Die Ortschaft Reschetyliwka in Poltawa Oblast ist eine wahre Schatzkammer der ukrainischen Volkskunst. Die Reschetyliwkaer Meister der Weberei, Teppichweberei und Stickerei sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in der ganzen Ukraine bekannt gewesen. Eigenartige feinwollige Schafrasse und qualitative Wolle, einmalige Stickerei- und Webereitechniken und Volkserfahrungen beeinflussten diese rasante Entwicklung der Volkskunst in Reschetyliwka.
Aber jetzt wird die Produktion mechanisiert und kommerzialisiert, und die Traditionen werden langsam vergessen. Es geht in erster Linie um die Teppichweberei. Die qualitativen handgewebten Teppiche sind ziemlich teuer, deswegen können nicht so viele Leute sich so was leisten. In ähnlicher Lage sind jetzt, zum Beispiel, die Kossiwer Ofenkacheln und noch ganz viele einzigartige Volkskunsttraditionen. Wenn es keinen Bedarf nach der Tradition gibt, verschwindet sie. Und es ist nicht so einfach, Künstler heutzutage zu finden, die die Tradition bewahren würden. Die Teppichweber-Familie Piljugin entwickelt das Handwerk weiter und schult auch die jüngeren Generationen dazu ein.
Jahrhunderte lang befand sich Reschetyliwka im Zentrum der geschichtlichen Ereignisse. In verschiedenen Zeitperioden war die Ortschaft unter Regierung von Polen, Russen sowie ukrainischen Kosaken. Seit den Chmelnyzkyj-Zeiten (Bohdan Chmelnyzkyj – ein ukrainischer Kosakenhetman und Gründer des ersten Kosakenstaates im 17. Jahrhundert) ist Reschetyliwka eine Hundertschaft-Ortschaft.
Hier wurden diverse Handwerke sowie Handel intensiv entwickelt, hier fanden auch Messen statt. Die Meister verkauften Webwaren, bestickte Hemde und Webteppiche.
Die Teppichweberei als Kunsthandwerk wurde noch in den Zeiten der Kyjiwer Rus verbreitet. Nun ist es ziemlich exotisch, und entwickelt sich nur in den historischen Zentren der Teppichweberei in der Ukraine, darunter auch in Reschetyliwka.
Seit langem existierten hier die Volkskunstarten als eine Hausbeschäftigung. Aber 1905 wurde eine Weberwerkstatt in Reschetyliwka erbaut, die später zu einem Artel wurde. Für Fachausbildung der jungen Meister wurde in Reschetyliwka 1937 eine Kunstfachhochschule eröffnet, die bis heute noch existiert.
1960 wurde das Artel mechanisiert und die Reschetyliwkaer Clara-Zetkin-Fabrik wurde eröffnet. In den Werkhallen wurden Bildteppiche auf Bestellung, Teppiche mit pflanzlichen und geometrischen Mustern, Decken, Flurläufer und vieles mehr angefertigt.
Die Künstler aus der ganzen UdSSR kamen nach Reschetyliwka. Hier konnte man nicht nur Erfahrungen der lokalen Meister übernehmen und sich durch die Schönheit von Poltawschtschyna inspirieren lassen, sondern auch länger bleiben, da es genug Arbeit bei der Fabrik und bei der Reschetyliwkaer Kunstfachhochschule gab.
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Auf solche Weise kamen Jewhen und Laryssa Piljugin nach Reschetyliwka. Das begabte Ehepaar wurde als Fachlehrer für Volkskunst zur Kunstfachhochschule eingeladen. Larissa erinnert sich, dass sie auch bei der Fabrik eine Teilzeitarbeit machen wollte, aber der Direktor der Fabrik hat ihr dabei abgesagt:
„Er hat damals gesagt: ‚Alles stirbt schon aus‘, erinnert sich die Frau. ‚Wieso stirbt alles aus? Man muss das unterstützen!‘ Und seine Antwort war: ‚Weißt du, wie lange man braucht, damit das alles so wieder funktioniert? Mindestens 50 Jahre‘. Die Fabrik existiert schon nicht mehr, es gibt nur Ziegelwände. Alles, was aus Holz was, wurde gestohlen und auseinandergenommen. Es wurde gebeten: ‚Lassen Sie die Meister die Webstühle kaufen, das wird sicher funktionieren‘. Aber doch, die wurden einfach so verbrannt. So starb die Kunst hier aus.“
Die berühmte Fabrik wurde 2005 geschlossen. Der Unternehmer Serhij Kolintschenko hat manche Teppichweberinnen eingeladen und die Reschetyliwkaer Werkstatt der Volkskunstarten „Solomija“ eröffnet. Jetzt sind 11 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Werkstatt tätig, die erzeugen verschiedene Kunstwerke nicht nur für ukrainische Kunden, aber auch für Ausland.
In der Werkstatt gibt es gesonderte Werkhallen für händische und maschinelle Stickerei und Weberei. Vor kurzem wurde noch eine Werkhalle für Computerstickerei eröffnet – nun können die Maschinen die Muster auf Textilien automatisiert erzeugen.
Unter den Teppichwebern gibt es „Autoren“ und „ausübende Künstler“, so scherzen die Werkstattmitarbeiter selbst. Es gibt Künstler, die die Skizzen der Kunstwerke machen und es gibt auch Weber, die die Teppiche danach weben. Vorwiegend werden Bildteppiche oder Souvenirs je nach Bedarf erzeugt.
Nun arbeiten die Werkstattmitarbeiter am Projekt „Traditionen bewahren – Zukunft schaffen“, dessen Endziel wäre es, ein Lehrzentrum für angewandte Handwerke zu schaffen. Im Zentrum werden die Geheimnisse der Teppichweberei den Jugendlichen beigebracht und die Erzeugnisse der Volkskünstler von Poltawschtschyna ausgestellt. Dann wird das Zentrum zu einem Mini-Museum sowie zu einer Sehenswürdigkeit von Reschetyliwka. Für diese Initiative sammelt der Eigentümer der Werkstatt Serhij Kolintschenko Spenden:
„Wir können auf solche Weise die einzigartige Volkskunst vor Aussterben retten.“
Heutzutage gibt es insgesamt ganz wenige Teppichweber in der Ukraine. Einer der Gründe dafür wäre der fehlende Bedarf an die Waren und keine hochqualitative Vererbung der Tradition. Der zweite weniger wesentliche Grund dafür wäre die ukrainischen Rohstoffe, die von einer niedrigen Qualität sind, erzählt Olha Piljugina, die jüngste Tochter von Laryssa und Jewhen.
Aus Neuseeland wird die Wolle importiert. Die ist von einer hohen Qualität aber auch sehr teuer. Unsere ukrainische Wolle ist oft grob, stachelig, manchmal auch mit Bindern.
In Reschetyliwka gab es früher eine eigenartige feinwollige Schafrasse. Und jetzt existiert diese Rasse nicht mehr – die wurde nicht aufbewahrt.
Und als es noch genug eigener Wolle gab, entwickelte sich die Teppichweberei sehr rasant. Einen Webstuhl aus Holz zu machen ist einfach, deswegen stand der fast in jedem Haus. Die Muster wurden auf Zeitungspapier den Fabrikteppichen nach gemalt und man webte alles zu Hause.
Es war auch oft so, dass die Teppichweberinnen die Fabrikteppiche nachmachten
Nun gibt es in Reschetyliwka mehrere Standorte der Teppichweberei. Bekannt ist die Werkstatt der Volkskunstarten „Solomija“, die Reschetyliwkaer Kunstfachhochschule und die Hauswerkstatt der Familie Piljugin
Familie Piljuigin
Familie Piljugin wohnt in Reschetyliwka seit mehr als 45 Jahren. Laryssa und Jewhen zogen nach Poltawschtschyna mit ihrer kleinen Tochter Natalia nach dem Abschluss der Moskauer Kalinin-Kunstgewerbefachhochschule um.
Laryssa studierte an der Fakultät für „Kunststickerei und Spitzenherstellung“. Ihre Liebe zur Stickerei hat sie von ihrer Mutter vererbt. Die Frau erinnert sich, dass damals Straminstickerei und Kreuzstickerei trendy waren. Und es gab keine Techniken sonst. Deswegen hat Laryssa Stickerei als Fach ausgewählt.
Im gleichen Jahr fing auch Jewhen mit der Kunstfachhochschule an. Er wollte so gerne Teppichweberei lernen. Zuerst wollte man einen Ukrainer nicht aufnehmen, da damals die Fachmitarbeiter für Zentralasien vorbereitet wurden. Stattdessen bekam Jewhen einen Platz an der Fakultät für Stickerei.
„Als er den Brief bekam, dass er immatrikuliert worden sei, versteckte er den vor seinen Eltern, da die ‚Jewhenija‘ eigentlich zur Lehre eingeladen wurde. Er kam dann dorthin, alles war in Ordnung, beim Praktikum kommt ein Meister rein und unter allen Mädchen gibt es nur einen Jungen. ‚Wieso denn!‘, fragt man. ‚Wieso sind Sie kein Mädchen?‘, und er bekam dann einen Platz beim Fach ‚Teppichweberei‘, damit es keine Schande mehr gäbe“, lacht Olha.
Jetzt ist Jewhen ein Künstler, ein verdienter Meister der Teppichweberei-Volkskunst der Ukraine. Laryssa, Natalia und Olga sind Mitgliederinnen des Nationalen Künstlervereins der Ukraine sowie des Vereins der Volkskunstmeister.
Laryssa erzählt, dass es 14 Künstler in der Familie Piljugin gäbe.
Es gab überhaupt keinen Bezug zu Poltawschtschyna. Die Frau wurde in Russland geboren, Jewhen kommt aus der Region Saporischschja, ihm war diese Gegend besser bekannt, weil er gerade in Reschetyliwka seine Diplomarbeit ausgeführt hat.
In Poltawschtschyna interessierte sich Laryssa sehr für die ukrainischen Muster und Volkssymbole. Die Frau übernahm die Kenntnisse der einheimischen Meisterinnen und arbeitete mit neuen Fertigkeiten an ihre Kunstwerke.
Über ihre Selbstidentität sagt Laryssa Piljugina so:
„Man sagt mir: ‚Hast du denn vergessen, wer du bist?‘. Wieso habe ich vergessen? Wo gehören meine Kinder hin, wenn sie hier geboren sind? Wer sind die denn – Russen oder Ukrainer? Eher Ukrainer. Und wenn ich neunzehn Jahre lang in Russland wohnte und danach hier, seit 1973, wer bin ich denn? Selbstverständlich bin ich eine Ukrainerin, mehr als eine Russin.“
Hier traf die Frau viele Meister der ukrainischen Stickerei, von denen hat sie ihre Kenntnisse und Kunst übernommen. Sie gesteht, dass die Stickerei „weiß auf weiß“ für sie am meisten beeindruckend sei. Genau diese Technik ist das eigentliche Kulturerbe von Poltawschtschyna:
„Es war angenehmer für mich, die ukrainischen Techniken kennenzulernen, denn ich schämte mich nicht, ich fragte nach deren Ähnlichkeiten und Unterschieden, ich wollte wissen, wie es genau sein muss. Ich machte alles dann mit eigenen Händen, wie sonst denn? Ich war im Umfeld der Volksmuster der Ukraine, ich machte schon meine Kunstwerke auf eine ukrainische und nicht auf eine russische Weise.“
Die ältere Tochter von Laryssa und Jewhen Natalia ist mit Teppichweberei beschäftigt und macht Volksspielzeuge: Motanka-Puppen [eine traditionelle ukrainische Stoffpuppe – Üb.] Darüber hinaus ist Natalia eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Poltawer Kunstmuseums und der Mykola-Jaroscheko-Kunstgallerie.
Die jüngere Tochter in der Familie Piljugin – Olha – wurde schon in Poltawschtschyna geboren. Und von Kindheit an interessierte sie sich für Volkskunst. Das Mädchen verbrachte viel Zeit bei den Teppichwerkstätten, sie spielte, webte, stickte dort.
Als Olha 12 Jahre alt war, sagte Natalia: „Schluss mit Spielen, machen wir mal was ernstes nun“. Die ältere Schwester zeigte Olha, wie man richtig die Hände bewegt, hat ihr einige Techniken beigebracht und in Kürze arbeiteten die Mädchen schon an die großen Teppiche gemeinsam. Olha erinnert sich an die Zeiten:
„Wir saßen nebeneinander. So lernte ich. Zuerst weinte ich, weil sie (Natalia) fertig mit der Arbeit war und weg ging. Und ich musste ganz rasch weiter arbeiten – bis zu einer bestimmten Linie, denn morgen wird viel mehr dazu kommen. Mein Rücken tat weh, meine Finger wurden bis zum Blut gerieben – es gab schon alles. Aber es gab sogar keine Fragestellung bei mir, wozu ich das eigentlich tue.“
Mit 14 konnte Olha schon weben. Als sie ihren Werdegang auswählen musste, hat sie sich für etwas Neues entschieden und wurde bei der Fakultät der Handstickerei der Reschetyliwkaer Kunstfachhochschule immatrikuliert. Dann studierte sie Keramik bei der Poltawer Nationalen Technischen Ju. Kondratjuk-Universität. Nun ist die Frau als Teppichweberin tätig, sie übt auch andere Arten des traditionellen Volkskraftwerks aus.
Die Familie Piljugin lebt von ihrem Kunstgewerbe.
Kunst ist die Hauptbeschäftigung der Falimile Piljugin. Früher half Jewhen seinen Töchtern, die Skizzen für die Teppiche zu malen, nun ist es eine sehr bekannte Familien-Kunstwerkstatt, wo jeder Künstler sein eigenes Gesicht hat:
„Als ich noch klein war, war ich immer sehr beleidigt, wenn mein Vater meine Skizzen statt mir bis zu Ende malte“, erzählt Olha. „Sollte ich etwas nicht zu Ende malen und mal rausgehen, dann komme ich am nächsten Tag und er sitzt schon da und malt etwas. Nun unterstützen wir einander sehr gerne, er fragt mich und ich frage ihn. Es gibt schon Momente der Krise und es ist gut so, dass wir hier nicht alleine sind, dass wir alle zusammen arbeiten. Es gibt immer jemanden, der zur Verfügung gerne stehen würde.“
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Olha ist davon überzeugt, man muss sein Leben der Kunst widmen, wenn es so einen inneren Bedarf gäbe. Eben deswegen wird jedes Meisterwerk so langsam hergestellt, den für die Piljugin ist die schöpferische Seite des Werks ganz wichtig:
„Wenn du etwas machst und gleichzeitig an Geld denkst, wird es nie passen. Nicht an Geld, sondern an Kunst denken. Und wenn schon die Kunst Geld mitbringt – das ist so schön.“
Die Geburt eines Teppichs
Die handgemachten Teppiche sind nicht bloß ein Deko-Element. Jedes Werk ist ein besonderes und einzigartiges Muster der Volkskunst und eines individuellen Stils jedes Meisters. Und für die Piljugin Familie bedeutet die Teppichweberei in erster Linie Kunst. Olha meint, dass jeder Teppich viel Zeit, Kraft und Liebe in Anspruch nehme:
„Die Fabriknorm wäre 10 cm des gewebten Teppichs pro Tag. Aber dort arbeitet man an Meter, ohne über den Kunstanteil nachzudenken. Bei mir kann man sich jeden Teilchen so genau anschauen, mein Werk kann mehr als 100 Farben beinhalten.“
Der Prozess der Teppichweberei ist sehr spannend. Olha erzählt, dass jede Idee zuerst als Skizze gemalt werden muss. Dann wird die Komposition mit allen Farben auf ein Gemälde lebensgroß übertragen – genau so wird der künftige Teppich sein. Das Gemälde wird hinter Kettfäden platziert, damit der Meister sehen könnte, was mit Fäden dargestellt wird, welche Farbschattierungen für gewisse Elemente des Werks benötigt werden.
Manchmal kommen die Ideen ganz spontan. Die sind von der Laune abhängig und die muss man sehr schnell malen, sonst gehen die ohne Inspiration verloren.
Gleichzeitig kann die Frau an einige Werke arbeiten – für jeden einzelnen Fall wird eine entsprechende Laune benötigt.
Die thematischen Werke nehmen mehr Zeit in Anspruch. Olha hat einige Teppiche mit Trypiller-Mustern. Das Thema von Trypillja interessierte Olha seitdem sie Trypiller Keramik erforschte. Ohla interessierte sich auch für die Zeiten der Kyjiwer Rus – da erforschte sie Architektur, Schmuck, Malerei und Freskomalerei. Sie glaubt, dass wenn man Gefühl für eine gewisse Periode hat, dann geht es sich mit allen Kompositionen von sich selbst aus:
„Und das alles sind dann schon Autorenmeisterwerke. Das wird nicht aus verschiedenen Details und Mustern gesammelt. Das wäre keine Collage. Jetzt arbeite ich an den Teppichen mit dem Thema vom kosakischen Barock. Ich möchte die Stimmung dieser Epoche wiedergeben, aber damals gab es sowas kaum.“
Das Thema vom kosakischen Barock hat Olha mit einem Teppich „Hetmanskyj“ angefangen, der 2014 mit einer Finanzierung des Präsidenten der Ukraine geschaffen worden ist. Die Zeit des kosakischen Barocks war voll von Traditionen der Teppichweberei, weil die kosakische Leitung die Entwicklung der Teppichwerkstätte unterstützte. Sehr viele Musterteppiche wurden damals geschaffen. Viele davon waren auf dem schwarzen oder goldenen Hintergrund:
„Ich webte einen hellen, vollen, reichen Musterteppich. Ich wollte die volle Pracht, die volle Blüte dieser Periode darstellen. Es ist ein schönes Stück (der Teppich ‚Hetmanskyj‘), deswegen wollte ich dieses Thema fortsetzen. Der Teppich ‚Kosazkyj‘ ist schon mein drittes Werk zu dem Thema.“
Die Musterkunstwerke verlangen mehr Zeit und Aufmerksamkeit, so Olha. Jede Kleinigkeit solch eines Werks verlangt viel Nachdenken, jede Form (Blume, Vogel, Blatt…) ist entfaltet, die überschneidet die anderen nicht und verlangt nach eigenem Raum. Alle Elemente müssen zusammen agieren, als ein einheitliches Bild:
„Es ist so ein System, wie ein Organismus, wo jede Einheit zueinander passen muss, dann werden die zusammen arbeiten, dann werden sie zusammen klingen. Ich mache jetzt mehr Musterwerke, denn ich spüre die Verbindung mit meinen Vorfahren dabei. Wenn ich an die Werke arbeite, bin ich voll von Freude.“
Einmal pro Jahr macht Olha einen Musterteppich für ihre eigene Kollektion. Die Musterkompositionen macht die Künstlerin den Volkstraditionen nach.
Die Webstühle bei der Familie Piljugin sind nicht von der alten Art, aber deren Konstruktion ist nach dem alten Prinzip nachgebaut: zwei Schäfte vorne, zwei Schäfte hinten, zwei Bäume, eine Weblade. Alles sieht so aus, wie ein großer Rahmen mit eingespannten Kettfäden:
„Der Volksname für den vertikalen Teppichwebstuhl ist ‚Krosna‘. In der zentralen Ukraine war diese Art des Webstuhls am meisten verbreitet. Mit ‚Krosna‘ kann man die kompliziertesten Techniken der Teppichweberei ausführen, unterschiedlichen Rohstoffe verwenden und auf solche Weise künstlerische Meisterwerke schaffen.“
Die Handanfertigung eines Teppichs ist auf der Geflechtbindung der Kettfäden und Schussfäden basiert. Während der Arbeit ist jede Hand mit ihrer eigenen Aktivität beschäftigt: die rechte übernimmt die hinteren Kettfäden und und linke – die vorderen. Die komplizierteste und die am meisten in der Ukraine (in Poltawschtschyna) verbreitete Technik ist „Kreisen“, wobei die Farbschussfäden zwischen den Kettfäden frei gelegt werden, und somit ganz weiche Linien entstehen.
Um den Stoff dichter zu machen, benötigt man einen Kamm. Olha sagt, dass man es auch händisch machen kann, aber besser wäre es mit einem Holzkamm, denn wenn die Fädenspitzen bleiben, kann man die so wegschneiden und die werden nicht mehr unter eigenem Gewicht ausgeriffelt, weil sie dicht aneinander liegen.
Jewhen färbt die Fäden selbst. Die Familie Piljugin kauft weiße natürliche Schafwolle. Die Fäden werden mit modernen haltbaren Farbstoffen für Wolle gefärbt.
Es ist nicht so einfach, im Voraus zu rechnen, wie viele Fäden man für einen Teppich benötigt. Sehr viel ist vom Muster selbst und von der Anzahl der Schattierungen abhängig, erklärt Olha.
Die Teppichweberei war nie ein billiges Handwerk, man benötigt viel Rohstoff und lange Stunden harter Arbeit dafür. Die Selbstkosten sind dann nicht so gering.Und aktuell ist nichts anders geworden. Die Selbstkosten von so einem Teppich bleiben immer noch hoch.
„Die Leute kennen sich einfach nicht aus, wie das gemacht wird. Sehr oft ist die die traditionelle Kunst zu billig und zu einfach geschätzt. Niemand denkt darüber nach, wie viel Zeit, Kraft, Geduld, Erfahrung, Meisterschaft dafür benötigt werden. Und wir sprechen nicht von Rohstoffen. Man muss lange lernen, um solche Kunstwerke zu schaffen.“
Die Teppichwebereischule
Das Reschetyliwkaer Kunstlyzeum existiert bereits seit 80 Jahren. Bis 2016 hatte die Lehrastalt den Status einer Kunstfachhochschule, aber nach der Verabschiedung des Dekommunisierung-Gesetztes, wurde sein Name geändert.
Die Lehre hier dauert zwei Jahre lang und danach bekommt man eine Qualifikation des Meisters für Stickerei, Teppichweberei, Schneiderei und Malerei.
Es gibt Lehrlinge aus verschiedenen Regionen der Ukraine im Lyzeum, die lernen die Besonderheiten der Volkskunstarten von allen Regionen der Ukraine. Die Lehrer unterrichten Theorie, Basis des Handwerks, geben Beispiele für das Erfüllen der Kunstwerke.
Die Teppichweberei unterrichtet im Lyzeum der ehemalige Maler der Reschetyliwkaer Fabrik Petro Schewtschuk. Seinen Lehrlingen bringt Petro die Webereitechniken bei und erklärt die Besonderheiten der Poltawer Webereitraditionen:
„In Poltawschtschyna gibt es keine Kontraste. Vorwiegend gibt es Pastell- und Naturfarben. Weich und ruhig ist die Melodei dieser Gegend. Das ist eine historische Besonderheit der Poltawer traditionellen Kunstwerke und die modernen Meister bemühen sich, um diese Tradition aufzubewahren.“
Petro erzählt, dass er Sorgen wegen der Zukunft seiner Lehrlinge hätte. Die Teppichweberei verlangt viel Geld und es gibt nicht immer genug Kapazitäten, um die Skizzen dann in einen Teppich zu verwandeln. Nach dem Stillstand der Reschetyliwkaer Fabrik ist es für junge Meister kompliziert geworden, eine Facharbeit zu finden, weil es nicht so viele Teppichwebereiunternehmen gäbe. Und die Absolventinnen und Absolventen des Lyzeums werden nicht sofort für die Arbeit an der Reschetyliwkaer Werkstatt zugelassen. Der Direktor der Werkstatt erklärt, dass man Zeit und Erfahrung dafür benötigt.
„Um jedes Kunstwerk zu vollenden gibt es nicht genug Geld. Wenn man bei der Fabrik so was macht, da schafft man sofort, erzählt Petro, da investiert man nichts. Die Prozesse und die Arbeit sind ganz bei der Fabrik, aber das Kunstwerk ist von einem bestimmten Meister, der hat sein Kunstwerk der Welt gezeigt. Und um das zu machen, benötigt man sein eigenes Geld hier. Und derzeit gibt es nicht immer genug Geld.“
Darüber hinaus verzichten sich die modernen Unternehmen auf die Traditionen und gehen gezielt auf den Massenmarkt, die produzieren das, was gut verkauft wird, so Petro. Dann ist die Teppichweberei kein Kunstberuf mehr, sondern eine mechanisch ausgeübte Arbeit.
Olha erzählt, dass den Kindern am Kunstlyzeum Handwerk beigebracht und der Kunstanteil des Berufs kaum beachtet sei.
Es hängt von der inneren Welt des Künstlers, von seiner Ausbildung und von seinen Prioritäten ab, ob sein Teppich dann zum Meisterwekr oder zum Kitsch wird, erklärt Olha. Deswegen können zwei Meister gleiche Farben und Fäden benutzen, aber ihre Werke werden komplett unterschiedlich sein. Da die Unternehmen immer anstreben, die Produktivität durch Mechanisierung zu erhöhen, führt es zur Vereinfachung der Kompositionen und Einschränkung des Kolorits. Diese Waren werden gezielt als eine Reaktion auf die Nachfrage produziert.
Olha hat auch jüngere Lehrlinge, sie bringt denen Malerei und Weberei bei. Nun gibt es 12 Lehrlinge in den drei Gruppen der Werkstatt:
„Mehr auf einmal geht es nicht, denn jeder von denen braucht eine maximale Aufmerksamkeit – dies sind aber Kleinkinder. Mal abgelenkt und die Farbe ist schon überall.“
Die Frau hat viel Arbeitserfahrung mit Kindern, denn 10 Jahre lang unterrichtete sie an der Poltawer Kunstschule. Sie sagt, dass es so schön wäre, mit Kindern zu arbeiten, viel mehr Zeit nahmen eigentlich die Unterrichtsplanung und andere Formalitäten.
Deswegen hat sich Olha für eine nicht formale Bildung in ihrer Werkstatt entschieden. Die Frau freut sich so sehr, wenn kleine Kinder zu ihr kommen:
„Die sind so herzlich, die sind noch nicht verwöhnt, die haben noch keine Komplexe. In der Schule werden denen Stereotype beigebracht und es ist dann schwer, die abzubauen. Ich erzähle denen, dass eine Katze lila sein kann und die Vögel auch grün sein können. Der Himmel muss nicht unbedingt blau sein. Der Himmel kann auch pfirsichrot sein – die Laune spielt die Hauptrolle dabei.“
Die Meisterin meint, dass es noch zu früh sei, den Kindern die Teppichweberei beizubringen, weil die Koordination der Bewegungen bei den Kleinen noch nicht so entwickelt sei. Man muss noch 10 Jahre lang warten. Zuerst müssen die Kinder mit der Malerei, Koloristik und Komposition zurechtkommen:
„Aber die sehen in dieser Werkstatt, wie man das macht, die interessieren sich dafür. Ich sehe die Augen von denen und die wollen schon mitmachen. Und sie nehmen sogar einen Weberkamm in die Hand, wobei ich nicht bei ihnen bin, höre ich dann einen charakteristischen Geräusch davon.“
Olha bringt ihre Kunst der jüngeren Generation der Familie Piljugin, ihrem achtjährigen Sohn Pawlik, bei:
„Er wollte so was malen, dass die Blumen wachsen und die Vögel hier statt Blättern wachsen“, zeigt Olha die Malerei ihres Sohnes. „Derzeit erkläre ich, welche Farben man da kombinieren kann, wie man die Blumen entfalten kann. Er weiß schon, dass sobald die Sonne untergeht, ist alles von einer ganz anderen Farbe.“
Die Frau sagt, dass sie glücklich sei, ihre Kenntnisse mit der jüngeren Generation zu teilen. Die pädagogischen Fähigkeiten hat sie von ihrem Vater, seine Lehrererfahrung ist über 30 Jahre. Laut Piljugin ist es sehr wichtig, dass die Teppichweberei erhalten bleibt und sich in Zukunft weiterentwickelt.
Die Kunstwerke von Olha sind sehr berühmt, weil sie die bei mehreren Ausstellungen und in Museen präsentiert:
„Hier ist, zum Beispiel, mein Werk ‚Koljada‘. Ganz viele Leute nutzen das hier als eine Postkarte und es wird nachgemacht. Ich sah schon sowohl Glasmalerei, als auch Batik.“
Olha liebt ihr Fach sehr. Sie ist überzeugt, dass sie nichts anderes machen könnte. Die Meisterin macht darüber Witze, dass die Leute, die keine Ahnung von Teppichweberei haben, ihr manchmal sagen: „Du bist nicht von diesem Planeten! Was passiert eigentlich in deinem Kopf? Wie kann man denn sowas machen?“ Aber für Olha ist ihre Kunst etwas ganz natürliches, das machte sie immer sehr gerne noch von Kindheit an:
„Wenn ich mit Fäden arbeite, bin ich in Harmonie und freue mich, weil ich alles, was ich will, machen kann und alle meine Ideen da in Form eines Teppichs darstellen kann. Die Fäden sind mir sehr nah. Ich liebe diesen Werkstoff und mache meine Arbeit mit Liebe.“
Alle Künstler verkaufen ihre Meisterwerke. Die Familie Piljugin ist keine Ausnahme. Olha sagt, dass die Teppiche nicht so oft gekauft werden, weil die nicht so günstig seien:
„Na klar, unsere Kunstwerke sind wie unsere Kinder. Wenn etwas davon weg muss, sind wir schon traurig. Aber wir freuen uns sehr, dass jemand gute Emotionen dank meinem Teppich haben würde. Ich habe die Teppichweberei für mich nicht umsonst ausgewählt. Ich folge diesem Weg schon mehr als 20 Jahre lang.“
Wie wir gefilmt haben
Schaut euch unseren Video-Blog aus Poltawschtschyna über unseren Weg nach Reschetyliwka, über den Anfang der Geschichte vom Bildhauer Walerij und über unsere Idee, eine Reise nach Griechenland für ihn zu organisieren (Schaut ein Tagebuch seiner Reise nach Griechenland), und auch über die Gastfreundlichkeit im Mgar Kloster, an.