Im Jahr 2017 wurde Berdjansk als einer der besten Kurorte der Ukraine anerkannt. Ausgehend von den Daten von „Google Ukraine“ kommt die Suchanfrage „Urlaub in Berdjansk“ öfter als andere vergleichbare Anfragen vor. Das ist auch nicht verwunderlich. Zum einen, ist Berdjansk einer der wenigen Urlaubsorte in Pryasowja (Gebiet entlang der Küste des Asowschen Meeres), welcher mit dem Zug erreichbar ist. Zum anderen, bietet das warme und flache Wasser ideale Bedingungen für einen kindergerechten Urlaub. Im Sommer kommen bis zu 1,5 Millionen Touristen. Eine Menge für eine kleine Stadt mit nur ca. 115 Tausend Einwohnern.
Erste Veränderungen kamen nach Berdjansk mit dem Majdan und dem Krieg. Die Front bewegte sich auf den Urlaubsort zu und die meisten Pensionen, Hostels und Hotels lehnten es schlagartig ab, russische Besucher aufzunehmen.
Es verändert sich auch das Asowsche Meer. Das Wasser wird klarer und salziger.
Andere Veränderungen in Berdjansk sind saisonbedingt. Jeden Herbst ändert sich das Leben in der Stadt plötzlich. Die Saison dauert hier im Schnitt 4 Monate. Schon im September ruht der Großteil der Infrastruktur. Es kommen weniger Touristen und somit Züge. Direkte Zugverbindung bleibt nur mit Saporischschja bestehen.
Dennoch hindern die saisonalen Schwankungen Oleksandr Welytschko nicht daran, sich mit Vergnügen seiner Beschäftigung zu widmen. Er hat es versucht, im hiesigen Tourismus-Geschäft nicht so wie die anderen zu werden. Und es scheint ihm gelungen zu sein. Von Jahr zu Jahr kommen Touristen, um genau bei Onkel Sascha Urlaub zu machen.
Onkel Sascha
Den Besitzer der Gaststätte „Haus am Meer“ nennen alle schon lange Onkel Sascha:
„Wieso Onkel Sascha? Die Gaststätte ist für Kinder, darum nennen mich auch alle Kinder so. Später fingen auch die Eltern an, mich so zu nennen. Selbst 70-Jährige nennen mich Onkel Sascha. 2014 kamen Leute vom Majdan und sind hier eingezogen. Auf die Frage danach, wie sie mich nennen sollen, sagte ich ihnen – ,Onkel‘. Das Wort klingt doch so familiär: Onkel Sascha.“
Früher kamen die meisten Touristen nach Berdjansk aus Russland. Für sie war hier alles eingerichtet: von Wechselstuben an jeder Ecke bis zu zusätzlichen Zügen aus Moskau.
Aber als im Frühling 2014 in Berdjansk erste Geflüchtete aus dem Osten des Landes ankamen, haben sich die Einwohner an ihre Heimat erinnert. Damals entstand die erste Welle des Patriotismus. Die Berdjansker haben verstanden, dass obwohl der Krieg an der Stadt vorbeiging, er dennoch sehr nah, sehr präsent ist. Von den Flüchtlingen hörten sie Geschichten von Pogromen und Plünderung und verstanden, dass es auch mit ihnen und ihrem Zuhause passieren kann, wenn man nicht den Separatisten widersteht. Derweil kam der Sommer und mit ihm, anstatt der üblichen russischen Touristen, kamen nach Berdjansk Ukrainer. Und den Einwohnern der Stadt ist klargeworden, dass ihre Geschäfte nicht einzig und allein von den Russen abhängig sind.
Jenen Sommer hat sich Onkel Sascha auch von russischen Gästen verabschiedet:
„9 Saisons hintereinander machte Oma Swjeta aus Moskau Urlaub bei mir. Sie ist 8 Jahre älter als ich. Und als sie mich im März am Telefon fragte: ,Sascha, was soll das? Was macht ihr denn da? Die Krym ist unser…‘, da war ich schockiert. Das war meine erste Begegnung mit so einem radikalen ,Krymnasch‘ (Ukr. ,Krymistunser‘).“
Im Sommer 2014 kamen keine Kinder in die Gaststätte. Oleksandr Welytschko war in dieser Zeit mit dem Freiwilligendienst beschäftigt, hat die Bataillon „Asow“ mit allem notwendigen versorgt, dafür Spenden gesammelt. Derweil wohnten in der Gaststätte mehrere Monate lang Geflüchtete, Militärs, Freiwilligenhelfer. Zwei Familien aus Donezk haben hier ein Jahr lang gewohnt.
Ukrainische Militärleute behandelt Oleksandr wirklich wie ein wahrer Onkel, er sagt niemals „Nein“:
„Die Jungs fahren an die Front und unterwegs bitten sie mich in der Gaststätte duschen zu dürfen. Als sie im Aufklärungsdienst tätig waren, da kamen sie hierher um ihre Kleidung zu waschen, eine Nacht ordentlich zu schlafen und sind dann weitergefahren.“
Oleksandr ist in Berdjansk geboren und aufgewachsen, dann ist er nach Charkiw gezogen, wo er 18 lang lebte. Er hatte dort Geschäfte im Verkauf von Computertechnik. In die Heimatstadt kam er nur ab und zu um zu angeln. Nach einigen Jahren entschloss er sich dann, hier ein Boot und ein Grundstück am Meer zu besorgen. Eines Tages hat Oleksandr verstanden, dass er erschöpft von Charkiw sei und dass Berdjansk für ihn nicht mehr einfach Ort für die Erholung, für die Seele sei, sondern auch ein Ort zum leben. Später kam seine ganze Familie nach Berdjansk. Und in all den Jahren haben sie diese Entscheidung nicht bereut:
„Hier leben einfach unglaubliche Menschen. Südlichen Charakters, ehrlich und offen. Manchmal sogar zu sehr. Sie haben mich lange nicht aufgenommen. In Charkiw habe ich 18 Jahre in einem Haus mit Menschen gewohnt und wusste teilweise nicht, wie sie hießen. Hier lebe ich wie in einem Dorf. Sie haben mich bereits aufgenommen, ich gehöre schon dazu, es ist schon alles gut. Hier gibt es gefühlt nur eine Straße, alle grüßen sich gegenseitig.“
Wanderbursche
Während der Saison fährt Oleksandr Welytschko seine Gäste mit einem kleinen Motorboot namens „Wanderbursche“. Meeresausflüge helfen den Gästen, sich zu entspannen, einander kennenzulernen.
Das Boot repariert und modernisiert Onkel Sascha selbst:
„Das Alter eines Schiffes wird damit bestimmt, wie oft es repariert oder umgebaut wurde. Meins wurde schon mehrfach geschweißt, ein neuer Motor ist drin. Die Lenkung ist hier aus einem ,Tawrja‘ (Bem.: ein älteres ukrainisches Automobil), die Frontscheibe aus einem ,Gasel‘.“
Auf Onkel Saschas Tasse steht „Karpaten“
Wenn er Kraft tanken muss, steigt Onkel Sascha auf den „Wanderburschen“ und fährt auf die Insel Dsendsyk, unweit von Berdjansk. Auf dem Meeresweg sind es ungefähr 5 Stunden. Diese Zeit reicht ihm, um zu entspannen und alleine zu sein:
„Manchmal brauche ich die Isolation. Besonders im Sommer. Es kommen sehr viele Leute, nette Leute. Aber sie sind wie das Feuer in einem Kamin. Und neben einem heißen Kamin kann man es nicht lange aushalten. Darum möchte man sich manchmal auch vor positiver Energie verstecken.“
Oleksandr sagt, dass die Meereschemie sich ändert: Das Wasser wird klarer, salziger. Deswegen sind hier die Meeresäschen verschwunden. Die Fische sind gezwungen, irgendwo anders Nahrung zu suchen. Einer der Gründe für solche Veränderungen könnte ein beträchtliches Überlaufen des Wassers aus dem Salzsee Sywasch ins Asowsche Meer. Dennoch hat das auch eine positive Seite: die Fischer begeben sich nun seltener aufs Meer und versuchen nicht mehr, massenweise alles zu fangen, was ihnen ins Netz kommt. Rund um Berdjansk gibt es wieder Miesmuscheln. Vor kurzem wurde hier offiziell der gewerbliche Grundelnfang verboten. Wilderei ist hier seit langem eines der großen Probleme.
Die Grundel gilt als eines der Wahrzeichen von Berdjansk, der „Versorger“ der Stadt, sogar ein Denkmal hat er hier erhalten. Und der massenweise Fang von ihm ist für das gesamte Ökosystem im Meer ebenfalls schädlich:
„Die Grundeln haben Glück gehabt. Es gab eine Woche lang normalen Fischfang und dann kamen Stürme auf. Und nach dem 1. Mai wurde ein striktes Fangverbot eingeführt. Zwei Wochen lang hat man dies gründlich überwacht. So etwas habe ich zum ersten Mal gesehen: keiner hat sich aufs Meer begeben, alle sind am Ufer geblieben. Für das Meer war das bestimmt besser. Jetzt wird schon weniger gefischt und ich hoffe, die Ordnung wird wieder einkehren.“
„Berdjansk ist nun wirklich einer Perle der Asowschen Küste. Das war es und das wird es sein. Man kann jetzt diese Perle reinigen, sie wachsen, sich entfalten lassen. Aber dafür müssen große Kosten investiert werden.“
Das Haus am Meer
Onkel Saschas Gasthaus wurde 2005 eröffnet. Der erste Sommer hat viele Emotionen hinterlassen. Die Gäste, welche hierher kamen, haben größtenteils getrunken und gefeiert. Nach einer solchen Saison war Oleksandr völlig entmutigt. Es entstand ein Gefühl, dass es sowas nicht geben darf, das „Häuschen“ ist nicht dafür da:
„Gegen Ende der ersten Urlaubssaison hatte ich eine Depression. Und es ging sogar nicht ums Geld, welches ich damals kaum verdient hatte. Ich dachte mir: ,Soll ich jetzt wirklich mein ganzes Leben lang dieses Desaster beobachten?‘. Der Winter 2005-2006 war sehr hart. Es waren -27°C in Berdjansk, das Meer ist erstarrt, die gesamte Feuchtigkeit in der Luft ist durch den Frost verschwunden. Da habe ich überlegt, wie es weitergehen soll. Da habe ich an die schönsten Momente zurückgedacht. Es waren solche, mit Leuten, die mit Kindern die Pension besuchten. Es gibt hier ein eigenes Territorium, einen Strand, flaches Wasser. Dann habe ich verstanden, dass ich eine eigene Homepage mit einer richtigen ,Message‘ brauche. Dann wird es auch keine zufälligen, unerwünschten Gäste geben. Mir ist wieder klar geworden, dass Kinder wundervoll sind. Diese Idee entstand aus scheinbarer Ausweglosigkeit – und sie hat ins Schwarze getroffen.“
So hat die Arbeit an der Entstehung einer familienfreundlichen Pension begonnen. Und schon nächsten Sommer kamen zur Erholung bei Onkel Sascha nur Familien mit Kindern. Jedes Jahr hat Oleksandr sein Gewerbe optimiert, um den Familienurlaub noch komfortabler zu machen. In der Gaststätte gab es nun Kinderbetreuer, Sportlehrer, Krankenschwestern, sonstiges Personal. Unter den Gästen gibt es in der Regel 50/50 Erwachsene und Kinder.
Diashow
Die Eltern benehmen sich in der Anwesenheit der Kinder vorbildlich. Laute Kinder werden hier mit Ruhe wahrgenommen, denn hier sind alle unter gleichen Bedingungen: heute ist ein fremdes Kind laut, und morgen wird es vielleicht deins sein. Abends sind Betreuer mit den Kindern beschäftigt. Moderne Kinder vergessen hier Tablets und Smartphones und spielen Fangspiele und Verstecken:
„Die Gäste erzeugen selbst diese Atmosphäre. Es ist eine völlig normale Situation hier, wenn ein Vater, der eigenes Kind von seinen Schultern ins Meer springen lässt, im Endeffekt diese Funktion auch für 4-5 weitere fremde Kinder übernimmt. Er kann doch den Kindern nicht einfach den Spaß verweigern. Oder eine Mutter, die mit ihrem Kind spielt, unterhält auch andere Kinder. So eine Art Gruppenerziehung kommt dabei raus. Es sicherlich auch so, da hier eine bestimmte gesellschaftliche Schicht Urlaub macht. Und das ist wiederum auch nicht zufällig. Ich habe die ,Message‘ von mir gegeben – die Leute haben sie richtig aufgenommen.“
Für Oleksandr steht an erster Stelle das Erzeugen einer Atmosphäre der Sorglosigkeit für die Gäste. Jede Kleinigkeit ist dabei wichtig. Die Regel, in Hausnähe nicht zu rauchen, sich an der Bar „zu benehmen“. Für die Gäste ist die unmittelbare Nähe zum Gastgeber wichtig. Auch wenn es bloß kurze abendliche Treffen sind oder gemeinsames Aufräumen der Meeresalgen am Strand. Hierher kommt man wie in den eigenen Garten: alle kennen und grüßen sich.
„Für uns ist es eine ganz normale Situation, wenn das Zimmermädchen aufräumt und parallel den Gästen erzählt was sie in Berdjansk besuchen sollten.“
Dank des Fleißes von Onkel Sascha, dessen Arbeitstag im März beginnt und im Oktober endet, entsteht das Gefühl eines sorglosen Urlaubs.
Der beste Dank für die tägliche Arbeit sind nicht nur wiederkehrende Stammgäste, sondern auch die Tatsache, dass vorher unbekannte Menschen hier Freundschaften knüpfen, Familienurlaube gemeinsam planen. Ihre Kinder werden hier, vor den Augen von Onkel Sascha, groß. Das ist wertvoller als Geld oder sonstige materielle Werte:
„Einige Dinge sind für mich wie eine Belohnung. Beispielsweise kommt ein verwöhntes Kind, das mit Smartphones und Einkaufszentren aufgewachsen ist, zu uns. Und schon zwei Wochen später nimmt dieses Kind an Gruppenspielen teil, vergisst die Gadgets und schwärmt von Gemeinschaftsspielen. Hier finden Kinder eine wahre Kindheit.“