Stimmen der Besatzung ist eine Reihe von Geschichten über Menschen, die unter der Besatzung lebten und die es geschafft haben, das besetzte Gebiet zu verlassen. Dieser Text handelt von Julia, einer Drehbuchautorin, die aus ihrem vorübergehend besetzten Heimatdorf Jewsug in der Ostukraine fliehen konnte. Sie setzte ihre Arbeit fort auch während der Besatzung, durchlief Filtrationslager an der Grenze zu Russland und nahm an Kundgebungen für „Asowstal“ in Lettland teil. In Riga wies Julia auf die Vielfalt russischer Propagandabücher hin, die immer noch in lettischen Buchläden vorhanden waren.
In den letzten fünf Jahren lebte Julia in Kyjiw, studierte dort und arbeitete als Drehbuchautorin. Sie besuchte oft ihr Heimatdorf, weil sie dort ein Unternehmen hatte. Sie kommt aus Jewsug, einem Dorf mit etwa zweitausend Einwohnern in der Nähe von Starobilsk im Osten der Ukraine. Diese Region wurde von russischen Truppen gleich in den ersten Tagen der großangelegten Invasion besetzt.
Julia spricht jetzt ukrainisch, früher aber sprach sie den sog. „Surschyk“ (ein Dialekt aus Mischung aus ukrainischen und russischen Wörtern – Anm.). Wenn sie früher mit russischsprachigen Menschen kommunizierte, wechselte sie oft ins Russische. Für Julia ist das Sprechen auf Surzhyk mit fremden Menschen so was wie „sich nackt zeigen“.
„Du sprichst einfach mit einer Person auf Russisch, und dann rufen deine Eltern an, und du fängst an, ihnen in Surschyk zu antworten, wie du es gewohnt bist“, sagt Julia. „Und man kann mit seinen Eltern nicht Russisch sprechen, das geht nicht.“
Später, in Kyjiw, wechselte Julia komplett auf Ukrainisch und hörte auf, sich anzupassen und sich zu zwingen, eine fremde Sprache – Russisch – zu sprechen.
Drehbuchautorin in Kyjiw mit einem Unternehmen auf dem Lande
Julia gibt zu, dass die Ostukraine bis vor kurzem einen großen Teil ihres Lebens ausmachte. Hier gründete sie eine Geflügelfarm, arbeitete in der Kommunikation und entwickelte ihr Business:
„Damals hatte ich einen Blog über Hühner, was für die Leute in unserer Gemeinde sehr ungewöhnlich war. Niemand hier hatte einen ähnlichen Ansatz für Werbung und Marketing. Es ist nicht nur eine landwirtschaftliche Region, sondern auch eine Region der Kleinhändler. Und die Leute waren sehr überrascht, als ich anfing zu bloggen. Es ging mir nicht darum, lediglich etwas zu verkaufen. Die Frauen, die Hühner kauften, kannten mich, sie behandelten mich wie ein Familienmitglied.“
Die Geflügelfarm ist ein gemeinsamer Familienbetrieb von Julia und ihrem Vater. Sie erhielten dafür 2019 einen Zuschuss.
„Ich war damals 25 Jahre alt und steckte wahrscheinlich in einer Quarterlife-Crisis. Dies ist der Zeitpunkt, an dem man erwachsen wird und sein Leben neu überdenkt. Mein Vater wollte kein Unternehmen gründen, aber ich habe die Vor- und Nachteile abgewogen und beschlossen, dass wir es tun sollten.“
Laut Julia glauben die Menschen in ihrem Heimatdorf, dass Zuschüsse nicht einfach so vergeben werden: entweder muss man jemanden kennen, oder man wird jemandem etwas schuldig. Die Einheimischen standen der Idee skeptisch gegenüber, es gab auch viel Spott, bis alles zu funktionieren begann.
„Es ist eine Mini-Brüterei mit bis zu 10.000 Hühnern. Sie wurden alle drei Wochen geschlüpft. Es war ein Familienunternehmen. Ich war für Werbung, Einkauf und den Blog zuständig, und mein Vater für die Produktion.“
Der Beginn der großangelegten Invasion
Im Oktober 2021 kam Julia zurück in ihr Heimatdorf, um mehr Zeit mit der Familie zu verbringen. Im Februar 2022 wollte sie nach Kyjiw zurückkehren. Es gab Hinweise, die diese Entscheidung bekräftigten:
„Auf der Dorfstrasse sah ich einen Mann, der einen Regenschirm mit dem Wahlkampfslogan aus dem Jahr 2010 hatte: ‚Janukowitsch ist unser Präsident‘. ‚Warum sehe ich das hier?‘, fragte ich mich. Ich war zutiefst schockiert.“
Schon vor der großangelegten Invasion fielen im Dorf Jewsug zeitweise Strom und Internetempfang aus, als die Region 2014–2015 aus den vorübergehend besetzten Gebieten beschossen wurde (das Dorf liegt 80–90 Kilometer von der Demarkationslinie zwischen den von der Ukraine kontrollierten Gebieten und den seit 2014 besetzten Gebieten entfernt).
Am 22. Februar hörte Julia die Rede des russischen Präsidenten Putin über die Anerkennung seitens Russland der selbsternannten Volksrepublik Donezk (DNR) und der Volksrepublik Luhansk (LNR). Damals war die Medienlandschaft sehr intensiv und angespannt, jegliche Mitteilung ging viral.
„Ich erinnere mich, dass jede Nachricht, die ich las, schlimmer war als die vorherige. Schließlich erkannte Putin die selbsternannten DNR und LNR an. Ich wusste, dass etwas Schreckliches passieren würde. Es war immer klar, dass die bewaffnete Aggression sich eines Tages auch auf uns ausbreiten würde.“
Zwei Tage später, am 24. Februar, wachte sie auf und musste feststellen, dass die großangelegte Invasion bereits begonnen hatte.
Julia war entschlossen, etwas zu tun. In den ersten Tagen des Krieges organisierten sich die Menschen und halfen sich gegenseitig mit Lebensmitteln. Doch dann begann die Besatzung und zugleich die Gesetzlosigkeit, sagt Julia. Somit fielen jegliche freiwilligen Hilfsversuche aus. Viele Menschen, vor allem diejenigen, die Russland gegenüber loyal waren, änderten plötzlich ihre Meinung. Jedoch später wurden sie alle eingeschüchtert und hielten sich still auf. Julia steht immer noch in Kontakt mit diesen Menschen, von denen viele auf die Befreiung der Region und die Rückkehr in die Ukraine warten.
„Im Fernsehen hieß es, dass man sich aus der Region Luhansk evakuieren müsse. Ich erinnere mich, dass der Westen der Ukraine zu dieser Zeit als ein sicherer Ort galt. Die Menschen hier waren so gelassen, sie hatten den Glauben an alles bereits verloren und sagten: ‚Wieso sollen wir fahren? Im Zweiten Weltkrieg haben uns die Nazis nicht erreicht, und jetzt werden uns die Russen auch nicht erreichen.‘ Ich aber bin in Panik herumgerannt. Als ich meinen Koffer packte, warf ich meine Kleidung einfach von einem Stapel auf den anderen. Ich konnte nichts tun und nichts verstehen, ich hatte keinen Plan. Und dann hatte ich – weswegen auch immer – das Gefühl, dass es in zwei oder drei Wochen vorbei sein würde, obwohl ich die Reden von Arestowytsch nie gehört habe.“
Oleksij Arestowytsch
Berater des Leiters des Präsidialamtes, insbesondere bekannt für seine Aussagen im Frühjahr 2022, dass der Ausgang des Krieges in 2–3 Wochen entschieden sein würde.Etwa einen Monat lang verließ Julia nicht das Haus. Sie sprach mit niemandem, weil sie nicht wusste, wem sie vertrauen konnte. Und dies, obwohl jeder im Dorf Russland verurteilte.
„Etwa Anfang März sah ich das erste Auto mit dem Buchstaben ‚Z‘. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man nicht weiß, was passiert, ob das Dorf noch unter ukrainischer Kontrolle steht oder nicht. Im Fernsehen wurde damals nichts über die Region Luhansk berichtet, weil es eine Offensive auf Kyjiw gab und auch überall an der Front viel geschah.“
Z, V, O
Markierungen auf Militärfahrzeugen und -technik russischer Besatzer.Die Einheimischen waren zunächst verwirrt. Später erklärte Serhiy Haidai, der Leiter der Staatsverwaltung der Region Luhansk, dass das ukrainische Militär sich zurückgezogen hat, um günstigere Verteidigungspositionen einzunehmen. Hätten sie dies nicht getan, wäre es zu mehr Zerstörung und Verlusten gekommen, und sie hätten die Verteidigungslinie ohnehin nicht halten können.
In dieser Region gab es fast keinen mobilen Empfang. Die einzige Möglichkeit, Informationen zu erhalten, war den Informations-Telemarathon „Die vereinten Nachrichten“ über eine Satellitenschüssel zu empfangen, die aber nicht jeder hatte. Bei diesem Telemarathon wurde nicht viel über die Region Luhansk berichtet. Später stellte sich heraus, dass es in einem 30 Kilometer entfernten Dorf möglich war, ein schlechtes Internetsignal zu empfangen. Einer der Internetanbieter funktionierte dort weiterhin.
Einige Menschen begannen, nach russischer Zeit zu leben. Zu Beginn der Besatzung musste Julia einen Termin beim Arzt vereinbaren und die Antwort war selbstverständlich auf Russisch: „Wir sehen uns am Samstag um 12.00 Uhr Moskauer Zeit“. Sie antwortete auf Ukrainisch: „Danke, ich werde es mir überlegen.“ Aber es gab keine andere Wahl, sie musste dringend zum Arzt. „Also ging ich um 12.00 Uhr Moskauer Zeit zu dem Termin“, sagt Julia.
Julia hatte zwei beste Freundinnen, die 2014 nach Russland zogen. Die Freundinnen kommunizierten oft über Zoom, obwohl sie wussten, dass Julia sich negativ über Russland äußerte.
„Die Freundinnen versuchten, die Situation zu ignorieren. Nach dem 24. Februar sind sie einfach verschwunden. Das war der Moment, als sich alle gegenseitig fragen: ‚Wie geht es dir?‘. Und meine besten Freundinnen verschwanden. Die Besatzung war für mich eine Zeit der Enttäuschung über einige meiner engsten Menschen.“
An der Grenze muss man nett sein
Julia lebte zwei Monate lang unter der Besatzung. Ende April konnte sie ausreisen:
„Ich bin nicht suizidgefährdet und war es auch nie, aber während der Besatzung habe ich manchmal gesagt: ‚Wenn ich jetzt nicht wegkomme, werde ich an die Front gehen und mich dort umbringen lassen.‘ Ich kann nicht behaupten, dass ich sterben wollte. Aber es herrschte ein Gefühl der Verzweiflung.“
Julia erinnert sich, dass sie während der Besatzung nichts Anderes tun konnte, als auf ihrem Handy Notizen zu schreiben. Vor der Invasion arbeitete sie als Drehbuchautorin für das „Toronto Television“. Während der Besatzung gelang es ihr, eine schlechte Internetverbindung zu finden und Nachrichten an ihre Kollegen zu schreiben.
„Ich habe ‚Toronto Television‘ gesagt, dass ich schreiben muss. Und sie gaben mir Themen. Ich schrieb, auch wenn das Internet langsam war. Vielleicht war mein Beitrag gering, aber diese Tätigkeit hat mir psychologisch sehr geholfen.“
„Toronto Television“
Ein unabhängiges ukrainisches Medienprojekt.Julia reiste über Russland nach Lettland. Zuvor musste sie an der ukrainisch-russischen Grenze einer Filtration unterzogen werden. Normalerweise wurden nur die Männer zu dieser Überprüfung hingeschickt. Aber diesmal musste auch Julia diese Prozedur über sich ergehen lassen.
Russische Filtrationslager
Gefängnisse für Zivilisten und Kriegsgefangene, die vom russischen Militär genutzt werden, um ukrainische Bürger zu inhaftieren, die die russische Herrschaft über die Ukraine gefährden.„Als ich mich auf die Filtration vorbereitete, hatte ich am meisten Angst um meine Verbindung zu ‚Toronto TV‘. Ich habe alle Apps und Google-Dokumente gelöscht. Ich habe einige Fotos weiterverschickt und diese dann bei mir sofort gelöscht. Die Einheimischen wussten wohl, was ich in meinen persönlichen sozialen Medien schrieb. Es war nicht klar, was mich erwartete, ob sich einer von ihnen plötzlich als Kollaborateur entpuppen und mich anzeigen würde.“
Außerdem darf man im Filtrationslager keine ukrainischen Symbole tragen, keine verdächtigen Kontakte auf dem Handy haben und keine Liebe zur Ukraine ausdrücken. Das wurde Julia von den Volontären erklärt. Trotz alledem nahm sie die mit ukrainischen Symbolen gestickte Mundmaske mit, ein Geschenk ihrer Mutter zum Unabhängigkeitstag.
„Während der Besatzung machte ich mir Notizen über alles Absurde, Unlogische und Unerhörte. Ich konnte die Notizen nicht wegwerfen oder zurücklassen, also nahm ich sie auch mit.“
An der Grenze gibt es mehrere Zelte, in denen die Filtration stattfindet. In einem der Zelte fotografierte man Julia und nahm ihre Fingerabdrücke, im anderen Zelt wurde sie von einem FSB-Mitarbeiter verhört. Er fragte sie, wo sie studierte, welche Fachrichtung sie hatte und ob sie beruflich arbeitete. Julia sagte, dass sie an einer Geflügelfarm arbeitet. Dann wurde sie auf Tätowierungen geprüft und der Inhalt ihres Handys abgecheckt.
„Ich habe so getan, als wäre ich ein naives Mädchen aus dem Dorf, das seine Verwandten in Russland besuchen wollte. Ich habe mich dumm gestellt, weswegen ich mich nun verachte. Ich war nett zu ihm, wofür ich mich auch verachte. Aber ich hatte Angst, es war ja eine Grenze. Ein bewaffneter Separatist stand dort und sagte: ‚Dieser Kontrollpunkt wird bald verschwinden, im September findet ein Referendum statt und unsere Region gehört dann Russland an‘.“
Nur ein Ukrainer wird einen Ukrainer verstehen
In Lettland traf Julia viele Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, aber sie schwiegen darüber. Es waren sogar Einwohner von Starobilsk darunter. Bei ihrer ersten Kundgebung am 25. Juni traf sie fünf Personen aus ihrer Region.
In Lettland lebte sie bei einer Familie; es kamen ständig Menschen zu ihr, um ihre Geschichte zu hören:
„Ich habe zu lange geschwiegen, also habe ich allen Letten, die über die Besatzung fragten, davon erzählt. Sie hörten zu und nickten. Aber mein Zustand änderte sich nicht, ich konnte mich nicht beruhigen. Eines Tages sprach ich mit Jewhen Samojlenko, einem Produzenten bei Toronto Television, und ich hatte das Gefühl, dass er wirklich zuhörte und mich verstand. Er sprach mit mir und nahm mir die Hälfte meines Schmerzes ab. Es gibt nämlich Leute, die Fragen stellen, nur um ihre Neugier zu befriedigen, und das finde ich nicht schön.“
In Lettland fragte ein Journalist Julia, wann sie in die Ukraine zurückkehren wolle. Und sie sagte: „Sobald ich weiß, dass ich dem Land helfen kann, anstatt zu stören.“ Mitte Juli kehrte Julia nach Kyjiw zurück:
„Als ich die Grenze überquerte, sah ich den ersten ukrainischen Grenzbeamten, der Ukrainisch sprach. Ich dachte: ‚Oh, mein Gott, das ist unser Zuhause!‘. Ich habe sogar heimlich ein Foto des ersten Ukrainers gemacht, den ich gesehen habe. Es war ein fantastisches Gefühl.“
Am ersten Tag spazierte sie auf Chreschtschatyk, der Hauptstraße von Kyjiw, und sie war sehr belebt. Sie hörte Gesprächsfetzen über den Krieg, jemand verkaufte T-Shirts mit patriotischen Aufschriften.
„Ich schlenderte durch die Stadt und fühlte mich, als würde ich ersticken, als hätte ich Angst. Ich hatte in einer Unterführung im Zentrum von Kyjiw eine Panikattacke und fing an zu weinen. Das lag wahrscheinlich daran, dass die Leute so entspannt und ruhig waren. Später ging ich durch den Schewtschenko-Park und sah Leute, die Salsa oder Bachata tanzten. Das hat mich beeindruckt, und ich dachte: Das ist wirklich cool, die Leute haben wirklich Spaß am Leben. Wenn man im Ausland ist, scheint die Situation im Land viel schlimmer zu sein, als es in Wirklichkeit ist.“
Den Menschen, die noch unter Besatzung leben, rät Julia, nicht mit dem russischen Militär zusammenzuarbeiten und den Glauben nicht zu verlieren. Und denjenigen, die in der Ukraine und im Ausland leben, rät sie, möglichst viel über die Vorfälle in den besetzten Gebieten zu erzählen. Im Juli drehten Julia und das Team von Toronto Television eine spezielle Reportage über die Besetzung ihrer Region.
„Ich denke, das wirksamste, was wir im Moment für diese Region tun können, ist, den Menschen von dort zuzuhören und über die Besatzung zu sprechen. Es gibt einem wirklich das Gefühl, dass man nicht in Vergessenheit gerät.“