„Hört die Stimme von Mariupol“ ist eine Reihe von Geschichten der Menschen, die aus der belagerten Stadt Mariupol evakuiert werden konnten. Wir setzen die Serie mit einem Gespräch mit Kyrylo fort, der dabei geholfen hat, HIV-positive Patienten unter gefährlichen Bedingungen mit antiviralen Medikamenten zu versorgen.
Kyrylo ist gebürtig aus Mariupol. Von seiner Ausbildung her ist er Binnenschiffer. Seine Berufung ist jedoch LGBT-Aktivismus und Projektleitung für HIV-Prävention im öffentlichen Gesundheitswesen. Fast alle seine Aktivitäten in der Heimatstadt zielten darauf ab, die Wahrnehmung zu normalisieren, die in der Gesellschaft mit Vorurteilen und Vorbehalten behaftet sind. Die Arbeit mit HIV-positiven Patienten, der Wechsel zur ukrainischen Sprache in einer russischsprachigen Stadt: Die Entscheidungen dieses Mannes wurden nicht von allen unterstützt, aber das hielt ihn nicht davon ab, seinen Weg zu gehen und Menschen in Not zu helfen.
„Als ich die Stadt verließ, war es ein Alptraum. Das war am sechsten Tag der Luftangriffe. Das erste Mal, dass ich eine Leiche gesehen habe, war vor meinem Hauseingang. Die Nachbarn hatten den Mann einfach mit einer Plastiktüte abgedeckt und seine Leiche ordentlich direkt vor den Eingang gelegt. Und das geschah nicht, weil man ihn ignorierte, sondern aus Respekt vor dem Mann. Aber sie konnten nichts anderes tun. Man sah Menschen neben der Leiche stehend, spielende Kinder. Alle machten Essen, kochten Tee und versuchten zu überleben.
Jeden Tag ging ich mit dem Hund auf den Hof. Es ist ein sehr ungewöhnliches Gefühl: Man geht und merkt, dass der Morgenspaziergang ganz anders ist als der Abendspaziergang. Die Stadt ist anders. Irgendwo da draußen wurde ein Balkon getroffen, irgendwo anders ist etwas anderes passiert. Es war das totale Chaos. Keine Regeln, keine Gesetze, der Alltag stand still. Man geht die Straße entlang und gleichzeitig brechen die Leute die Kioske auf, um etwas zu essen zu bekommen. Es gab keine Möglichkeit, die Polizei, den Krankenwagen oder die Feuerwehr zu rufen. Im Falle eines medizinischen Notfalls bestand die einzige Möglichkeit darin, einen vorbeifahrenden Krankenwagen zu stoppen und zu bitten, die Person mitzunehmen. Wir konnten auch kein Feuer melden. Ich erinnere mich, dass es in unserer Nähe das Einkaufs- und Unterhaltungszentrum ‚Port-City‘ gab. Es gab einmal einen Direktschlag. Auch ein nahe gelegenes Wohnhaus wurde beschädigt. Es brannte drei Tage lang: Niemand löschte, weil es niemanden gab, es zu löschen.
Meine Arbeit endete am 28. Februar. Zu Beginn arbeitete ich noch für die NGO ‚Istok‘ als HealthLink-Projektleiter für HIV- und STI-Prävention für MSM (Anmerkung: STIs sind sexuell übertragbare Infektionen, MSM sind Männer, die Sex mit Männern haben). Wir arbeiteten mit 17 Krankenhäusern in der Region zusammen: Wir bemühten uns um die Systematisierung von HIV-Patienten, boten Beratung an und verteilten orale Tests. Wir haben den Menschen beigebracht, auf ihre Gesundheit zu achten.
Später wurde ich von einer Fachärztin aus unserem militärmedizinischen Zentrum kontaktiert. Sie sagte, dass wir Medikamente mitbringen sollten, da zu dieser Zeit bereits ein spürbarer Beschuss im Stadtteil Liwobereschnyj herrschte. Zuerst fanden wir ein Auto, aber der Fahrer war nicht bereit, wegzufahren. Also beschloss ich, mein eigenes Auto zu nehmen. Wir haben fast alles mitgenommen, was es im Krankenhaus gab. Wir meldeten es über Messenger und gaben die Adresse an, wo die Ärztin den Patienten später ihre Medikamente ausgeben würde. Doch leider brach am 2. März das Mobilfunknetz praktisch zusammen. Daher gab es nur sehr wenige Menschen, die die Medikamente abholen konnten.
In Mariupol waren etwas mehr als viertausend Menschen registriert, die dieses Arzneimittel benötigten. Es geht um die antivirale Therapie, die HIV-positive Menschen brauchen, um normal leben zu können. Diese Medikamente blockieren die Freigabe des Virus. Wir haben versucht, wenigstens etwas zu unternehmen, damit die Leute sie bekommen können. In dieser Zeit kamen etwa 50 bis 100 Personen, um die Medikamente abzuholen.
Es war gefährlich, zu Hause zu bleiben, deshalb zogen wir zu meinem Arbeitsplatz. Es befand sich im Zentrum der Stadt, in der Nähe des Parks, des Stadtgartens. Meine Stiefmutter und ihr Sohn zogen bei mir ein. Auch meine Patentante und ihre anderen Patenkinder mit deren Eltern. Insgesamt waren wir zwölf Personen und zwei Hunde. Als wir die Sachen dorthin brachten, vergaß ich das Hundefutter und musste wieder nach Hause gehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen Freund schon seit drei Tagen nicht mehr gesehen. Es gab keine Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Er übernachtete eine Woche lang bei Freiwilligen im Krankenhaus. Ich traf ihn in unserer Wohnung: Er blieb nach der Ausgangssperre in der Nacht dort. Ich habe ihn von dort weggeholt und von da an war er immer bei uns. Wir hatten Glück, dass wir uns an diesem Tag zum Umzug entschlossen hatten, denn am nächsten Tag war das Haus bereits zerstört.
In Friedenszeiten gab es in dem Büro, in dem ich arbeitete, einen Anti-Stress-Raum, in dem man Geschirr zerschlagen konnte, wenn man seinen Gefühlen freien Lauf lassen wollte. Und während des Krieges stopften wir mit diesem Utensil Löcher im Boden, um ihn zu glätten und uns nicht die Beine zu brechen. Es gab sogar Fenster, aber statt Glas gab es nur zerrissene Folie. Wir hatten auch ein Wandthermometer. Es zeigte +7°C im Zimmer und wahrscheinlich noch weniger im Keller an.
Später schlug ein Projektil in das Haus ein, in dem wir wohnten. Es hinterließ ein Loch in der Wand. Ich ging gerade hinein. Die Druckwelle der Explosion warf mich um. An diesem Tag hatte ich einen großen Streit mit denen, die mit uns im Büro wohnten, weil sie den Kindern das Spielen im Hof erlaubten. Mir war bewusst, dass sie sich langweilen und nichts hatten, womit sie sich beschäftigen könnten. Aber ich habe versucht zu erklären, dass man nicht weiß, wann wieder ein Projektil bei uns einschlägt. Weglaufen, schnell reinspringen und sich verstecken, das funktioniert so nicht. Ein Projektil ist schneller als ein Kind oder jeder von uns.
Ich hörte von meinem Freund und einem Kumpel, die Angestellte im Krankenhaus waren und jetzt freiwillig dort arbeiteten, was für Verwundete dorthin eingeliefert wurden. Verstümmelte Kinder, grausame Amputationen. Die Menschen starben direkt auf der Bahre. Kinder starben. Das Krankenhaus wurde mit Generatoren betrieben, das Licht war nur zwei Stunden lang an. Sie haben sogar einmal eine direkte Bluttransfusion versucht, aber es hat nicht funktioniert. Eine Frau ist gestorben. Sie arbeiteten unter Taschenlampenlicht. Mein Freund nahm manchmal meine USB-Taschenlampe von zu Hause mit, die dann über eine Powerbank angeschlossen wurde, um im Krankenhaus überhaupt etwas Licht zu haben. Ich war also deshalb sehr angespannt, weil meine vorübergehenden Mitbewohner nicht so besorgt um die Sicherheit ihrer Kinder waren.
Am Abend des 14. März trafen wir gemeinsam die Entscheidung, ob wir fliehen sollten. Zum damaligen Zeitpunkt wurden keine humanitären grünen Korridore vereinbart. Die Stadtverwaltung teilte uns mit, dass wir nur auf eigenes Risiko gehen könnten: Es gäbe keinen Begleitschutz. Wir packten und sind gegangen. Es gelang mir, zu der Ärztin zu laufen, mit der wir die Medikamente verteilt haben, und ich bot ihr an, mit uns zu kommen. Im Auto saßen also ich, mein Freund, unser Hund, meine Stiefmutter, ihr Teenager-Sohn, die Ärztin, ihre Tochter und eine Katze in einer Transportbox.
Ich bin jetzt in Czernowitz. Langsam wird mir bewusst, was wir erlebt haben. Manchmal ist es schwer zu glauben, was alles vorgefallen ist. Es gibt sogar ein gewisses Gefühl, wissen Sie, wie das Überlebensschuld-Syndrom. Ich verstehe, dass ich viel mehr Glück als meine Bekannten und Freunde hatte. Ich weiß von Menschen, die nicht überlebt haben. Es gibt immer noch viele, zu denen es keinen Kontakt gibt. Es ist unklar, ob sie noch am Leben sind oder nicht. Aber jetzt kann ich durchatmen. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich die Möglichkeit und die Mittel habe, anderen zu helfen. Jetzt werden wir in Czernowitz zusammen mit meinen Kollegen ein Zentrum für medizinische und soziale Hilfe einrichten. Wir haben die Räume bereits gefunden. Im Moment gibt es noch eine kleine Baustelle, um das Ganze einzurichten.
Ich kann den Invasoren nicht verzeihen. Mein Zuhause wurde mir weggenommen. Mein normales Leben ist zerstört. Ich weiß nicht, was mit meinen Verwandten und Bekannten passiert ist. Ich mache mir nicht wirklich Sorgen um materielle Dinge, wie eine Wohnung oder Ähnliches. Natürlich ist das nicht angenehm. Ich weiß nicht, wo ich leben und was ich als nächstes tun soll. Wenn ich sehe, was jetzt in Mariupol passiert, tut mir das weh. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.
Viele Russen kamen zu den Demonstrationen und versuchten, etwas zu unternehmen. Aber sie gingen nicht für die Ukraine auf die Straße, nicht für uns. Sie gingen für sich selbst. Sie wollen diese Sanktionen nicht, sie wollen nicht, was mit ihnen geschehen wird. Dies alles sind die Folgen dessen, was sie in ihrem Land seit vielen Jahren zugelassen haben.
Ich mache mir Sorgen, dass es uns so ergeht wie in Belarus, wo ein ganzes Volk seine Muttersprache nicht kennt, seine Geschichte nicht kennt, und das ist einfach schrecklich. Ich verstehe, dass jeder die Sprache der Kommunikation wählen muss, die für ihn bequemer ist, aber für mich ist es inakzeptabel, meine Muttersprache nicht zu kennen. Mein Wechsel zur ukrainischen Sprache begann 2012, als ich zum ersten Mal nach Lwiw kam. Es geschah, weil ich mich selbst als Ukrainer erkannte. Seit 2015 oder 2016 spreche ich in Stellungnahmen, Beiträgen in sozialen Medien und offiziellen Reden allmählich auf Ukrainisch, aber auf privater Ebene kommuniziere ich auf Russisch. Jetzt spreche ich aufgrund der Situation in unserem Land ganz und gar Ukrainisch, es ist meine bewusste Entscheidung. Wie Oles Hontschar schrieb, kann ein Mensch, der keinen Respekt vor seiner Sprache hat, auch keinen Respekt vor sich selbst aufbringen.
Am Tag unseres Sieges werden wir so groß feiern, dass weder die Ukraine, noch Europa, noch die ganze Welt es je vergessen wird. Aber es wird auch eine große Trauer geben, weil wir verstehen, wie viele Menschen wir verloren haben, wie viele Städte zerstört wurden, wie viele Menschen verkrüppelt wurden. Heute ist unser Land ein Land der Freiwilligen geworden. Ein Land der Unterstützung und Hilfe, in dem es keine Fremden gibt, in dem jeder ein Teil von uns ist. Ich hoffe, dass wir mit so einer Motivation, Wut und Hass auf dieses faschistische Regime nur gewinnen können. Russland kann diesen Krieg nur gewinnen, wenn es alle Ukrainer, jeden einzelnen, ausrottet.“