerzeugnisse herausgegeben, aber in kleinem Format. Kleine Hefte, kleine Buchstaben. Sie wurden gedruckt, in den Untergrund übergeben, erst nach Polen und von dort in die Ukraine gebracht.“
Die nächste, vierte Welle der Massenauswanderung begann Ende der 1980er Jahre aufgrund der Liberalisierung des politischen Regimes und der Wirtschaftskrise in der UdSSR. Die AuswanderInnen suchten in Deutschland politisches Asyl und zogen, falls dieses verweigert wurde, nach Kanada oder in die Vereinigten Staaten weiter. Diese Auswanderungswelle setzte sich fort, auch nachdem die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte. Doch es werden Diskussionen über die Aussonderung einer fünften, neuen Migrationswelle geführt.
Iwan Halaburda und Paraskewija Hryziw (Nadijas Eltern), und ihre Schwester Olha. Foto aus dem Archiv der Familie
Erzwungene Auswanderung der Eltern. Leben in der Diaspora
Nadijas Mutter, Paraskewija Hryziw, stammt aus dem Dorf Sawiy bei der Stadt Kalusch in der Prykarpattja (die Vorkarpaten). Sie war das vierte von sieben Kindern. Als Paraskewija dreizehn Jahre alt war, wurden ihr Bruder Iwan und sie zur Zwangsarbeit in ein Dorf bei München gebracht.
Nadijas Vater, Iwan Halaburda, stammt aus Lubatschiwschtschyna — ukrainisches ethnisches Territorium, welches heute zu Polen gehört. Im Jahr 1944 floh er aus dem Untergrund nach Deutschland, um einer Verfolgung zu entgehen. Dort arbeitete er in einer Fabrik in Meldorf, wo der Bruder von Paraskewija, Iwan Hryziw, auch schon eingesetzt war. Nach dem Krieg wurden alle UkrainerInnen, die als ZwangsarbeiterInnen eingesetzt waren, in den sogenannten DP-Lagern untergebracht. In einem dieser Lager in Bayern trafen sich alle drei: Nadijas Vater, ihre Mutter und der Bruder der Mutter.
In den ukrainischen DP-Lagern entwickelten sich über mehrere Jahre hinweg das soziale und politische Leben, Kultur, Bildung und Verlagswesen. Iwan Halaburda und Paraskewija Hryziw beteiligten sich ebenfalls an dem öffentlichen Leben im Lager:
„Es gab Unterricht, Schulen, der Ukrainische Jugendverband entwickelte sich. Das gesellschaftliche Leben hat sich abgespielt.“
Gemäß den internationalen Vereinbarungen der Nachkriegszeit wurde die Repatriierung in die UdSSR für alle BürgerInnen, die bis 1939 in der Sowjetunion lebten, zur Pflicht erklärt. Die meisten Rückkehrenden wurden in Lagern oder an Kontrollpunkten des sowjetischen Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) kontrolliert und gefiltert. Folglich konnten die Personen nach Hause geschickt, zur Roten Armee oder zu Arbeitsbataillonen mobilisiert oder verhaftet werden. Tausende ukrainische Flüchtlinge, die die Rückkehr in die Heimat unter dem Sowjetregime verweigert haben, blieben jedoch nach dem Krieg in Deutschland und Österreich.
Repatriierung
Die Rückführung von Kriegsgefangenen und Zivilisten, die sich während des Krieges außerhalb ihres Heimatlandes aufhielten, in ihre Heimatländer.Die Eltern von Nadija vermieden die Repatriierung und blieben in Deutschland bis 1947. Danach sind sie weiter nach Belgien in die Stadt Genk gezogen:
„Im April unterzeichnete mein Vater einen Arbeitsvertrag in einem Bergwerk und begann dort zu arbeiten. Meine Mutter kam nach Belgien auch im Jahr 1947, aber erst im Herbst.“
Drei Jahre später bekam das Ehepaar die erste Tochter — Maritschka. Später sind Nadija, Olha und die jüngste Tochter Odarka geboren.
Familientreffen in Polen, 1985. Foto aus dem Archiv der Familie
Paraskewija und Iwan haben in Belgien das ukrainische kulturelle und gesellschaftliche Leben in die Wege geleitet: Sie waren BetreuerInnen des Ukrainischen Jugendverbandes, gründeten einen Chor, eine Tanzgruppe und eine ukrainische Schule für Kinder.
Da die Gemeinde über keine eigenen Räumlichkeiten verfügte, wurden die ersten Gesangs- und Tanzstunden einfach in gemieteten Wohnhäusern durchgeführt.
„Wir hatten keine Räumlichkeiten, also haben wir uns in unseren Wohnhäusern organisiert. Oder neber der Kapellen, die die Belgier uns für Gottesdienste zur Verfügung gestellt haben. Auf dem Dachboden fand die Samstagsschule statt.“
Paraskewija Hryziw-Halaburda war Kulturreferentin der Vereinigung Ukrainischer Frauen Belgiens: sie war Sprecherin bei deren Sitzungen und organisierte Ausstellungen. Zudem sang sie auch in den Chören „Bojan“ (veralt. Für Sänger und Dichter — Üb.) und „Das Jahrtausend der Taufe der Ukraine“. Die Hingabe der Mutter zur ukrainischen Kultur inspirierte ihre Töchter.
„Unsere Mutter hat traditionelle handwerkliche Tätigkeiten ausgeübt. Und wir haben diesen Funken von ihr geerbt — die Liebe zur Stickerei und zu den ukrainischen Traditionen.“
Obwohl die Familie in Belgien oft die Städte wechselte, bewahrte sie ihre eigene ukrainische Identität, wo immer sie sich aufhielte. Dazu trugen die Sprache, die Pflege der Traditionen und die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Heimat bei:
„In unserem Haus war die Ukraine immer an erster Stelle. Unsere Eltern waren überzeugt, dass sie eines Tages in die Ukraine zurückkehren werden.“
Um über die Ereignisse in der Ukraine informiert zu sein, schrieb die Familie alle ukrainischen Zeitungen aus, die in europäischen Ländern und sogar in Australien erschienen, hörte Rundfunksendungen aus Kyjiw. Ein besonderes Ereignis für die Familie war die Unabhängigkeitserklärung, die sie schon so lange erhofft hat. Am 24. August 1991, während der Verkündung der Unabhängigkeit der Ukraine, waren Paraskewija und Iwan in Kyjiw auf dem Platz bei der Werchowna Rada.
Paraskewija hat sich für den unabhängigen Status der Ukraine vom Ausland aus eingesetzt: Sie forderte die Anerkennung der ukrainischen Identität für 54 ukrainische Kriegsgefangene, die in Genk infolge der Arbeit in den Kohlebergwerken gestorben und unter der Inschrift „Bürger der UdSSR“ begraben worden sind. Darüber hinaus initiierte sie in Zusammenarbeit mit den Stadträten von Kalusch und Kolomyja die Kur und Erholung für Kinder aus der Ukraine in Belgien — diese Aktion dauerte sieben Jahre.
Nadija mit Schwestern — Maritschka, Olha und Odarka. Foto aus dem Archiv der Familie
Vier Schwestern. Nadija
Jede der Töchter von Iwan und Paraskewija hat einen eigenen Beruf erlernt. Maritschka studierte Gesang und Diktion am Staatlichen Königlichen Konservatorium in Antwerpen und ist heute eine bekannte Sängerin, Journalistin und Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in der ukrainischen Diaspora in Australien. Olha ist Schneiderin und arbeitet bei dem Bayerischen Staatstheater. Odarka hat Germanistik studiert, sie lebt in Belgien und arbeitet bei einer Versicherungsgesellschaft.
„Die Schwestern gingen alle ihren eigenen Weg, aber wir hatten immer eine gute Beziehung zueinander, denn Familie ist Familie.“
Nach dem Gymnasium hat sich Nadija für den belgischen Militärdienst entschieden.
„Die UNO rief 1975 das Internationale Jahr der Frau aus. Wir waren die ersten, die der Armee beigetreten sind. In der ersten Jahreshälfte wurden jeden Monat je zwanzig junge Frauen rekrutiert.“
Nadija war fast zehn Jahre lang beim Militär: Zunächst arbeitete sie drei Jahre lang im Sekretariat, dann erlangte den Grad der Unteroffizieren in Brüssel, wo sie bis zum Jahr 1985 lebte. Nach dem Abschluss im Alter von 28 Jahren zog sie nach München, wo sich bereits ihre Schwester Olha niedergelassen hatte.
„Ich kam sie besuchen, ging in die Zeppelinstraße und sprach den Herrn Professor Waskowytsch an (Hryhoriy Waskowytsch — Pädagoge und Psychologe, Professor an der Ukrainischen Freien Universität. — Red.). Ich sagte, dass ich gerne nach München ziehen würde und ob er für mich einen Job hätte. Und dann sagte er: „Nun gut, kommen Sie gerne her‘.“
Sie erzählt, dass es ihr nicht leichtgefallen ist, sich in München zu integrieren. Zum Teil – wegen den Uneinigkeiten zwischen den ukrainischen Gemeinden, was Nadija in Belgien nicht aufgefallen ist.
In München lebte Nadija in einem ukrainischen Umfeld, bevor sie mit den Einheimischen Kontakt aufnahm. Die Deutschen sahen sie als gleichberechtigte Europäerin, da die Frau in Belgien geboren war. Für sie haben aber ihre ukrainischen Wurzeln auch einen wichtige Bedeutung:
„Ich verspüre die Zugehörigkeit zu Belgien, denn dort liegen meine Wurzeln: Ich bin dort geboren, aufgewachsen, ging zur Schule, hatte meine Freunde. Aber ich habe auch Wurzeln in der Ukraine — meine Eltern stammen aus der Ukraine.“
Allerdings ist es, laut Nadija, nicht einfach, die ukrainische Identität zu bewahren, und man muss sich bemühen, sie in einem fremden kulturellen Umfeld zumindest auf der lokalen Ebene aufrechtzuerhalten:
„Da wir nicht in der Ukraine, sondern im Ausland leben, sind wir bei uns in der Wohnung in der ukrainischen Umgebung. Sobald man aber das Haus verlässt, öffnet sich ein anderes Leben: Andere Sichtweisen, eine andere Umgebung. Die Chancen, diesen Weg zu verlassen, sind höher.“
Seine Herkunft vergisst man durch das Vergessen der eigenen Sprache. Nadija erinnert sich an ihre bekannten ukrainischen AuswanderInnen und Beispiele deutsch-ukrainischer Ehen, in denen Kinder kein Ukrainisch mehr sprechen, so dass sie sich leichter assimilieren können. In ihrer Familie unterstützt Nadija, was sie einst von ihren Eltern übernommen hat. Sie gibt die ererbten Traditionen an ihren Sohn Nasar weiter, der diese seinerseits bei der Bewegung „Plast“ den Pfadfindern beibringt:
„Plast“
Die ukrainische Pfadfinderbewegung„Mein Nasar sagt immer zu mir: ‚Mama, danke, dass du und der Vater immer auf Ukrainisch mit mir gesprochen habt. Danke dafür, dass ich zur ukrainischen Schule gehen konnte und dem Jugendverband beigetreten bin‘. Und er setzt das fort. In der Pfadfinderorganisation ‚Plast‘ betreut er seine Gruppe, gibt Unterricht. So wird das weitergegeben.“
Stickerei
Die Liebe zur Stickerei übernahmen Nadija und ihre Schwestern noch im Kindesalter von ihrer Mutter. Ihre erste Serviette bestickte sie im Alter von neun Jahren. Und immer noch widmet sie sich dem Sticken voller Hingabe, denn für sie ist Kultur ein wichtiger Faktor für die Identitätsbildung:
„Das Wichtigste ist die Staatlichkeit, die Sprache. Aber die Kultur ist ebenso sehr wichtig für den Staat. Denn wenn man keine eigene Identität hat, ist man verloren, weil man niemanden vertritt.“
Die Stickmuster fanden die Schwester in der amerikanischen Zeitschrift „Nasche Zhyttja / Our Life“, die seit 1944 von dem Ukrainischen Frauenverband in den USA herausgegeben wird. Diese Zeitschrift hat ihre Mutter, wie viele andere Ukrainerinnen in Belgien, vor allem wegen des letzten Seitenblatts mit Stickmustern aus verschiedenen Regionen der Ukraine abonniert.
In der Tanzgruppe „Poltawa“, die von ihrem Vater geleitet wurde, hat sie Volkstänze getanzt und dafür auch eine entsprechende Kleidung benötigt.
„Wir brauchten auch traditionelle Trachten, denn es is nicht angebracht, ohne sie zu tanzen. So haben wir selber die Hemden bestickt — mit Kyjiwer und huzulischen Stickmustern.“
Die Tradition der Tracht wird auch im größeren Familienkreis gepflegt:
„1995 hat sich unser Verwandte kirchlich trauen lassen. Er wollte, dass sich alle Gäste Wyschywynkas anziehen. Meine Eltern sind damals gerade in die Ukraine gefahren und ich habe sie gebeten, falls sie ein schönes Hemd finden, dieses zu kaufen.“
Alle drei Schwestern lebten in drei verschiedenen Ländern und fragten sich, warum jede ukrainische Region ihre eigenen Stickmuster und eigene Farbpalette hat und was diese Stickmuster bedeuten. In den 80er Jahren begannen sie, ihre eigene Sammlung zusammenzutragen, mit der einst ihre Mutter Paraskewija angefangen hatte.
„Wir sagen immer, dass dies unsere Stickereisammlung ist, da wir alle drei sticken. Wenn Olha etwas Bestimmtes lernen wollte, habe ich ihr das beigebracht. Genauso stand ich der Odarka zur Seite. Es gibt keinen Wettbewerb zwischen uns. Ob eine mehr oder besser stickt — darum geht es uns nicht.“
Nadija kennt die Geschichte jedes ihrer Hemden, die Besonderheiten der Muster und Symbole. Wenn der Verkäufer oder die Verkäuferin nichts über die Herkunft der Hemden weiß, so greift die Sammlerin auf ihre Bücher, Alben und Bilder zu und findet in der Regel die gewünschten Informationen. Sie sammelt die Wyschywankas aus verschiedenen Regionen der Ukraine.
„Diese Stickmuster sind aus der Region Sokal (Ukr. Sokalschtschyna), diese Hemden sind meist mit schwarzer Farbe bestickt. Laut einer Legende, als die Ukraine einst angegriffen worden war und Männer getötet worden waren, haben die Frauen beschlossen, dass sie über sieben Generationen hinweg nicht mit farbigen Fäden sticken werden, sondern nur mit schwarzen. Ebenfalls sind Kragen sehr typisch für die Hemden aus der Sokal-Region. Irgendwo habe ich gelesen, je länger der Kragen, desto reicher war die Person.“
Sokalschtschyna
Ukranische Territorien im Norden Galiziens, die nach der Stadt Sokal genannt sindDiashow
Das wertvollste authentische Hemd der Sammlung ist mehr als hundert Jahre alt. Trotz des Aberglaubens — angeblich sollten alte Wyschywynkas fremder Menschen nicht getragen werden — trägt Nadija dieses Hemd, um den Deutschen traditionelle ukrainische Kleidung zu zeigen. Dennoch hält Nadija nach wie vor an einigen Volksglauben fest:
„Wyschywankas dürfen nicht bloß weggeworfen werden. Da ich selber sticke, weiß ich das auch wertzuschätzen, denn ich weiß, wie viel Arbeit das ist. Und es gehört sich einfach nicht.“
Nadija weiß aus eigener Erfahrung, wie viel Mühe und Zeit das Sticken kostet, denn sie hat viele Hemden selbst gestickt. Sie bestickt die Hemden mit Stickmustern und ihre Schwester Olha (Schneiderin von Beruf) oder eine andere Schneiderin nähen die Hemdenteile zusammen. Einmal musste Nadija eine Wyschawynka komplett selber anfertigen und das war eine besondere Erfahrung für sie:
„Nasar ist in Kanada, in Toronto, geboren, und wir wollten ihn taufen lassen. Wie? Nur in einer Wyschywanka. Ich kann sticken, aber ein Hemd zu nähen, kann ich nicht. Olha war derzeit in München. Aber eine Freundin hat mir versprochen, sie würde das Hemd zusammennähen. Für Sonntag war die Taufe geplant. Und Samstag früh ruft sie mich an und sagt, sie kann das doch nicht machen. Das war das erste Mal, dass ich ein Hemd selber gestickt und genäht habe. Das erste und das letzte Mal.“
Nadijas Sammlung enthält Stickereien aus späterer Zeit, die eine besondere Geschichte haben, nämlich die Stickereien ukrainischer Frauen — politischer Gefangenen in der Sowjetunion. Zum ersten Mal stieß sie auf diese Art von Stickereien in dem Buch von Iryna Senyk, die selbst einige Zeit in den Lagern verbrachte. Ihre Stickmuster verwendet Nadija oft:
Iryna Senyk
Ukrainische Dichterin, Dissidentin, Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe.„Iryna Senyk hat mehrere kleine Bücher mit Stickmustern veröffentlicht. Ich sticke mit diesen Mustern kleine Kissen. Oder Weihnachtsschmuck für den Weihnachtsbaum.“
Einige authentische alte Hemden hat Nadija von Freunden und Bekannten geschenkt bekommen, die ihr volle Truhen mit den Stickereien von verstorbenen Verwandten schenkten. Und manchmal scheinen die Wyschywankas die Sammlerin zu finden, denn Nadija bekommt sie manchmal von Fremden auf der Straße:
„Mal kam eine Frau zu mir und hat mir eine in die Hand gedrückt. Ich habe sie genommen. Ich lehne es nicht ab, wenn mir Stickereien geschenkt werden. Da darf man nicht ‚Nein‘ sagen. Mein Vater hat schon immer gesagt: ‚Wird einem was geschenkt, soll man es dankbar annehmen‘.“
Diashow
Ihr Sohn Nasar trug auch der Sammlung bei: Manchmal erhielt er für Koljada neben den Süßigkeiten auch Wyschywankas:
Koljada
Eine Tradition zu Weihnachten, wenn Kinder von Haus zu Haus gehen, Weihnachtslieder (Koljadky) singen und dafür ein kleines Dankeschön z. B. in Form von Süßigkeiten bekommen.„Mein Nasar hat die Tradition der Koljada wahrgenommen, weil Plast-PfadfinderInnen zu Weihnahten immer von Haus zu Haus gegangen sind und Weihnachtslieber gesungen haben. Nun ist er bei einer Freundin aus Amerika vorbeigegangen und sie hat ihm gesagt: ‚Für deine Mutter‘. So hat Nasar meine Sammlung mit einer weiteren Wyschywanka bereichert.“
Als einen besonderen Schatz ihrer Sammlung betrachtet Nadija eine französische Ausgabe mit den Stickmustern aus den westlichen Regionen der Ukraine, die die ukrainische Schriftstellerin und Ethnografin Olena Ptschilka (bürgerlicher Name — Olha Kossatsch. — Red.) während der Expedition selber gezeichnet hat.
Eine wirklich wertvolle Wyschywanka kann meistens nur in der Ukraine gekauft werden:
„Wenn ich weiß, dass ich in die Ukraine fahre, kaufe ich (vor der Reise) einfach nichts ein, erspare Geld und kaufe mir dann für dieses Geld in der Ukraine ein Hemd.“
Diaspora in München
Nadija teilt ihre Kenntnisse über die ukrainische Stickerei während der Ausstellungen und Workshops, die sie in Deutschland organisiert. Bereits in den 80er Jahren begann sie an Veranstaltungen des Ukrainischen Jugendverbands teilzunehmen, organisierte Weihnachtsmärkte. Sie erinnert sich an ein Jahr, das engagierte Freiwillige für das Jahr der politischen Gefangenen erklärt haben. Und zu diesem Anlass haben sie einen Kalender mit Porträts der politischen Gefangenen erstellt, die Nadija gestickt hat.
Nadijas Eltern und ihre Schwester Odarka, 2004. Foto aus dem Archiv der Familie
Nachdem sie ihren Job im Verlag „Schlach Peremohy“ in München gekündigt hatte, zog Nadija für einige Jahre nach Kanada und arbeitete in Toronto bei der Zeitung „Homin Ukrainy“. Etwas später kehrte sie nach Europa zurück. In München übernahm sie die Stelle der Sekretärin im belgischen Konsulat und heute arbeitet sie mit jungen Menschen in der deutschen katholischen Diözese.
Nadija und ihre Schwestern werden oft zum diplomatischen Frauenklub bei den Botschaften oder Konsulaten eingeladen. Sie ist Mitglied der Ukrainischen Frauenvereinigung in Deutschland, führt ein aktives soziales Leben, organisiert Veranstaltungen und engagiert sich ehrenamtlich:
„Während der Orangenen Revolution war der Bedarf nach warmer Kleidung für die DemonstrantInnen da, weil es Winter war. Und wir haben warme Mäntel bei den Deutschen gesammelt und diese in die Ukraine geschickt. Auch heute, wenn in der Ukraine ein Krieg herrscht, werden hier jeden Sonntag Spenden gesammelt.“
Darüber hinaus sammeln die Mitglieder der Frauenvereinigung zurückgelassene Bücher und übergeben sie an Pfarreien, an die Frauenvereinigung in Lwiw und in den Osten der Ukraine. In der Vorweihnachtszeit schicken sie Nikolausgeschenke für die Kinder der Gefallenen im russisch-ukrainischen Krieg.
„Das ist Unterstützung, und dadurch wissen die Menschen, dass UkrainerInnen in anderen Ländern an sie denken, sie vergessen die Ukraine nicht.“
Zum 70. Jahrestag der Gründung der Ukrainischen Frauenvereinigung in Deutschland startete Nadija das Projekt „Entdecke die Ukraine und ihre Traditionen“, im Rahmen dessen sie ein Stickerei-Workshop nach den Stickmustern von Olena Ptschilka organisierte. Ihre Schwester Olha hat bei der Durchführung der Veranstaltungen geholfen. Sie lebt ebenfalls in München und organisiert ihre eigenen Workshops in der traditionellen ukrainischen Ostereier-Malerei, genannt Pysanky. Auf diese Weise zeigen die Schwestern die Einzigartigkeit der ukrainischen Kultur:
„Auf den kunsthandwerklichen Märkten werden Olha und ich oft gefragt: Ist das Russisch oder Rumänisch? Und da steigt mir schon der Ärger auf! Und deswegen denke ich: Ob alt, oder neu, aber wir müssen hier zeigen, was für uns wertvoll ist und wie reich unsere ukrainische Kultur ist.“
Nadija hat vor, ihre Sammlung mit weiteren Exemplaren zu ergänzen und weitere Veranstaltungen zu organisieren. Die Ukrainische Frauenvereinigung in Deutschland zählt auf die Unterstützung des Konsulats und plant, im nächsten Jahr, zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine, eine große Ausstellung zu veranstalten.
„Ich habe einen Traum: eine große Ausstellung zu organisieren, um die Schätze der Ukraine zu zeigen.“
In die Ukraine für Inspiration
Die älteste Schwester, Maritschka Halaburda-Tschyhryn, die in den 90er Jahren mehrmals die Ukraine besucht hatte, schrieb ein Buch über ihre Erinnerungen an ihre Reise „Ukraine, meine Ukraine“. Das Buch erschien im Jahr 2000, Nadija war auch bei der Buchvorstellung in Kyjiw — das war ihre erste Reise in die Ukraine. Nadija erinnert sich an die russische Sprache, die sie dort gehört hat:
„Damals musste man am Flughafen eine Versicherung abschließen. Ich habe mich an eine Frau gewendet, die mir auf Russisch geantwortet hat. Ich konnte Russich aber kaum verstehen. Nun hat sie gemerkt, dass es mit schwerfällt, und ist schnell zum Ukrainischen gewechselt. Das hat mich überrascht.“
Die nächste Reise fand 2014 statt: Nadija und ihr Sohn sind zu einem Taufgottesdienst nach Lwiw gefahren und haben sich in diese Stadt verliebt.
„Während unseres Spaziergangs in Lwiw habe ich zu Nasar gesagt: ‚Weißt du, ich fühle mich zu Hause‘. Ich weiß nicht, warum, vielleicht wegen der Sprache. Die Menschen haben die Sprache meiner Eltern gesprochen.“
Nadija sagt, dass solche Reisen den echten Expeditionen ähnlich sind, sie sind sehr informativ und können durch ein Buch oder ein Fotoalbum nicht ersetzt werden:
„Wenn es eine solche Möglichkeit gibt, soll man sein Heimatland und seine Wurzeln kennenlernen. Und zwar nicht nur von Berichten oder Bildern. Man soll dahin, um zu sehen, wie die Menschen dort leben und auch um die eigene zweite Heimat kennenzulernen.“
Ihr Sohn Nasar hat den Status eines ausländischen Ukrainers, was ihm ermöglichte, fast ein Jahr lang in Lwiw zu studieren. Dort in der Pfadfinderorganisation „Plast“ lernte er seine Liebe kennen — eine Ukrainerin aus Drohobytsch. Nadija würde auch gerne im Status einer ausländischen Ukrainerin einige Monate in der Ukraine leben. In zwei Jahren wäre das für sie möglich, denn dann geht sie in die Rente.
Nadija hat nicht vor, mit dem Sticken aufzuhören. Im Gegenteil, sie will ihre Sammlung um weitere Wyschywankas bereichern.
„Wenn meine Hände und Finger noch werden sticken können, möchte ich weitere Wyschywankas mit Stickmustern aus den meisten Regionen sticken.“
unterstützt durch
Das deutsch-ukrainische Projekt wird gefördert im gemeinsamen Programm „Culture for changes“ der Ukrainischen Kulturstiftung und des Förderprogramms „MEET UP! Deutsch-Ukrainische Jugendbegegnungen“ der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ). Für inhaltliche Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.