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Bevor feindliche Panzer in ein Land eindringen, „überrollen“ Aggressorstaaten seine Kultur: Sie unterdrücken die einheimische Kultur und drängen dem Gebiet die eigene auf. Indem gewünschte Narrative in einem Kulturfeld verbreitet werden, werden günstige Bedingungen für hybride Kriegsführung geschaffen. Die Eindringlinge zählen darauf, dass sie wegen der Loyalität zu ihrer Kultur freie Hand auf dem Gebiet anderer Länder haben werden. Nach einem solchen Szenario arbeitet Russland seit Jahren: Es eignet sich ukrainische Künstler:innen an, errichtet Monumente für seine Anführer und verbreitet seine drittklassigen Inhalte in den Medien. Sprüche wie „Kultur ist nicht an der Zeit“ oder „Was kann Puschkin denn dafür?“ werden zu schädlichen Narrativen, die die nationale Sicherheit der Ukraine bedrohen.

„Tarnnetz für russische Waffen“ ist ein multimediales Projekt über die Bedeutung des Cancelns der russischen Kultur während der großangelegten Invasion der Ukraine durch Russland. Gemeinsam mit unseren Partnern, dem Lviv Media Forum (LMF) und House of Europe wollen wir erforschen, wie die russische Kultur den Krieg fördert und warum es wichtig ist, sie zu boykottieren.

„Von nun an wird es bei uns nichts Russisches mehr geben. Gar nichts.“, sagt eine Ukrainisch- und Russischlehrerin einer Charkiwer Schule mit Tränen in den Augen. Anfang Juni wurde diese Bildungseinrichtung vom russischen Militär mit Raketen beschossen.

Schon seit einigen Monaten befindet sich die Schule in einem halb zerstörten Zustand: Auf dem Boden liegen Schulbücher herum, Schulbänke sind umgeworfen. Doch an den Wänden hängen immer noch Anschlagbretter mit Aushängen. Über der Tafel in einem der Klassenräume hängt zudem das Porträt von Wladimir Dal, einem aus Luhansk stammenden dänisch-deutschen Lexikographen, dem Autor eines der umfangreichsten Wörterbücher der russischen Sprache. Er arbeitete übrigens unter dem Pseudonym „Kosak Luhanskyj“ und ein ukrainisches Wörterbuch, welches er ebenfalls erstellt hatte, durfte er Mitte des 19. Jahrhunderts nicht herausgeben.

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Die Autorenschreibweise der russischen Vor- und Nachnamen wurde hier ohne Änderung übernommen.

Weiter unten ist ein Zitat des russischen Schriftstellers Maxim Gorki zu sehen: „Liebt Bücher, sie werden euch das Leben erleichtern. Sie werden euch Respekt vor dem Menschen und euch selbst beibringen, den Verstand und das Herz mit dem Gefühl der Liebe zur Welt und zur Menschheit beflügeln.“

Vor zwölf Jahren, 2010, wurde in eben dieser Schule das einzige Museum für den russischen Dichter Sergej Jessenin in der Ukraine eröffnet. Damals waren die Stadtbewohner voller Stolz und Freude über die Eröffnung und ahnten nicht, dass zwölf Jahre später ausgerechnet eine russische Rakete das Gebäude stark beschädigen wird.

Nord-Saltiwka
Eines der am dichtesten besiedelten Wohnviertel Charkiws, erbaut in den 80er Jahren. Die russische Armee zerstörte hier über 70% der Gebäude, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels dauert der Beschuss immer noch an.
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Das imperiale Wunschdenken Russlands stammt noch aus den Zeiten des Moskauer Großfürstentums. Als Peter der Große an die Macht kam, normalisierte er die Praxis der Eroberung anderer Staaten mit dem Ziel der Gebietserweiterung des eigenen Landes. Es blieb jedoch nicht bei Landraub: Die Moskowiten eigneten sich auch die Geschichte der Kyjiwer Rus an und begannen mit der Annäherung an Europa.

Der Wunsch Peters des Großen, das Russische Kaiserreich in den europäischen Kontext zu integrieren, war der Grund für die Initiierung zahlreicher Reformen zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die den asiatischen Staat in eine junge europäische Monarchie verwandeln sollten. Peter der Große studierte in Europa und war ein großer Anhänger der westlichen Welt. Um das Imperium zu legitimieren, musste eine historische Begründung für ein europäisches Moskowien geschaffen werden, die zivilisatorische Zugehörigkeit zum Westen musste bewiesen werden. Genau zu dieser Zeit fiel der Entschluss, das Großfürstentum Moskau zum Russischen Kaiserreich umzubenennen und sein Gebiet durch die Eroberung von Nachbarstaaten zu erweitern.

Die Dualität der russischen Kultur, wenn sich Russen einerseits zu Europäern deklarieren und andererseits typisch asiatisch verhalten, wurde zu eben dieser „mysteriösen russischen Seele“, die seit Jahrhunderten die westliche Welt faszinierte. Dieses Interesse ist immer noch nicht erloschen, denn das Zarenrussland betrieb viele Jahre lang die einflussreiche „Soft Power“-Politik in anderen Ländern. Viele Europäer, obwohl sie die Folgen des großangelegten Krieges im Jahr 2022 vor Augen haben, verstehen daher immer noch nicht (oder wollen es nicht verstehen), warum die russische Kultur gecancelt werden sollte. „Das ist doch nur Putins Krieg“, sagen sie. „Was hat Kunst damit zu tun?“

Der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak erzählt, wie einige seiner ausländischen Kollegen, gebildete, progressive Menschen, ausgerechnet wegen der Kultur begannen, Russland zu unterstützen:

„Zu Beginn des großangelegten Krieges, am ersten oder zweiten Tag, erhielt ich einen Brief von einem älteren Professor, einem sehr netten Menschen, dem ich viel verdanke. Er begann irgendwann, sich mit russischer Kultur zu befassen, weil er mal Tschaikowsky gehört hat. In dem Brief schrieb er: ‚Ich hoffe, dass Putin euch schnell erobert und alles zur Normalität zurückkehrt.‘ Er sagte das von Herzen, ohne Bosheit. Er hatte nicht das Gefühl, russische Kultur sei etwas Schlimmes.“

Mit Prof. Jaroslaw Hrytsak unterhielten wir uns in Lwiw, dessen Straßen seit dem 24. Februar 2022 täglich Zeugen von Trauerzügen für gefallene ukrainische Kämpfer werden. Die Sommerterrassen der Cafés sind voller Leben und Gespräche, doch schon hinter der nächsten Ecke kann man Menschen in dunkler Kleidung begegnen, fremdes Schluchzen hören. Zufällige Passanten halten an, trauen sich nicht, die kummervolle Stille zu stören. Soldaten in ukrainischer Uniform tragen zwei Gräber vorbei, während alle Anwesenden auf die Knie gehen, denjenigen Respekt zollend, die ihr Leben in diesem Krieg, der noch vor acht Jahren, 2014, begann, verloren. So wird nun dem 22-jährigen Wladyslaw Ljeonjenko und dem 33-jährigen Anton Hawrylow die letzte Ehre erwiesen. Ist die russische Kultur für ihren Tod verantwortlch? Von den Anwesenden wird sich gerade wohl kaum jemand darüber Gedanken machen.

Jede Woche werden auch in der Hauptstadt gefallene ukrainische Soldaten begraben. Der Michaelplatz in Kyjiw wurde nach der Revolution der Würde zu einem Ort der Trauer und des Widerstands. Damals, im November 2013, wurde das St. Michaelskloster zu einem Rückzugsort für die Protestler:innen in der Hauptstadt, sie hielten sich dort Tag und Nacht auf. Und nach einem wiederholten Versuch, die Protestler:innen gewaltsam auseinanderzutreiben, erklang in dem Kloster zum ersten Mal seit 800 Jahren das Sturmläuten.

Heute erinnern die Porträts der Helden der Himmlischen Hundert, die an den Mauern der Klosteranlage hängen, an die damaligen Ereignisse. Nun kamen Bilder der Verteidiger:innen der Ukraine hinzu, die im großangelegten Krieg 2022 umgekommen sind. Für einen Moment kann es scheinen, sie würden alle auf die zerstörte russische Militärtechnik blicken, die unweit auf dem Michaelsplatz als Beweis der Invasion der russischen Armee und deren Verbrechen platziert wurde.

„Man hat das Gefühl, sie sahen Kinder und schossen absichtlich“, sagt eine junge Frau zu ihrem Begleiter, während sie eines der Exponate betrachten, einen von Kugeln durchsiebten PKW mit der großen Aufschrift „Kinder“.

Das Auto zieht Aufmerksamkeit auf sich, es bildet einen Kontrast zu der ausgebrannten russischen Technik. Im Wageninneren liegen noch die Sachen der Zivilpersonen verteilt, auf der Frontscheibe liegen vertrocknete Blumen mit einem schwarzen Band. Kinder und Erwachsene bleiben am längsten bei diesem Auto stehen und betrachten jedes Detail genau.

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Der Kunsthistoriker Illja Lewtschenko erklärt, warum man klar zwischen Kunst und Kultur unterscheiden sollte. Die Kunst ist ein Bestandteil der Kultur, gemeinsam mit der Alltagskultur, Traditionen, Werten und Lebensweise einer jeden separaten Nation. Die Kunst beeinflusst die Kultur und die Kultur formt wiederum den Menschen.

Der Schriftsteller Andrij Kurkow fügt zudem eine zutreffende Bemerkung über die Besonderheit der russischen Kultur hinzu:

„Das Gesetz der Stärke und Gewalt existierte in Russland schon immer, vor allem in der Provinz. Bis vor kurzem war in der russischen Filmkunst (damit sind Arthouse-Filme des letzten Jahrzehnts gemeint – Red.) das Thema der sozialen Ungerechtigkeit sehr beliebt. Diese Filme wurden für die ausländischen Zuschauer:innen gedreht, sie erhielten verschiedene Preise bei internationalen Festivals. Dabei schaute sie sich in Russland selbst niemand an. Denn bei den Russen gab es und gibt es keine Nachfrage nach der Gerechtigkeit, es glaubt einfach niemand daran. Das bedeutet, dass dort Ungerechtigkeit die Norm ist. Und wo die Ungerechtigkeit die Norm darstellt, gehören alle Wege, diese Ungerechtigkeit zu erreichen, zur Tradition.“

Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen dem, was Russland nach außen projizierte und welchen Einfluss die Kunst auf die inländische Zielgruppe hatte. Während russische Werke für die westliche Gesellschaft wie mysteriöser osteuropäischer Fatalismus wirkten, verstärkten sie für Russen nur den Glauben daran, dass der „kleine Mann“ in der großen Welt nichts entscheidet. Und dass man sich besser dem Stärkeren unterordnet, statt zu kämpfen und zu sterben. Die russische Kunst bot der russischen Propaganda Deckung und die Propaganda wurde wiederum zur Grundlage für einen Eroberungskrieg.

Zwei Frauen (offensichtlich Russinnen) mittleren Alters stehen in der Schlange in einem Wiener Café:

„Ey, Djewuschka! (russ.: Hey, Fräulein!)“, wendet sich eine der Frauen an die Kellnerin.

Die Mitarbeiterin schaut sie verständnislos an und geht weiter.

„Nje panimajet, schto li? (russ.: Versteht sie nicht, oder was?)“, fragt die Frau ihre Begleitung.

Die lang andauernde russische Okkupation der Länder, die zur Einflusszone des Russischen Kaiserreiches und anschließend der Sowjetunion gehörten, brachte dem Russischen den Status einer internationalen Sprache ein und festigte bei den Russen die Überzeugung, dass alle sie verstehen müssten. Gleichzeitig formte sich in der westlichen Gemeinschaft der Glaube, dass man nur Russisch können müsse, um das gesamte Osteuropa zu verstehen. Das nutzte Russland aktiv aus, um weltweit seine Propagandanarrative zu verbreiten. Mit dem Beginn der großangelegten Invasion formte sich bei den Ukrainern endgültig der Wunsch, sich von russischer Sprache als einem der Aggressionssymbole zu befreien. Für Russen wurde die Sprache zu einem Mittel der Gebietsmarkierung: Wenn man irgendwo Russisch spricht, werten sie das Gebiet buchstäblich als eigenes Territorium und haben ihrer Meinung nach das Recht, dort einzudringen und eigene Regeln aufzustellen.

Sprachaktivist aus Lwiw Swjatoslaw Litynskyj erklärt:

„2021 wurde in der Ukraine eine Volkszählung durchgeführt: Die Leute wurden gefragt, welche Sprache sie als ihre Muttersprache betrachten. Würde man nach dieser Umfrage eine Karte erstellen, wären 90% der Gebiete, in denen ein Teil der Bevölkerung Russisch als Muttersprache bezeichnet hat, zurzeit besetzt. Wir sehen, dass die sprachlichen Grenzen beinahe komplett (+/- 20 km) mit der Frontlinie übereinstimmen. Und dass nicht nur unsere Armee, sondern auch die ukrainische Sprache einen kraftvollen Schutz darstellt.“

Er fügt hinzu, dass sich 2012 der Anteil der ukrainischen Sprache im öffentlichen Raum schnell zu verringern begann. Unter anderem verschwanden plötzlich Laptops mit ukrainischer Tastatur. Das Kolesnytschenko-Kiwalow-Gesetz (in Kraft von 2012 bis 2018), das Ukrainisch faktisch an zweite Stelle verschoben hatte, wurde verabschiedet. Swjatoslaw sagt, damals spürte er, dass die damalige Regierung danach strebte, die Mentalität der Ukraine als eine der russischen Kolonie zu konservieren und dass man dagegen ankämpfen müsse. Denn zuerst schwächen Imperien die Kultur der Völker und anschließend kommt dann die Armee.

Anfang 2000er war Lwiw eine der wenigen Städte, in der es möglich war, in eine komplett ukrainischsprachige Umgebung einzutauchen. Damals kam es in dieser Stadt zu einer Tragödie, die eng mit der Sprachfrage verbunden war. Der ukrainische Komponist Ihor Bilosir wurde in einem der örtlichen Cafés ermordet. Den Leuten am Nachbartisch gefiel es nicht, dass der Volkskünstler mit seinen Freunden ukrainische Lieder sang. Der Gesang übertönte die russische „Knastmusik“, die von den Cafégästen gehört wurde. Das Wortgefecht wurde von der Polizei unterbrochen, doch nachdem alle auseinandergingen, wurden der Komponist und sein Freund auf dem Heimweg überfallen. Ihor wurde zu Tode geprügelt. Zu seinem Begräbnis erschienen mehr als 100.000 Menschen. Die Mörder wurden bestraft, doch das Ereignis festigte für eine lange Zeit das Gefühl, dass man für Ukrainisch getötet werden konnte.

Während der sowjetischen Okkupation (1944–1991) wurde in Lwiw eine große Anzahl von russischen Militärs angesiedelt, darunter auch Vertreter des NKWD. Damals wurde Lwiw für viele Jahre zu einer überwiegend russischsprachigen Stadt. Doch schon seit den 60ern zogen die Bewohner:innen der umliegenden Orte verstärkt nach Lwiw und brachten Lwiw die heimische ukrainische Sprache zurück.

Zum wichtigsten Treffpunkt der russischen Diaspora im Lwiw wurde die Puschkin-Vereinigung, die zwischen 1996 und 2017 aktiv war. Bei den Treffen der Vereinigung wurde ständig die Notwendigkeit der Wiederherstellung des Russischen Kaiserreiches diskutiert und die Existenz der ukrainischen Nation in Frage gestellt. Puschkins Büste auf der Gebäudefassade diente als gute Tarnung für die antiukrainische Tätigkeit des Zentrums, denn Kulturschaffende wurden nicht als jemand wahrgenommen, der dem Staat schaden könnte. Heute befindet sich im renovierten Gebäude ein Hub für Veteranen, das „Haus des Kriegers“. Hier wird den Veteranen und ihren Angehörigen soziale, rechtliche und psychologische Hilfe angeboten. Außerdem werden dort vielfältige Jugendprojekte umgesetzt. Von Puschkin auf der Fassade blieb keine Spur.

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Während der letzten vier Jahrhunderte verübte Russland ein Linguizid an der ukrainischen Sprache. Das Walujew-Zirkular aus dem Jahr 1863 hat das ukrainischsprachige Verlagswesen faktisch vernichtet und dadurch die Entwicklung der ukrainischen Literatur für eine lange Zeit ausgebremst. Der Emser Erlass von 1876 machte alles noch schlimmer, die Nutzung der ukrainischen Sprache wurde in allen öffentlichen Räumen (Theater, Kirchen, Musik etc.) verboten, außerdem kam es zum vollständigen Druck- und Einfuhrverbot ukrainischsprachiger Bücher.

„Was kosten die Ogurtsy… Ogir… Mist, die Gurken?“, versucht ein Mann mittleren Alters auf dem Prywos-Markt in Odesa (einem der ältesten Lebensmittelmarkt der Stadt, der sich im historischen Zentrum befindet), Ukrainisch zu sprechen.

„So lange hat man uns die Katsapen-Sprache aufgedrängt, dass ich mich an meine eigene nicht mehr erinnern kann“.

„Ich möchte auch gerne anfangen, Ukrainisch zu sprechen, aber ich traue mich nicht“, wirft eine daneben stehende Frau auf Russisch ein.

Noch im 19. Jahrhundert beschrieb der österreichische Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Karl Emil Franzos (aus Galizien stammend, lebte 10 Jahre lang in der Ukraine) Odesa als eine europäische Stadt. Seinen Worten nach konnte man dort Vertretern jeglicher Nationalität begegnen. Unter anderem hörte man auf den Straßen der Stadt häufig Gespräche und Lieder auf Ukrainisch: „Hey, Kosaken! Hey, Kosaken! Hört ihr den Ruf eures Hetmans?… So singen sie das Kampflied, zu dem einst ihre Väter den Überfall tödlicher Feinde zurückschlugen“. Franzos sprach von den Ukrainern als von einer Nation, die wohl am allermeisten unter Aggressionen ihrer Nachbarstaaten litt. Vor allem unter der des Russischen Kaiserreichs.

Doch schon im 20. Jahrhundert wurde es fast unmöglich, Ukrainisch in Odesa zu hören. Die durch die sowjetische Regierung geschaffene stereotype Vorstellung, dass nur Leute vom Land Ukrainisch sprechen würden und die richtigen Stadtleute alle russischsprachig wären, funktionierte nur allzu gut. Dennoch gab es Versuche, sich der allgegenwärtigen Russifizierung zu widersetzen. So wird bereits seit 2009 zum Unabhängigkeitstag das Festival der ukrainischen Kultur „Wyschywanka-Festival“ durchgeführt, seit 2016 wird der Kinder- und Jugendwettbewerb für ukrainische Lieder „Auf den Schwingen der Lieder – Aus dem Altertum in die Moderne“ veranstaltet. Und nun, nach der großangelegten Invasion, wird Odesa zunehmend ukrainischsprachig. Dabei helfen den Stadtbewohnern verschiedene Sprachclubs, die nach dem 24. Februar erschienen sind.

„Und wenn ihr Katharina abreißt, was soll dann stattdessen hinkommen?“, antwortet eine Frau aus Odesa mit einer Gegenfrage auf die Frage, ob man das Denkmal für die russische Kaiserin im Stadtzentrum abreißen sollte. Katharina II. ist eine historische Persönlichkeit, über die sich die Bewohner:innen von Odesa erbittert streiten. Die russische Kaiserin deutscher Abstammung vernichtete systematisch die ukrainische Identität: Sie eliminierte das Kosakentum, machte Ukrainer zu Leibeigenen, schrieb die Geschichte der Ukraine um und verbot ihre Kultur. Zudem war Katharina II. nie in Odesa und starb zwei Jahre nach der Stadteroberung durch die ukrainischen Kosaken.

Die Gestalt von Katharina II. wird immer noch aktiv von russischen Propagandisten ausgenutzt. Ihr Denkmal erschien in Odesa im Jahr 1900. 20 Jahre später wurde es durch die Sowjetregierung demontiert. Erneuert wurde es erst 87 Jahre später, 2007. Interessanterweise hielt Putin im gleichen Jahr seine berühmte Münchener Rede, in der er faktisch einen Konfrontationskurs mit dem Westen und den Wunsch zur Wiederherstellung des Russischen Kaiserreichs verkündete. Übrigens wurde in Kyjiw im selben Jahr ein Denkmal für den russischen Schriftsteller und Ukrainophoben Michail Bulgakow errichtet. Ein Jahr später wird Russland Georgien überfallen, noch sechs Jahre später die Ukraine. Währenddessen steht das Denkmal für die russische Kaiserin in Odesa immer noch. Die „Denkmalfrage“ ist nicht nur für Odesa, sondern für das gesamte Land, in dem immer noch unzählige Artefakte aus Kaiserreichs- und Sowjetzeiten existieren, hochaktuell.

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Infolge der langjährigen kolonialen Politik Russlands gegenüber der Ukraine ist es manchmal schwer festzustellen, welche Bestandteile sowjetischer Kunst ukrainisch und welche russisch waren. Zu Sowjetzeiten befand sich die ukrainische Kultur im Zustand systematischer Vernichtung: Jegliche nationalen Besonderheiten sollten einfach ausradiert und russifiziert werden.

Russland hat die ukrainische Kultur jahrhundertelang unterdrückt, indem es sowohl den Ukrainern selbst als auch der Welt das Gefühl ihrer Minderwertigkeit vermittelte. Damit hatte es teilweise Erfolg. Die Vernichtung der ukrainischen Intelligenz und ihrer Werke sowie systematische Versuche, alle Ebenen des Lebens der Ukrainer zu russifizieren, blieben leider nicht wirkungslos. Noch bis 2014 lebte in der ukrainischen Gesellschaft der Mythos über die große russische Kultur. Auch wenn die Ukraine am meisten unter dieser aggressiven kolonialen Politik gelitten hat, heißt das nicht, dass die Kultur anderer Länder davor sicher ist. Indem es den großangelegten Krieg begann, zeigte Russland auch dem Rest der Welt endlich seine wahren Ziele und die Methoden, mit denen das „Große Russland“ zusammengehalten wird.

Doch nach fast einem halben Jahr des großangelegten russisch-ukrainischen Krieges wird die Welt des Themas zunehmend überdrüssig. Stattdessen wird immer öfter darüber diskutiert, ob die russische Kultur überhaupt etwas mit dem Krieg zu tun habe. Genau darauf verlässt sich Russland. Das Canceln der russischen Kultur ist ein Selbstverteidigungsmittel für jeden Staat, dessen Eigenständigkeit von Russland bedroht wird. Es ist eine wichtige Arbeitsrichtung, die einiges an Anstrengung und Zusammenhalt erfordert. Die Krankheit des Imperialismus versucht sich auszubreiten, doch es steht in unserer Macht, sie aufzuhalten.

unterstützt durch

Das Projekt wird mit Unterstützung des Lviv Media Forum sowie der EU im Rahmen des Programms House of Europe realisiert.

Beitragende

Projektgründer:

Bogdan Logwynenko

Autorin des Textes,

Fotografin:

Mariam Schelija

Chefredakteurin:

Natalija Ponedilok

Redakteur:

Anja Jablutschna

Fotograf:

Witalij Hnidyj

Kameramann:

Oleksij Krassawin

Anton Ryschych

Filmeditor,

Kameramann:

Andrij Pryjmatschenko

Tontechniker:

Wiktor Kormanowskyj

Sprecher:

Pawlo Holow

Bildredakteur:

Jurij Stefanjak

Grafiker:

Oleksandr Komjachow

Übersetzerin:

Wiktorija Dimitraki

Übersetzerin:

Olena Saltuk

Übersetzungsredakteur:

Roksoliana Stasenko

Content-Manager:

Anastasija Schochowa

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