„Russland ist der Anti-Westen“: Diese These hört man oft in den Medien. In der Tat präsentiert sich dieses Land eher als den Gegensatz zu etwas anderem als über einen eigenen Weg. Gleichwohl gibt es dabei vor, über ein westliches Verständnis von Demokratie und Werten zu verfügen. Doch die „russische Welt“ ähnelt mehr einem Zerrspiegelkabinett, das die Werte und Ideen der zivilisierten Welt verdreht und entstellt.
Russland bezeichnet sich als eine Föderation, obwohl seine Kreise weder über deklarierte Selbstverwaltungsbefugnisse noch über Selbstständigkeit verfügen. Es nennt sich eine Demokratie, obwohl es keine demokratische Tradition hat und schon seit über 20 Jahren von einem Diktator regiert wird. Es behauptet, den Wert des Menschenlebens und die Meinungsfreiheit zu achten, sperrt jedoch jeden ein, der es kritisiert. In diesem Artikel betrachten wir Russland als einen Imitatorstaat, der seine Verbrechen hinter der Illusion einer zivilisierten Gesellschaft versteckt.
Umsetzung der Demokratie
Wahlen
Das Recht zu wählen und gewählt zu werden ist die Basis der demokratischen Regierungsform. Echte Wahlen sind ein notwendiger und grundlegender Bestandteil einer Gesellschaftsordnung, in der Menschenrechte geschützt und deren Einhaltung gefordert wird. Moderne Wahlsysteme stehen regelmäßig in der Kritik, insbesondere wegen Manipulationen, Fälschungen usw. Dennoch bleiben Wahlen eine wichtige demokratische Einflusskraft. So hat im November 2022 eine Rekordanzahl von jungen Menschen bis 29 an den US-Wahlen teilgenommen und so für einen Sieg der Demokraten in vielen Wahlkreisen gesorgt.
Die russische Geschichte hat nicht viele Beispiele von gesundem Wettbewerb in der Politik zu bieten. Zu Zeiten des Russischen Imperiums unterlagen die Wahlen in die Staatsduma vielen Einschränkungen: nach Geschlecht, Alter, Vermögen und sogar Moral. Und während der Sowjetunion herrschte ein Einparteiensystem, bei dem die Regierungsmacht konstitutionell den Kommunisten gehörte. Im derzeitigen Russland, das zumindest versucht hatte, sich als einen demokratischen Staat zu deklarieren, degradieren die Wahlen allmählich zu einer Farce, bei der die Ergebnisse schon vor der Zählung der Stimmen feststehen.
Diashow
Dies wurde insbesondere nach 2000 bemerkbar, als Wladimir Putin an die Macht kam. Seitdem unterliegt der gesamte Wahlprozess im Land faktisch der Kontrolle des Kremls. Seit 2003 schaffen es ständig die gleichen vier Parteien in die Staatsduma: Einiges Russland, Kommunistische Partei der Russischen Föderation, Liberal-Demokratische Partei Russlands (pseudoliberale und pseudodemokratische Partei, die jahrelang durch Wladimir Schirinowski angeführt wurde) sowie Gerechtes Russland (Links-Mitte-Partei, die die Politik von Einiges Russland unterstützt).
Bei den Parlamentswahlen 2011 haben internationale Organisationen zahlreiche Verstöße sowie das Fehlen eines echten Wettbewerbs zwischen den Parteien festgestellt. 2016 wurde die Anwesenheit von Beobachtern bei der Dumawahl durch das russische Verfassungsgericht komplett verboten. Im gleichen Jahr wurden illegale Wahlen auf dem Gebiet der temporär besetzten Krym durchgeführt. Die Wahl wurde durch die Ukraine, die USA, die Parlamentarische Versammlung des Europarates sowie eine Reihe anderer Länder nicht anerkannt. 2021 erfolgte die Dumawahl mit zahlreichen Fälschungen und ungleichem Zugang der Kandidaten zu Medien und Wählern. Außerdem wurden die gegen die Regierungspolitik auftretenden Parteien als extremistisch eingestuft und nicht zur Wahl zugelassen.
Was die Präsidentenwahl angeht, so besetzt Wladimir Putin das Amt des Landesoberhaupts seit 2000, mit Ausnahme des Zeitraums 2008-2012, als Dmitri Medwedew das Amt innehatte, die Macht jedoch faktisch bei dem vorherigen Präsidenten verblieb. 2024 müsste Putins maximale Regierungsdauer ablaufen, doch hat man in Russland Änderungen an der Verfassung vorgenommen, die seine vorherigen Regierungszeiträume annullieren und ihm somit eine erneute Wahlteilnahme ermöglichen. Er kann sich nun zum 5. Mal im Jahr 2024 und sogar zum 6. Mal im Jahr 2030 zur Wahl aufstellen lassen. Im Grunde wird Putin dadurch zu einem Diktator mit unbegrenzter Macht und reguläre Wahlen werden nur noch zum Zweck der Imitation eines demokratischen Prozesses durchgeführt.
Referenden
Referenden sind eine Form der direkten Demokratie, die es den Wählern ermöglicht, nicht für einen bestimmten Kandidaten oder Partei, sondern über politische, konstitutionelle oder gesetzliche Fragestellungen abzustimmen. Meistens werden Referenden durch Regierungsvertreter angekündigt, manchmal werden sie auch von den Wählern selbst initiiert. Die Ergebnisse können dabei sowohl verpflichtenden als auch konsultativen Charakter haben. So haben z.B. am 01. Dezember 1991 90,3% der Ukrainer für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt. Die Schweiz führte seit 1848 ca. 300 Referenden bzw. Plebiszite durch, bei denen es sowohl um landesweite als auch um lokale Belange ging. Referenden werden häufig für manipulative Fragestellungen oder manchmal auch für das Unvermögen der Wähler, die Folgen der Abstimmung ausreichend bewerten zu können, kritisiert. So war die Fragestellung beim griechischen Referendum zum Erhalt eines EU-Kredits so komplex und lang, dass die meisten Wähler diese nicht verstehen konnten. Damals haben 61% der Griechen gegen die Finanzhilfe der EU gestimmt, die dem Land dabei helfen sollte, die Finanzkrise zu überwinden. Trotz dieses Ergebnisses war Griechenland letztlich dazu gezwungen, die Hilfe anzunehmen. Es gibt viele solche Beispiele, aber Referenden bleiben dennoch ein wichtiger Bestandteil der direkten Demokratie.
In Russland sind die Vorschriften für die Durchführung von Referenden in der Verfassung festgeschrieben. Nicht alle werden jedoch in der Praxis eingehalten. So hätte z.B. über die früher erwähnten Verfassungsänderungen im Jahr 2020 via Referendum entschieden werden müssen. Stattdessen wurde in Russland eine sogenannte „russlandweite Abstimmung“ durchgeführt. Diese Begriffssubstitution sowie fehlende verständliche Durchführungsanweisungen für eine solche Abstimmung ermöglichten zahlreiche Verstöße und Manipulationen. Bei einem landesweiten Referendum hätte die Wahlteilnahme z.B. mindestens 50% betragen müssen, während sie bei dieser Abstimmung nicht beachtet wurde. Außerdem erfolgte die Vorbereitung und Durchführung der Abstimmung in sehr kurzer Zeit (eine Woche) und es gab Regelverstöße bei der Agitation sowie der Stimmenzählung.
Wenn es um besetzte Gebiete geht, wendet Russland den Begriff „Referendum“ jedoch gerne an, obwohl diese auf okkupierten Territorien illegal sind. Gem. Artikel 73 der Verfassung der Ukraine kann über Fragen der territorialen Integrität nur bei einem landesweiten Referendum und sicherlich nicht bei einer lokalen Abstimmung während eines Krieges bestimmt werden. Das „Referendum“ auf der Krym sowie in den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine erfolgten unter Druckausübung und Drohungen von bewaffnetem russischem Militär. Die Wählerlisten sowie der Wahlprozess selbst unterlagen keinerlei Kontrollen. Das hatte zur Folge, dass 123% der Bewohner Sewastopols für den Anschluss an Russland „gestimmt“ haben. Die „Referenden“, die Russland 2022 in den neu besetzten Gebieten durchgeführt hat, wurden in einer Resolution der UN-Generalversammlung sowie durch den Europarat und weitere internationale Organisationen verurteilt. Die Mehrheit der Staaten weltweit erkennt die Ergebnisse der angeblichen „Willenserklärung“, die durch Russland auf dem Gebiet der Ukraine organisiert wurde, nicht an.
Proteste
In demokratischen Ländern gilt für jeden das Recht auf friedliche Versammlungen wie Streiks, Demonstrationen, Kundgebungen und Proteste, sowohl online als auch offline. In Großbritannien streiken Eisenbahner fast regelmäßig für Gehaltserhöhungen oder bessere Arbeitsbedingungen. Friedliche Versammlungen können die Form von Antiregierungsprotesten annehmen, so wie in Riga, Tallinn und Vilnius, wo sich 1989 ca. 2.000.000 Menschen an den Händen hielten und so eine Menschenkette bildeten, um gegen das sowjetische Okkupationsregime zu protestieren. Die Protestierenden können den Rücktritt der Regierung des Landes, Schutz der Menschenrechte, Maßnahmen gegen Diskriminierung oder die Abschaffung bestimmter Gesetze verlangen.
Die Geschichte der Proteste in Russland ist die Geschichte der allmählichen Ausmerzung der friedlichen Versammlungen als solche. 2012 kam es auf dem Bolotna Platz zu Massenprotesten gegen die Fälschungen bei der Dumawahl, die sich auch auf andere Städte ausweiteten. Zum sogenannten „Marsch der Millionen“ kamen Zehntausende von Menschen (200.000 gemäß den überhöhten Angaben der Veranstalter), er wurde jedoch durch die Polizei aufgelöst. Einige Protestierende wurden angeklagt und zu zwei bis vier Jahren Haft verurteilt.
Seitdem ist die Anzahl der Protestierenden in Russland drastisch gesunken: In dem Land existiert praktisch keine Zivilgesellschaft, Massenversammlungen stehen unter der totalen Polizeikontrolle und Medien werden unter Druck gesetzt. 2014 gab es in Russland den „Friedensmarsch“, einen Antikriegsprotest vor dem Hintergrund der Okkupation der Krym. Nach unterschiedlichen Angaben haben daran in Moskau 20.000 bis 50.000 Menschen teilgenommen. Als Russland acht Jahre später die großangelegte Invasion der Ukraine begann, gingen in Moskau gerade mal ca. 2.000 Menschen auf die Straße. Zur gleichen Zeit wurden landesweit ca. 15.000 Menschen verhaftet, die ihren Protest gegen den russischen Angriffskrieg äußerten. Die Regierung wendet nicht nur Gewalt an, um die wenigen vereinzelten Kundgebungen aufzulösen, sie verbietet es auch den Medien, den Krieg als solchen zu bezeichnen (indem sie den Begriff „militärische Spezialoperation“ eingeführt hat), die Armee zu „diskreditieren“ oder über die Friedensproteste zu berichten. Es sind Fälle von Festnahmen von Menschen mit einem weißen Blatt Papier oder vom Übermalen der auf Eis geschriebenen Worte „Nein zum Krieg“ bekannt. Die Idee, seine bürgerliche Meinung öffentlich zu äußern, ist in Russland dermaßen atrophiert, dass Russen sogar nachdem sie das Land wegen der Mobilisierung oder aus Widerspruch gegen die Regierung verlassen haben, nicht an Protesten oder Kundgebungen in anderen Ländern teilnehmen. Währenddessen „exportiert“ die Regierung ihre Erfahrungen beim Unterdrücken von Protesten: So hat der Iran z.B. den Kreml darum gebeten, „Berater“ zu schicken, um die Situation im Land nach dem Tod der 22-jährigen Studentin und dem Beginn von Ausschreitungen gegen Freiheitseinschränkungen und zu strenge Kleiderregeln zu stabilisieren.
Zivilgesellschaft
Gesamtheit staatsunabhängiger Institutionen, die den Willen und die Interessen der Bürger vertreten und für diese durchsetzen.Diashow
Meinungsfreiheit
Jeder hat das Recht auf freie Meinung und deren Äußerung. Dieses Recht beinhaltet die Freiheit, ungehindert seinen Überzeugungen zu folgen, sowie die Möglichkeit, Informationen und Ideen auf beliebigem Wege und unabhängig von Staatsgrenzen zu suchen, zu erhalten und zu verbreiten. Wie auch bei Wahlen, ist dies keine einfache Zeit für die Meinungsfreiheit in der modernen demokratischen Welt. Hassrede, Cancel Culture, Algorithmisierung globaler sozialer Netzwerke und Zensur führten unter anderem dazu, dass nur noch 34% der US-Amerikaner glauben, über volle Meinungsfreiheit zu verfügen. Selbst das kann aber keineswegs damit verglichen werden, was in Russland schon mindestens seit Jahrzehnten vor sich geht.
Die Meinungsfreiheit wird in Russland durch die Verfassung garantiert, hat sich jedoch schon längst in eine Fiktion verwandelt. Noch vor Beginn der großangelegten Invasion übte Putin Druck auf Medien aus, die die Regierungshaltung nicht (oder nicht vollständig) teilten. Nach dem 24. Februar hat der Roskomnadsor die Aktivitäten von sogenannten Oppositionsmedien, darunter Medusa, Doschd, „Voice of America“, Mediazona, Echo Moskwy etc., eingestellt. Und nachdem die Sendelizenz von Doschd auch in Litauen und Lettland entzogen wurde, beklagte sich Putins Pressesprecher, Peskow, auch noch über die Missachtung der Meinungsfreiheit und Doppelstandards im Westen.
Roskomnadsor
Föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und MassenkommunikationAußerdem wurde in Russland das Gesetz gegen die Verbreitung von „Fakes“ über die Aktivitäten der russischen Armee verabschiedet. Es gab den Regierungsbehörden die Kontrolle nicht nur über die einheimischen, sondern auch über ausländische Medien. Nach der Verabschiedung des Gesetzes haben BBC, CNN, Bloomberg News, ABC und CBS News ihre Tätigkeiten in Russland eingestellt. Globale soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram wurden als extremistisch eingestuft und ihre Aktivitäten auf russischem Gebiet verboten. Auch das Verbot von YouTube wird diskutiert. Für das Teilen oder Verfassen von Beiträgen mit oppositionellen Inhalten in den noch erlaubten Netzwerken oder sogar in privater Kommunikation erhalten Russen reale Haftstrafen. Die internationale Organisation „Reporter ohne Grenzen“ bezeichnet Putin als einen der größten Feinde der Medienfreiheit weltweit. Im jährlichen Rating der Meinungsfreiheit fiel Russland vom 150. Platz im Jahr 2021 auf den 155. Platz im Jahr 2022. Selbst Belarus schnitt mit dem 153. Platz etwas besser ab.
Werte
Freiheit
Freiheit und Achtung der Menschenrechte sind Hauptbestandteile der Demokratie, so die Website der UN. Alle Verfassungen demokratischer Staaten betonen zuallererst das Recht des Menschen auf Freiheit. Im Artikel 21 der Verfassung der Ukraine heißt es: „Alle Menschen sind frei und in ihrer Würde und ihren Rechten gleich.“ „Freiheit lässt sich nicht aufhalten.“: So lautet eine der wichtigsten Losungen der ukrainischen Maidanproteste. „Für unsere und eure Freiheit“ ist die Losung der polnischen Rebellen, die nun wieder aktuell wurde. Unter anderem wurde sie von der Menschenrechtlerin Oleksandra Matwijtschuk während der Pressekonferenz zum Erhalt des Friedensnobelpreises verwendet.
Im Artikel 29 der russischen Verfassung ist das Recht auf Freiheit ebenfalls festgehalten: „Jedem ist die Freiheit der Gedanken- und Meinungsfreiheit garantiert“. Wie in so vielen anderen Fällen auch ist es jedoch nur eine Fiktion. Wie wir bereits bemerkt haben, ist sowohl Meinungs- als auch Versammlungs- und Medienfreiheit in Putins Russland faktisch nicht vorhanden. Laut dem jährlichen Bericht der Organisation Freedom House wird Russland seit 2004 als unfreies Land eingestuft. Doch das Fehlen der Freiheit als Wert kann man auch auf viel tiefer Ebene beobachten. Der ukrainische Philosoph Wachtang Kebuladse bezeichnet Russland als den „Schatten einer Zivilisation“: Sie ahmt die Umrisse der westlichen Zivilisation und ihrer Werte nach, füllt sie jedoch mit einer verkehrten, dunklen Bedeutung. So wird Wahrheit zur Lüge und Sklaverei zur Freiheit, wie in der berühmten Antiutopie von George Orwell. Ein anderer ukrainischer Philosoph, Wolodymyr Jermolenko, ist der Meinung, dass das Bestreben Russlands, andere Völker zu unterdrücken, der Tatsache geschuldet ist, dass die Russen selbst Sklaven sind. Die russische Gesellschaft ist von innen kolonialisiert, der grundlegenden Menschenrechte beraubt und zu einer passiven, unfreien und verantwortungslosen Masse reduziert. Obwohl ihr Recht auf Freiheit im wichtigsten Dokument Russlands festgehalten ist, sind Russen faktisch unfrei und werden es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nach dem Fall von Putins Regime bleiben.
Menschenwürde
Die erste Erwähnung der Menschenwürde in offiziellen Dokumenten erfolgte 1948, als sie in der Erklärung der Menschenrechte als „Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden auf der Welt“ anerkannt wurde. Dabei existiert das Konzept als solches schon recht lange. Der Philosoph Immanuel Kant schrieb: „Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ Mit anderen Worten ist Menschenwürde ein Bewusstsein für den Wert eines jeden Menschen. Das heißt, man sollte sich anderen gegenüber so verhalten, wie es dieser Wert erfordert. Aus dem Begriff der Menschenwürde ergeben sich die individuellen Rechte und Freiheiten eines Menschen: das Recht auf Leben, Freiheit, Gerechtigkeit usw. Ein anderer Philosoph, Jürgen Habermas, verbindet die Menschenwürde mit den demokratischen Grundlagen und der Rechtsstaatlichkeit: „Die Idee der menschlichen Würde ist das begriffliche Scharnier, welches die Moral der gleichen Achtung für jeden mit dem positiven Recht und der demokratischen Rechtsetzung […] zusammenfügt…“.
Hier imitiert Russland wiederum die Einhaltung der Werte einer zivilisierten Gesellschaft: Gemäß seiner Verfassung wird „die Würde der Person durch den Staat garantiert“. Zugleich hat der russische Präsident im Juni 2022 verlauten lassen, dass „man die Gefühle der Würde und der Selbstachtung nur dann spürt, wenn man die eigene Zukunft und die Zukunft seiner Kinder mit der Heimat verbindet“. Dies war seine Bemühung, russische Unternehmer davon zu überzeugen, das Land nicht zu verlassen. Die Begriffsverdrehung wird sogar in dieser kurzen Aussage deutlich. So wird ein universeller Wert der menschlichen Persönlichkeit plötzlich unter die Bedingung gestellt, Putins verbrecherisches Regime und den Krieg in der Ukraine zu unterstützen. Ähnlich äußerte sich auch der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kirill, indem er „Würde“ und „Menschenrechte“ zu aus westlicher Philosophie entlehnten Begriffen erklärte. In einem Dokument mit dem Namen „Strategie der nationalen Sicherheit Russlands“ behauptet er, eine Auflistung der Werte sollte mit „Liebe zum Vaterland“ und „Opferbereitschaft“ beginnen.
Betrachtet man die Verbrechen der russischen Armee in den besetzten Gebieten der Ukraine, kann man den Begriff der Menschenwürde komplett aus der Liste russischer Werte streichen. Die Historikerin Olha Popowytsch schreibt: „Man kann den Feind respektieren, wenn sich dieser würdig verhält. Doch wie schon immer, zeigt Russland gerade, dass es mit Würde nichts zu tun hat. Seine Hauptwaffen sind Lügen, Brutalität, Verachtung der Anderen sowie Niedertracht.“ Sogar innerhalb der russischen Armee, die den Mythos vom „Ehrenkodex des russischen Offiziers“ propagiert, fehlt jeglicher Respekt vor Menschenwürde. Russland setzt sogenannte „Sperreinheiten“ ein, die die unausgebildeten und schlecht ausgerüsteten Soldaten, die sich weigern, zu kämpfen, ermorden oder foltern.
Gleichheit
Gleichheit gehört zu den ältesten und zugleich problematischsten demokratischen Werten. Einerseits bildet Gleichheit die Grundlage der Menschenrechte. Andererseits befindet sich laut der Hohen Kommissarin der UN für Menschenrechte der komplizierte, aber voranschreitende Weg der westlichen Zivilisation in Richtung echter Gleichheit wieder einmal in einer bedrohlichen Lage. Die globale Covid-19-Pandemie störte die ohnehin fragilen Gesellschaftsverträge, indem sie zu mehr Ungleichheit bei prekären Gesellschaftsgruppen wie Frauen, älteren Menschen, ethnischen und religiösen Minderheiten führte. Außerdem vergrößerte sich die ökonomische Ungleichheit sowie die Ungleichheit bei Impfstoff- und Wohlstandsverteilung; die Barrieren zwischen Staaten und Gemeinschaften, die aufgrund von Klimaänderung und Migration entstanden sind, haben sich erhöht. Derzeit glauben ca. 66% der Bewohner der USA, des Anführers der freien Welt, dass es in den USA keine Geschlechtergleichheit gibt und 61% sind über die Rassenungleichheit besorgt.
Russland ist ein multikulturelles Land, das sich sowohl über den europäischen als auch über den asiatischen Teil des Kontinents erstreckt, jedoch nicht die Andersartigkeit seiner mehr als 200 ethnischen Gruppen anerkennt. Noch in der Sowjetunion wurde die „Gleichheit“ aller Republiken deklariert. Es handelte sich jedoch um eine entstellte „Gleichheit“: Sie wurde als „Freundschaft der Brudervölker“ getarnt, in Wahrheit standen Kreml und Russen jedoch immer über dem Rest. Laut dem ukrainischen Philosophen Wolodymyr Jermolenko nutzt Russland immer noch eine verzerrte Idee der Gleichheit bei seinen Eroberungsambitionen. Nach dem Verständnis des russischen Präsidenten ist Gleichheit äquivalent zu Gleichartigkeit, sprich Ukrainer und Russen seien gleichartig, haben keine Unterschiede und müssen daher ein Volk mit einer Kultur sein: früher sowjetischer, nun – russischer. Die seltsame Idee der Gleichheit als Universalität lässt sich auch beim Umgang des Kremls mit seinen Föderationskreisen beobachten. So haben die russischen Behörden Karelisch als Schulunterrichtssprache in Karelien verboten und es damit begründet, dass mangelnde Russischkenntnisse die zukünftigen Studenten bei den Bewerbungen an Universitäten benachteiligen würden, wo, wie denn auch sonst, auf Russisch unterrichtet wird.
Stand 2019 gab es in Russland zudem nicht eine einzige ukrainischsprachige Schule, obwohl dort nur nach offiziellen Angaben ca. 2.000.000 Ukrainer leben.
Interessanterweise herrscht in Russland ein recht standfester Mythos von der Gleichheit der Föderationssubjekte und ethnischer Minderheiten. Trotz der regelmäßigen brutalen Überfälle russischer Neonazis auf Muslime oder Angehörige kaukasischer Völker halten sich ethnische Minderheiten an der Vorstellung der „Gleichheit“ fest, denn der Staat propagiert Gleichheit als Einigkeit und somit als nationale Sicherheit. Indem es den Begriff der Gleichheit durch Gleichartigkeit, Universalität bzw. Einigkeit substituiert hat, hat Russland als Gegenentwurf zu den westlichen Ländern ein „alternatives“ Wertesystem geschaffen.
Schutz vor Gewalt und Diskriminierung
Respekt und Toleranz sind fundamentale Werte demokratischer Gesellschaften. In den letzten Jahren hatten sie es jedoch nicht leicht. Laut den Angaben der Organisation Human Rights Watch führte die Covid-19-Pandemie zu mehr Diskriminierung und Hassverbrechen in der EU: die Diskriminierung der Roma nahm zu, ebenso mehrten sich Angriffe auf Juden sowie Festnahmen und Kontrollen von Muslimen und Angehörigen der LGBT-Community durch Polizeibeamte. Die Weltgesundheitsorganisation verzeichnete während der Lockdowns einen Anstieg von Fällen der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Laut Anton Drobowytsch, dem Leiter des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung, haben in der Tat viele Staaten weltweit Probleme mit Rassismus, Xenophobie und Antisemitismus. In Russland erreichen diese jedoch besonders gewaltige Ausmaße. Gleichzeitig versucht die russische Regierung sie zu vertuschen und hinter ihrer propagandistischen Rhetorik zu verstecken. So werden Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten in Russland als „Patriotismus“ und „Kampf für traditionelle Werte“ bezeichnet, während die gleichen Vorkommnisse in Europa und den USA zu „Nationalismus“ oder gar „Faschismus“ werden. Die russische Regierung liebt es, auf die (wahren oder erfundenen) Fehler anderer Länder hinzuweisen, beachtet jedoch den Verfall der eigenen Gesellschaft nicht. In seiner Ansprache am Vortag der großangelegten Invasion kritisierte Putin z.B. die Verabschiedung eines angeblich „diskriminierenden“ Gesetzes über indigene Völker der Ukraine, das den Russen ihr Recht auf Identität nehmen würde. Tatsächlich schützt das Gesetz über die indigenen Völker authentische Bevölkerungsgruppen, die über eine eigenständige Kultur verfügen, wie z.B. die Krimtataren. Übrigens gibt es auch in Russland ein Gesetz über die „Garantie der Rechte der indigenen Völker“, wie z.B. der Bevölkerung von Sibirien oder des Fernen Ostens. Gegen dieses Gesetz wird jedoch regelmäßig verstoßen.
2022 sprach sich der bereits erwähnte Patriarch der russischen orthodoxen Kirche, Kirill, aktiv gegen das gesetzliche Verbot häuslicher Gewalt aus und betonte, dass ein solches Gesetz eine „Nachahmung des Westens“ sei und „Familien selbst wissen, was zu tun ist“. Gleichzeitig wurden in Russland 2017 laut den Angaben der Organisation Human Rights Watch 36.000 Frauen und 26.000 Kinder Opfer häuslicher Gewalt. Dabei werden andere Gesetze, wie das Verbot der „Schwulenpropaganda“, das 2022 verabschiedet wurde, ohne Einwände seitens der Kirche umgesetzt. Im Dezember 2022 wurde sogar das erste Klageverfahren wegen „Propaganda von LGBT-Werten“ gegen den unabhängigen Verlag Popcorn Books eröffnet. In seinen Büchern hat Popcorn Books nicht nur Themen rund um Sexualität und Selbstidentifikation beleuchtet, sondern es wurden auf den Seiten auch Zitate aus der russischen Verfassung zu Meinungsfreiheit und Unzulässigkeit von Zensur eingefügt. Nun droht dem Verlag eine Strafe in Höhe von 5.000.000 Rubel.
Indem es westliche Werte wie Freiheit oder Gleichheit imitiert, versucht Russland seine Zugehörigkeit zur westlichen Welt zu rechtfertigen. Bei jeder UN-Versammlung hält der ständige UN-Botschafter Russlands, Nebensja, an der gleichen einstudierten Farce fest: Russland kämpft angeblich gegen Nazis, alle Anschuldigungen gegen Russland sind fabriziert und die wahren Verbrecher sind die USA. Vor den Augen der Vertreter der gesamten Welt zeichnet er eine verkehrte Welt, in der Russland das einzige Bollwerk der Zivilisation ist. Doch mit jedem neuen Kriegsverbrechen und jedem Verstoß gegen demokratische Grundwerte sind immer weniger Menschen bereit, an dieses illusorische Russland zu glauben, ohne seine wahre, verbrecherische Natur zu bemerken.