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Mit diesem Artikel beginnen wir eine Reihe von Aufklärungsmaterialien zum Thema Holodomor. Als Erstes versuchen wir herauszufinden, was der Holodomor ist und wodurch der Genozid an dem ukrainischen Volk, eines der größten Verbrechen gegen Menschheit in der Weltgeschichte, verursacht wurde. Darüber hinaus erklären wir: Warum die Archivdokumente über den Holodomor noch bis heute verborgen sind und wer daran Interesse hat.

Im Jahre 1921 führte die Verwaltung des Amerikanischen Hilfswerks (eng: American Relief Administration (ARA) – Üb.) Verhandlungen mit der Sowjetunion über ihre zukünftigen Tätigkeiten auf staatlichem Gebiet. Maxim Litwinow, damals ein sowjetischer Diplomat und später Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, sagte im Gespräch mit einem Vertreter der ARA: „Nahrung ist eine Waffe“. Die Jahre 1932 und 1933 auf dem Territorium der heutigen Ukraine haben gezeigt, wie machtvoll diese Waffe zuschlagen kann, wenn sie in die Hände von totalitärer Diktatur gerät. Durch die bewusste Politik der Sowjetmacht starben damals Millionen Menschen. Der Holodomor wurde als Genozid von 17 Staaten anerkannt. Heutzutage wird er als eines der größten Verbrechen gegen Menschlichkeit bezeichnet.

Ein altes Dorf, ein ehemaliges Städtchen Woronkiw, Boryspil bei Kyjiw. Eine Braut mit Trauzeuginnen und Kerzenträgerinnen im nationalen Hochzeitskleid der 1920er Jahre. Das Ukrainische Zentrum für Volkskultur „Iwan-Hontschar-Museum“

„Ein klassisches Beispiel des sowjetischen Völkermords, sein längstes und umfassendstes Experiment zur Russifizierung, – der Zerstörung der ukrainischen Nation.“

So nannte Raphael Lemkin, der polnische Jurist jüdischer Herkuft, der den Begriff „Genozid“ im internationalen Kontext prägte. Der Holodomor (wörtlich: „Mord durch Hunger“ – Üb.) ist die Bezeichnung für den Genozid an den Ukrainern. Dies ist eine Form des absichtlichen Massenmordes an den Ukrainern in den Jahren 1932–1933. Dies geschah durch unverhältnismäßig hohe Beschaffungspläne für Getreide und die Zwangsenteignung von Grund und Boden der Menschen sowie Beschlagnahmung von Vermögen und Lebensmitteln, welche zum Tode von Millionen Ukrainern führten. Auf diese Weise wollte Stalin die Ukrainer unterdrücken, die einen starken Widerstand gegen Kollektivierung leisteten und gegen die Sowjetdiktatur rebellierten.

Raphael Lemkin
Autor des Begriffs „Genozid“. Ihm ist zu verdanken, dass es heute einen rechtlichen Rahmen für die Anerkennung des Verbrechens des Völkermords gibt, nämlich die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 beschlossen wurde. In diesem Dokument wurde zum ersten Mal in der Weltgeschichte Völkermord als jede Handlung definiert, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.

Lange Zeit war das sowjetische Verbrechen der Vernichtung von Millionen Menschen und Zerstörung ihres nationalen und kollektiven Bewusstseins kaum bekannt, sogar dort, wo diese Ereignisse stattfanden. Die totale Zensur, Fälschung von Statistiken, Einschüchterungen der Bevölkerung und Angst vor Gewalt verwandelten lebendige Menschenstimmen in schweigsame Schatten um. Die Zeugen von jenen Ereignissen wurden vor die Wahl gestellt: entweder als Opfer des Regimes zu sterben und die eigene Familie in Gefahr zu bringen oder zu schweigen, – meist wählten sie die Stille. Ihr Wille zum Überleben am Rande der emotionalen und körperlichen Kräfte und Wille, neuen Generationen Leben zu ermöglichen, wurden aber nirgends dokumentiert. Zu ihrem „Archiv“ wurde das menschliche Gedächtnis.

Heutzutage, nach fast einem Jahrhundert seit dem Holodomor, können all diese Stimmen endlich wieder gehört werden. Und neue Generationen haben die Möglichkeit, die Wahrheit zu finden und daraus eine Lehre zu ziehen. Eine Lehre, die Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

Vor dem Holodomor

1918 endete der Erste Weltkrieg. Und der nationale Befreiungskampf der Ukraine hörte mit der Besetzung der Ukraine durch die Bolschewiki auf. Am 30. Dezember 1922 wurde ein Staat gegründet, der durch militärische Invasionen und Revolution etwa hundert Völker und Kulturen vereinte – die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR).

„Der Massenmord an Völkern und Nationen, der den Vormarsch der Sowjetunion nach Europa kennzeichnete, ist kein neues Merkmal ihrer Expansionspolitik, er ist keine Innovation, die einfach nur dazu gedacht wurde, um Einheitlichkeit aus der Vielfalt der Polen, Ungarn, Balten und Rumänen zu bringen, die derzeit an den Rändern des Imperiums verschwindet. Stattdessen ist es ein langfristiges Merkmal gerade der Innenpolitik des Kremls – einer, in der die jetzigen Herrscher reichlich Präzedenzfälle in den Handlungen des zaristischen Russlands finden. Es ist tatsächlich ein unverzichtbarer Schritt im Prozess der ‚Vereinigung‘, womit die sowjetischen Führer zuversichtlich hoffen, den ‚Sowjetmenschen‘, die ‚Sowjetnation‘ zu schaffen. Um dieses Ziel, diese geeinte Nation, zu erreichen, werden die Führer des Kremls gerne die Nationen und Kulturen, die seit langem Osteuropa bewohnen, zerstören“, so Raphael Lemkin.

Der Führer des neu gegründeten Sowjetstaates, Wladimir Lenin, verstand sehr gut, dass die Armee in der Nachkriegsverwüstung Brot brauchte, auch wenn er Transparente in den Händen hielt und über die Macht der Idee sprach. Nach Lenins Vorstellung wurde die Ukraine mit ihrer Schwarzerde und ihrem entwickelten Wirtschaftssystem zu einer Ressource, die das Imperium ernähren musste. Daher beginnt hier mit dem Scheinkommunismus in den 1920er Jahren ein dauerhafter Mangel an Nahrungsmitteln und Proviant. In jener Zeit, in der die Welt nach und nach zerstörte Städte wieder aufbaute, wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik als Teil der UdSSR zur Geisel eines notorisch gescheiterten Plans zum Aufbau eines Weltimperiums.

In den Jahren 1921–1923 führten militärische Verwüstungen, Mangel an arbeitsfähiger Bevölkerung, Dürre und gleichzeitig eine unzureichende sowjetische Getreidebeschaffungspolitik auf dem ukrainischen Territorium zu einer Hungersnot. Aus dem Süden der Ukraine, der am stärksten unter der Dürre litt, wurden Tonnen Getreide zum Verkauf ins Ausland und in die russische Wolgaregion, die ebenfalls unter Hungersnot litt, exportiert. Dabei erhielt die Ukrainische Sowjetrepublik als Kolonie der UdSSR weder Geld noch Lebensmittel.

Mehrere Millionen Menschen, die zwischen 1921 und 1923 an Hunger starben, waren für die Sowjetregierung kein Hindernis mehr, ihre wirtschaftlichen Experimente auf dem Weg zum großen Kommunismus fortzusetzen. Doch selbst die perversen Ambitionen der kommunistischen Regierung hoben die Spielregeln nicht auf: Die Bevölkerung brauchte Brot, der Staat brauchte eine Armee und ein System. Daher wurde 1921 die Neue Ökonomische Politik (NEP) eingeführt. Die NEP ersetzte „Prodrazvyorstka“ (eine Politik und Kampagne zur Beschlagnahmung von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten von Dorfbewohnern – Üb.) aus der Zeit des Kriegskommunismus durch die „Prodnalog“ (Lebensmittelsteuer – Üb.). Während die Prodrazvyorstka die Beschlagnahmung von Getreide in den vom Staat festgelegten Mengen und zu Festpreisen voraussetzte, erforderte die Lebensmittelsteuer die Abgabe von 20 % der landwirtschaftlichen Erzeugnisse an den Staat. Zukünftig sollte dieser Satz auf 10 % gesenkt werden, und zwar monetär.

Dieser Schritt der Sowjetregierung war erfolgreich: Die Lage im Land stabilisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Die verarmte Bevölkerung, die in endlosen Warteschlangen und einem Mangel an Qualitätsprodukten und Industriegütern lebte, trug dennoch zur Unterstützung des Systems bei. Doch mit der Verarmung im neu geschaffenen Imperium wuchs auch die Unzufriedenheit weiter.

Getreideabgabe an den Staat im Dorf Illinzi im Kreisgebiet Winnyzja. 1929. – Zentrales staatliches Film- und Fotoarchiv der Ukraine „H. S. Pschenytschnyj“.

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Kollektive Getreideabgabe von Konsumgesellschaften in Nemyriw im Kreisgebiet Winnyzja. 1929. – Zentrales staatliches Film- und Fotoarchiv der Ukraine „H. S. Pschenytschnyj“.

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Getreideabgabe an den Staat von Bauern des Baryschiwka Bezirks im Kreisgebiet Kyjiw. 1930. – Zentrales staatliches Film- und Fotoarchiv der Ukraine „H. S. Pschenytschnyj“.

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Der Holodomor

Seit 1929 begann die Zwangskollektivierung. Im April 1930 wurde das Getreidebeschaffungsgesetz verabschiedet, das die Abgabe von einem Viertel bis einem Drittel des gesamten geernteten Getreides an den Staat vorsah. Zu dieser Zeit fielen die Getreidepreise auf dem Weltmarkt aufgrund der Weltwirtschaftskrise deutlich. Um weiterhin Geldfluss in den Haushalt zu sichern, musste die UdSSR ihr weltweites Verkaufsvolumen deutlich steigern. Gleichzeitig musste sie das Bild eines erfolgreichen und zielorientierten neuen Staates bewahren, der in Erwartung einer Weltrevolution herablassend auf eine verfallende kapitalistische Welt blickte. Um ihr Image aufrechtzuerhalten, benötigte die UdSSR Geld, und um Geld zu verdienen, musste sie das Volumen der Getreidebeschaffung steigern.
Der Staat nahm von der Bevölkerung immer größere Mengen an Nahrungsmitteln ab, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen. So gab es Anfang der 1930er Jahre über viertausend Bauernaufstände gegen diese Initiative des Staates. Dem durchschnittlichen Bauer war es klar: Wenn er selbst in der Lage war, seine Familie durch seine harte Arbeit zu ernähren, während der Staat dazu nicht in der Lage war, wollte er einen solchen Staat nicht.
Aus Bauerssicht wäre es einfach wahnsinnig, seinen Bauerhof und die Produkte seiner Arbeit an eine Kolchose einfach zu überlassen.

Karte des Widerstands der Ukrainer in den frühen 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts

Die meisten Ukrainer lebten in ländlichen Gebieten. In Wirklichkeit änderte sich die Richtung der Getreidebeschaffung in der Ukrainischen SSR und im Kuban (der russischen Region, in der etwa die Hälfte der Bevölkerung Ukrainer ausmachen – Üb.) von einer rein wirtschaftlichen hin zu einer nationalen. Es ging darum, die Privateigentumsmentalität nicht nur eines einzelnen Bauern, sondern eines ukrainischen Bauern zu beseitigen und seine nationale Identität zu zerstören. Aus diesem Grund waren die vom Sowjetregime ergriffenen Maßnahmen von Anfang an für die Ukrainische SSR und den Rest der UdSSR sehr unterschiedlich.
Nach den ersten Wellen der gewaltsamen Zwangskollektivierung begannen die Bauern massenhaft die Kolchosen zu verlassen: Sie nahmen ihr Inventar, Vieh und Getreide zurück. Lokale Proteste und Sabotageakte breiteten sich auf dem gesamten ukrainischen Territorium aus.

Über das Ausmaß dieser ukrainischen Aufstandsbewegung können wir aus verschiedenen Sonderberichten der Landespolitischen Direktion erfahren. In den Berichten wurden über 67 Bezirke erwähnt, in denen die Bevölkerung gegen die Kollektivierungspolitik war.

Einem dieser Berichte an Stalin vom 28. Dezember 1932 zufolge verhaftete das Regime in den ersten 20 Dezembertagen 12.178 Menschen. Allen wurde offiziell (und fälschlicherweise) vorgeworfen, die Getreidebeschaffungsaktivitäten sabotiert zu haben. In Wirklichkeit war dies eine Möglichkeit, jegliche Proteste oder Opposition der einfachen Bevölkerung zu unterdrücken.

In Zeiten eingeschränkter Kommunikation und der einzigen Informationsquelle in der Staatspresse und im Radio funktionierte diese Informationspolitik hervorragend.

Eine Kundgebung an der Sammelstelle nach Getreideabgabe. Das Dorf Uli in der Region Charkiw, 1932. Zentrales staatliches Film- und Fotoarchiv der Ukraine „H. S. Pschenytschnyj“.

Am 7. August 1932 wurde die Resolution „Über die Sicherung des Eigentums staatlicher Unternehmen, Kolchosen und Genossenschaften und die Stärkung des öffentlichen (sozialistischen) Eigentums“ erlassen. Dieses Dokument war besser bekannt als das „Gesetz der fünf Ähren“. Bei Diebstahl von Kolchose konnten die Täter durch Erschießen hingerichtet werden, unter „mildernden Umständen“ könnten sie mit einer Freiheitsstrafe von mindestens 10 Jahren davonkommen. Nach dem „Gesetz der fünf Ähren“ war es den Menschen nicht einmal erlaubt, die Erntereste von den Feldern einzusammeln. Während dieser Zeit gingen spezielle Patrouillenbrigaden in den Dörfern von Haus zu Haus, um das gesamte Getreide von Bewohnern zu beschlagnahmen.

Bereits 1932 wurde ein unrealistischer Getreidebeschaffungsplan on 356 Millionen Pud Getreide für die Ukraine aufgestellt. Um diesen Plan offiziell zu genehmigen, trafen Stalins engste Vertraute – Mitglied des Politbüros Lasar Kaganowitsch und Regierungschef der Sowjetunion Wjatscheslaw Molotow – in Charkiw ein. Anders als die meisten ihrer Parteifreunde waren sich diese beiden klar der Absicht Stalins bewusst, den Widerstand um jeden Preis zu brechen, insbesondere in der Ukraine. Auf der Konferenz der Kommunistischen Partei der Ukraine ((KP(B)U)) am 6. Juli 1932 warfen Kaganowitsch und Molotow den Führern der KP(B)U vor, die Kollektivierung sei gescheitert, und lehnten den Vorschlag der ukrainischen Kommunisten ab, die Getreidebeschaffungsquoten für die Ukraine zu senken. Eine solche Erklärung scheiterte an allen Bemühungen der Leiter der Kolchosen und Gemeinderäte, zu betonen, dass die Umsetzung des Plans einfach unrealistisch sei. Kaganovichs Antwort war kompromisslos und sehr klar: Das System würde nicht aufhören. Das System hatte die Absicht, alles wegzunehmen.

Pud
Wiegt etwa 16,38 Kilogramm

Auf Initiative Stalins nahm das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU(b) am 22. Oktober 1932 den Beschluss zur Einrichtung außerordentlicher Kommissionen in der Ukraine und im Nordkaukasus an, um die Getreidebeschaffung zu erhöhen. In dem Beschluss wurden die Grundsätze für die Bildung und Koordination der Aktivitäten derselben Patrouillenbrigaden dargelegt, die später Bauernhöfe durchsuchten und nicht nur das gesamte Getreide, sondern auch andere Lebensmittel beschlagnahmten. Molotow wurde Leiter dieser Kommission in der Ukraine. Kaganowitsch war für den Nordkaukasus zuständig. Zu diesem Zeitpunkt war er Leiter der Landwirtschaftsabteilung des Zentralkomitees der KPdSU (b) und trug die volle Verantwortung für die Agrarpolitik der UdSSR. Er war einer von denen, die Millionen Menschen in den Tod führten.

Fast täglich wurden von sowjetischen Behörden Dokumente und Resolutionen herausgegeben; Schritt für Schritt nahmen sie den Dörfern alles weg, was sie hatten. Jede neue Unterschrift eines Beamten nahm den einst reichen und selbstbewussten Eigentümern etwas mehr weg. Jeder neue Brief in einer Resolution brachte sie dazu, sprachlose Sklaven des Systems zu werden.

Der Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der KP(b)U „Über Maßnahmen zur Stärkung der Getreidebeschaffung“ vom 18. November 1932 verlangte die Umsetzung des gesamten Beschaffungsplans bis zum 1. Januar 1933 vor. Die Resolution schaffte alle Sachvorauszahlungen in Kolchosen ab und forderte von Kolchosen die Rückgabe des bereits erhaltenen Getreides, das zur Deckung der Verpflegung ihrer Kolchosearbeiter zur Verfügung gestellt wurde. Betriebe, die den Getreidebeschaffungsplänen nicht nachkamen, wurden mit Sachstrafen auferlegt. Mit dem Beschluss wurden Sachstrafen in Form einer zusätzlichen Bereitstellung von Kartoffeln und Fleisch in Mengen eingeführt, die ihren Beschaffungsplänen über eineinhalb Jahre entsprachen. Es war zulässig, diese Strafen mehrfach zu verhängen. In Wirklichkeit beschlagnahmten die Patrouillenbrigaden alles Essbare, das sie finden konnten. Gleichzeitig führten Spezialeinheiten eine „Hexenjagd“-Politik durch und zerstörten konsequent alle, auch nur potentiellen, Quellen von Unruhe und Meinungsverschiedenheiten. Dies geschah durch Verhaftungen und Verbannung in entlegene Regionen der UdSSR. Auf diese Weise beschlagnahmten die Strafbehörden fast in der gesamten Ukraine sämtliche Lebensmittel.
Am 1. Dezember 1932 verbot der Rat der Volkskommissare der UdSSR den Kartoffelhandel in Regionen, die ihren Verpflichtungen zur Vertragsabgabe und der Kontrolle der verfügbaren Kartoffelvorkommen in Kolchosen nicht nachkommen konnten. Diese Liste umfasste 12 Bezirke der Tschernihiwer Region, 4 der Kyjiwer Region und 4 Bezirke der Charkiwer Region. Am 3. Dezember wurde in einigen anderen Bezirken der Verkauf von Fleisch und Vieh verboten. Ab dem 6. Dezember wurden diese Bezirke sowie einzelne Dörfer auf die „schwarzen Tafeln“ (die „schwarzen Tafeln“ waren die Listen von den Dörfern, die gezwungen waren, den Handel einzustellen und alle Waren abzugeben, weil sie ihr Ablieferungssoll nicht erfüllt hatten – Üb.) gesetzt. Alle Dörfer, die auf diese „Tafeln“ eingetragen wurden, wurden tatsächlich zum Tode verurteilt. Es war verboten, diese Dörfer mit Lebensmitteln zu versorgen, und die Dorfbewohner durften sie auch nicht verlassen. Die Dörfer waren von Armeeeinheiten umzingelt, um eine Flucht zu verhindern. Die Menschen wurden einfach in ihren eigenen Häusern eingesperrt und mussten dann zusehen, wie ihre ganze Familien starben.

Witalij Portnikow. Foto: Oleh Perewersew

„Der Holodomor war eine zivilisatorische Vernichtung der Ukrainer. Josef Stalin hatte ein Ziel: die Ukrainer als zivilisatorisches Phänomen zu zerstören, damit das ukrainische Volk nie wieder seine unabhängige Rolle in der Geschichte spielen könnte“, so Witalij Portnikow.

Am 16. Januar 1933 genehmigte das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU(b) den endgültigen Getreidebeschaffungsplan für die Ukraine mit einer Quote 260 Millionen Pud (4,2 Millionen Tonnen). Es wurde gefordert, dass dieser Plan „um jeden Preis vollständig und zweifelsfrei durchgeführt“ werde. Tatsächlich bestätigte die sowjetische Führung: Sie war bereit, den langsamen und schmerzhaften Tod und moralischen Verfall von Millionen Menschen im Interesse einer „glänzenden kommunistischen Zukunft“ für namenlose Massen hinzunehmen.

Am 22. Januar 1933 wurde die Weisung des des Zentralkomitees der KPdSU(b) und des Zentralkomitees der UdSSR „Über die Verhinderung von Massenabwanderungen hungernder Bauern zur Nahrungsgewinnung“ erlassen: Es wurde verboten, das Gebiet der Sowjetukraine und des Kuban zu verlassen. Der Zeitraum zwischen Januar und Juli 1933 war hinsichtlich der Zahl der Todesopfer am schlimmsten und erreichte im Juni 1933 seinen Höhenpunkt. Die Zahl der Ukrainer, die während des Holodomor starben, belief sich auf Millionen.

Die Bauern des Dorfes Illinzi im Kreisgebiet Winnyzja an der Abgabestelle während der Getreideabgabe an den Staat, 1929. – Zentrales staatliches Film- und Fotoarchiv der Ukraine „H. S. Pschenytschnyj“.

Statistikspiele

„Das Leben ist besser geworden, das Leben ist fröhlicher geworden“, verkündete Genosse Stalin auf dem Ersten Stachanow-Kongress im Dezember 1935. Das Leben wurde tatsächlich „fröhlicher“. Im Jahr 1934 übernahm das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (oder kurz „NKWD“) die Kontrolle über die Abteilungen des Standesamtes. Bald wurde die falsche Begründung, warum zu viele Menschen starben, zu wenige geboren wurden und warum das Sowjetregime nicht derjenige war, der die Schuld trug oder gegen den man protestieren konnte, ersonnen und in einer der Staatsresolutionen präsentiert:

„Die Meldeämter wurden oft von den Klassenfeinden, die diese Organisationen infiltrierten, genutzt, um ihre konterrevolutionären und sabotierenden Aktivitäten durchzuführen, wie zum Beispiel: einen Todesfall mehrmals registrieren, keine Aufzeichnungen über Neugeborene machen und so weiter.“

Es gab noch einen weiteren Grund für eine solche Entscheidung. Bereits 1934 betonte Stalin: Die Bevölkerung in der UdSSR wachse kontinuierlich. Die neuen Statistiken sollten die Daten der letzten Volkszählung von 1926 übertreffen und ein großartiges Bild vermitteln: das Wachstum des Imperiums und das Wohlergehen seiner Bevölkerung, die begierig darauf war, neue Kameraden zur Welt zu bringen. Die realen Daten zeigten stattdessen Millionenverluste in den Jahren 1932–1933.

Besonders feierlich verliefen die Vorbereitungen für die neue Volkszählung im Jahr 1937. Genosse Stalin bearbeitete selbst den Fragebogen und entfernte daraus alle Fragen zu Geburtsort und Umzügen. Am 1. Januar 1937 wandte sich das Zentralkomitee der KPdSU(b) und das Sowjetische Volkskomitee an das Volk mit der Bitte, die Volkszählung sehr ernst zu nehmen, denn „durch die Zahlen müsse es den Sieg des Sozialismus bezeugen“. Da die Mission nicht einfach war – fast zehn Millionen Menschen zu „finden“, die beim Völkermord ums Leben gekommen waren, und Genosse Stalin nicht in Verlegenheit zu bringen – machten die Behörden zunächst ihre Runde, um persönlich mit der Bevölkerung zu sprechen.

Aber „aus irgendeinem Grund“ lief nicht alles wie geplant. Am 6. Januar 1937 wurde die Volkszählung innerhalb eines Tages abgeschlossen – viel früher als erwartet. Am 10. Januar erhielt einer der Volkszählungsleiter ein Memorandum: „Wenn man sich die vorläufigen Zahlen ansieht, sind aufgrund der Volkszählungsergebnisse in der Ukrainischen SSR alle diese Informationen geheim.“ Und tatsächlich: Genosse Stalin konnte die gescheiterte Feier der Blütezeit des Sowjetstaates und den Mangel an mehreren Millionen Menschen nicht akzeptieren. Und wenn es keine Feier gab, musste jemand dafür verantwortlich gemacht werden. Und so geschah es: Die wichtigsten „Spielverderber“ der Stalin-Partei wurden dann die Organisatoren der Volkszählung erklärt, die sofort unterdrückt wurden. Für 1939 war eine neue Volkszählung geplant, die zu einem echten Schwindel wurde, um die Wahrheit zu verschleiern.

Klassenfeinde
Klassenfeinde der UdSSR (auch „antisowjetische Elemente“ genannt) waren Intelligenzija, Priester, Arbeiter und wohlhabende Bauern (Kulaken), denen fälschlicherweise konterrevolutionäre (staatsfeindliche) Aktivitäten vorgeworfen wurden und die zu Verbannung in Arbeitslager oder zu Tode verurteilt wurden.

Anzahl der Verstorbenen pro Tausend Personen

Die Tatsache, dass die Sterblichkeitsraten vom Sowjetregime absichtlich gefälscht wurden, ist kaum schockierend. Das System, das Millionen von Menschen zum Schweigen brachte, konnte nicht zulassen, dass die Welt eines Tages alle Grundlagen der proletarischen Revolution erfährt.

Aufgrund dieses „Spiels mit Statistiken“ stellen verschiedene Wissenschaftler und Forschungszentren des Holodomor ihre eigenen Zahlen zur Zahl der Todesopfer zur Verfügung, die durch Erkenntnisse aus vielen verschiedenen Quellen und Archivdokumenten ermittelt wurden. Darüber hinaus schafft das Fehlen oder die Unfähigkeit, die offiziellen Berechnungen zu finden, Spielraum für Manipulationen. Für einige Historiker ist dies eine Entschuldigung dafür, die Tatsache des Holodomor nicht als Völkermord anzuerkennen. Und Russland zum Beispiel als „Nachfolger der Sowjetunion“ konzentriert seine Bemühungen darauf, die unterschätzte Zahl der Toten in die Öffentlichkeit durchzusetzen, und stellt sogar die Tatsache in Frage, dass der Holodomor eine gezielte Politik des Sowjetregimes war.

Statistik hat immer zwei Seiten. Einerseits verwandelt sie eine persönliche Tragödie in einen Messfehler auf dem Papier. Andererseits ermöglicht es, Trends zu verfolgen und Phänomene tiefer zu verstehen, den Fokus zu wechseln und das Gesamtbild zu betrachten. Es hilft auch, politische Manipulationen und Vermutungen ohne direkte Beweise zu vermeiden. Die Geschichten von Augenzeugen bildeten zusammen mit den Archivdokumenten, die nicht vernichtet wurden, die Beweisgrundlage für die Anerkennung des Holodomor als Völkermord. Diese Beweise wurden auch durch freigegebene Archive des Sicherheitsdienstes der Ukraine gestützt, die jetzt öffentlich zugänglich sind. Auf ihrer Grundlage wurde bewiesen, dass die Sowjetregierung die ukrainische Nation absichtlich zerstörte. Jedes Zeugnis ist ein Drama über das Überleben von Menschen und ganzen Dörfern, ihre Wiederbelebung und Fortsetzung ihres Lebens mit neuen Generationen und Unternehmungen.

Allerdings weist die Geschichte des Völkermords an der ukrainischen Nation noch viele Lücken auf. Es reicht nicht aus, nur etwas über die Verbrechen des Sowjetregimes zu erfahren – es ist wichtig, das Ausmaß dieser Verbrechen anhand der statistischen Daten klar erkennen zu können. Dies könnte insbesondere mithilfe all jener Dokumente geschehen, die aus der Ukraine herausgebracht wurden und jetzt in den Archiven des Kremls aufbewahrt werden. Die wahre und genaue Zahl der Toten würde zu einer nüchternen Tatsache werden, die für ein ganzheitliches Verständnis und die Artikulation des historischen Traumas dieser Größenordnung erforderlich ist.

unterstützt durch

Das Material wurde im Rahmen des Projekts "Holodomor: Mosaik der Geschichte" ("Голодомор: мозаїка історії") in Zusammenarbeit mit dem Nationalmuseum des Holodomor-Genozids und mit Unterstützung der Ukrainischen Kulturstiftung erstellt.

Beitragende

Autorin des Textes:

Jaroslawa Buchta

Walerija Didenko

Redakteur:

Bogdan Logwynenko

Redakteurin:

Jewhenija Saposchnykowa

Expertin:

Julija Kozur

Larysa Artemenko

Experte:

Mychajlo Kostiw

Kameramann:

Pawlo Paschko

Oleg Solohub

Projektproduzentin:

Karyna Piljugina

Regisseur:

Mykola Nossok

Filmeditorin:

Julija Rublewska

Grafiker:

Serhij Rodionow

Grafiker:

Ljudmyla Kutscher

Drehbuchautorin:

Jaroslawa Buchta

Lesja Wakuluk

Sprecher:

Wadym Leus

Bildredakteurin:

Kateryna Akwarelna

Übersetzerin:

Halyna Wichmann

Korrektor:

Klaus Wichmann

Content-Manager:

Anastasija Schochowa

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