Ich bin sicher, dass westliche akademische Welt das Argument der „unschuldigen russischen Kultur“ nicht aus Mangel an Wissen oder Verständnis für die jeweiligen Zusammenhänge verwenden, sondern als Mittel zum psychologischen Schutz. Der Ansatz ähnelt dem, den wir bei „guten Russen“ sehen, die den Frieden unterstützen, aber gleichzeitig „nicht sicher sind, weil im Fernsehen andere Dinge gesagt werden“. Eine Diskussion über die russische Kultur und ihren Platz erfordert eine komplexe Revision all dessen, was sie für uns bisher bedeutet hat.
Ich bin sicher, dass westliche akademische Welt das Argument der „unschuldigen russischen Kultur“ nicht aus Mangel an Wissen oder Verständnis für die jeweiligen Zusammenhänge verwenden, sondern als Mittel zum psychologischen Schutz. Der Ansatz ähnelt dem, den wir bei „guten Russen“ sehen, die den Frieden unterstützen, aber gleichzeitig „nicht sicher sind, weil im Fernsehen andere Dinge gesagt werden“. Eine Diskussion über die russische Kultur und ihren Platz erfordert eine komplexe Revision all dessen, was sie für uns bisher bedeutet hat.
Man sagt, die russische Kultur sei nach Mariupol unmöglich. Aber sie war schon nach dem Holodomor, nach der Säuberung, nach der Dissidentenbewegung usw. unmöglich. Die Geschichte kennt unzählige Gelegenheiten, bei denen der Humanismus forderte, die russische Kultur als unmöglich oder zumindest als dringend revisionsbedürftig anzuerkennen. Die menschliche Kultur hat solche Revisionen mehrfach erlebt, sogar vor dem Holocaust. Aber heute, so wagen einige zu sagen, ist unsere Erfahrung nicht untrivial genug, um eine solche Revision zuzulassen.
Das Theater von Mariupol nach der Bombardierung. 1200 Zivilisten hatten sich dort versteckt.
Die Logik dieser Revision ist einfach. Wir können die Lügen der russischen Propaganda nicht mehr ignorieren. Trotz ihrer mangelnden Kohärenz hat die russische Propaganda jedoch eine „Erkennungsmelodie“. Dieses Thema findet sich sowohl in staatlich finanzierten patriotischen Filmen als auch bei den „unsterblichen Klassikern“. Und dieses Thema ist es, das den Krieg rechtfertigt.
Die Liste sieht so aus: Exklusivrechte auf eine tausendjährige Geschichte mit Sitz in Kyjiw, Russlands historische Mission, sein „einzigartiger Weg“, eine auf der Spiritualität des Alten Testaments basierende Herrschaft der Gewalt, ein inkohärentes Wertesystem, das westliche Trends verabscheut und gleichzeitig sich anzueignen versucht. Diese Ansichten und Bilder sind in der russischen Massenkultur so weit verbreitet, dass es schwer fällt, sie als reinen Zufall abzutun.
Sicher, ich nehme nicht an, dass die gesamte zeitgenössische russische Massenkultur, von der „Kadetstvo“-Serie bis zum „Wikinger“-Film, als Teil eines großen geheimen Plans entstanden ist. Das wäre eine Verschwörungstheorie. Die gleichzeitige Präsenz von gleichen Themen, Ideen und Bildern in ansonsten unterschiedlichen Produkten deutet jedoch auf einen bestimmten Zeitgeist hin. Der Geist der Zeit ist viel mächtiger als jede ideologische Agenda. Letztere kann ihre Geschichte jeden Tag ändern und sich den momentanen Bedürfnissen anpassen. Der Zeitgeist gibt jedoch den Rahmen vor, innerhalb dessen bestimmte Themen diskutiert werden können.
Ein Plakat zum Film „Crimea“ (2017), der die Annexion verherrlicht. Der Untertitel lautet: „Trenne dich nicht von deinen Liebsten“.
Russische Filmemacher und Showrunner machen also das, was sie machen (neben direkten Verträgen mit ihrem Verteidigungsministerium), weil es konform ist. Es passt zu dem Umfeld, für das es gemacht ist. Hinzu kommen die enormen Zuschüsse, die solche konformen Filme oft erhalten. Zuschüsse im Totalitarismus haben in der Regel einen Nebeneffekt: Der Staat, der sie finanziert, gibt das Geld wahrscheinlich für etwas aus, was mit der „offiziellen Auffassung“ übereinstimmt. Daher werden die Filmemacher ermutigt, staatliche Propaganda zu betreiben, da dies der beste Weg zum Erfolg ist.
Bei „American New Wave“ ging es um Antikriegsstimmung, Paranoia und die Absurdität der Post-American-Dream-Gesellschaft. Das war der Zeitgeist, der sich in Tausenden von Produkten widerspiegelte. Und wenn wir einen Blick auf die zeitgenössische russische Kultur werfen, werden wir viele rote Fahnen des Zeitgeistes sehen, fast wo immer wir hinschauen.
In erster Linie geht es um einen Militärkult. Dieser Militärkult ist postsowjetisch, einschließlich der nostalgischen Verehrung der ausgebeulten Uniform, der gerechten Sache eines russischen Soldaten und der Traditionen der sowjetischen Armee. Die Serien „Soldiers“, „Kadetstvo“ und „Trainees“ (drei hochkarätige Sitcoms, die alle Bereiche des russischen Militärdienstes abdecken) sowie unzählige Militärfilme haben die Ästhetik und den Ton dieses Ansatzes geprägt. Wir betrachten die Idee des Militärdienstes als ein ultimatives Lebensziel, ein Muss für „Jedermann“ in einem Land, das noch nie einen Verteidigungskrieg geführt hat, aber regelmäßig seine Nachbarn angreift. Das ist Faschismus.
Boris Korchevnikov als Aushängeschild für eine Soldatenkarriere in der Serie „Kadetstvo“ (links) und als einer der wichtigsten Medienvertreter für Krieg und Völkermord in der Ukraine (rechts).
Zweitens geht es um die Art und Weise, wie sich Russland nach außen präsentiert. Es gibt russische Klassiker und es gibt russische Filme und Fernsehserien. Letztere haben unter Ausnutzung westlicher Trends ein archaisches und nostalgisches Bild geschaffen, das besonders die Menschen in der postsowjetischen Welt anspricht.
Jeder Versuch, sich von dieser kulturellen Welt zu lösen, stößt auf einen erbitterten Widerstand seitens von Russen. Wir waren damit jedesmal konfrontiert, wenn sie versuchte, uns seine Sprache und Kultur aufzuzwingen und hat gleichzeitig unsere eigenen Medien als „Nazis“ getadelt, weil sie auf Ukrainisch berichtet haben. Der Grund dafür ist, dass die Russen die ukrainische Literatur, Filme und andere Medien oft nicht verstehen. Und wir dagegen wurden gezwungen, ihre zu verstehen. Das ähnelt den Beziehungen zwischen einem Kolonisator und Kolonisierten, die jedem zeitgenössischen Geisteswissenschaftler eindeutig klar sind. Selbst das Vorhandensein dieser Beziehungen sollte ausreichen, um vertraute russische Narrative zu revidieren.
Russland hat sein eigenes Bild von den Ukrainern geschaffen — es sind lauter weichgespülte Trottel und dumme aber gerissene Frauen. Es scheint, als gäbe es eine Quote für einen solchen Figurentyp in den russischen Militärserien. Entweder ein unbeholfener, aber freundlicher „ukrainischer“ russischer Soldat oder eine Praktikantin pro Serie, allerdings ist nur ein oder eine (manchmal mit Familie) erlaubt. So funktioniert der koloniale Exotismus. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass ein solches Bild völlig die Vorstellung der meisten Russen von die Ukraine deckt. Die Serie „Mein wunderbares Kindermädchen“, eine russische Version von „The Nanny“, zeigt ein ukrainisches Starlet aus Mariupol in Moskau. Der Erzählung zufolge fühlt sie sich (und damit „die Ukraine“ für die Russen) einig mit der „russischen Welt“. In der realen Welt bombardiert die russische Armee die Stadt, die sich zu ergeben weigert, und hungert sie aus.
Ein stereotyper Ukrainer, der zum Russen im russischen Militär wird (aus der Fernsehserie „Soldiers“)
Es ist ein triviales Beispiel für Exotisierung und Aneignung des Raums des Anderen. Zugleich bedeutet das Handeln gegen die Erwartungen des Kolonisators eine aggressive Entfremdung. In diesem Fall wird der Kolonisierte nicht zum „Anderen“, sondern zum „Feind“ erklärt, der die rechtmäßige brüderliche Verbindung stört. So setzt man Gaslighting als Instrument in der Außenpolitik ein.
Vielleicht weigern sich einige, die russische Kultur zu revidieren, weil sie denken: „Wenn ich sie ignoriere, wird sie vielleicht verschwinden“. Aber mindestens ebenso wahrscheinlich scheint die Erklärung zu sein, die der belarussische Dichter und Übersetzer Anton Bryl vorschlägt: „Die Art und Weise, wie sich ein Teil des Westens über die ‚große russische Literatur‘ aufregt, sollte endlich als eines der letzten Beispiele des viktorianischen Orientalismus anerkannt werden“. Ich glaube, das ist ein genaues Verständnis dieses Problems. Der Westen versteht nur einen kleinen Teil und zudem nur bruchstückhaft die russischen Verhältnisse, und selbst diese Bruchstücke sind oft ein Ergebnis des sowjetischen Einflusses in der europäischen Slawistik der Nachkriegszeit.
Die russischen Medien haben quasi eine Quote für dumme Ukrainer, aber auch hier hatten wir mehr Glück als hunderte staatenlose ethnische Gruppen. Obwohl es ein reiner Spott war, wurde er uns mindestens erlaubt. Die meisten ethnischen Gruppen, die in die Russische Föderation integriert sind, haben diesen Luxus nicht. Die russische Massenkultur, die einen Militärkult propagiert, ist zutiefst rassistisch. Obwohl viele Besatzer, die die Ukraine angegriffen haben, nicht-slawischen Ethnien angehören, werden in den russischen Militärmedien keine Vertreter der Türkvölker, Sino-Tibeter oder indigener Völker Nordsibiriens nicht gezeigt.
Das ist der implizite Rassismus, auf den Slavoj Žižek hingewiesen hat, und er ist in gewisser Weise dafür verantwortlich, wie die westlichen Länder Russland in diesen Jahren angesehen haben. Europa hilft der Ukraine zum Teil, weil sie „ihr eigenes Land“ verteidigt, aber es steckt noch mehr dahinter. Russland hat sich absichtlich von der westlichen Kultur ferngehalten. Es hat nicht versucht, die Exotisierung zu vermeiden — es hat sie als Deckmantel für die Verschärfung interner Probleme genutzt. Das Problem ist, dass hunderte von verschiedenen Völkern in diesen exotisierenden Zwängen gefangen sind. Und wir neigen dazu, ihre fehlende Stimme zu vernachlässigen, da sie in das übliche „russische“ Narrativ passt.
Natürlich ist die russische Kultur an sich nicht schuld am gegenwärtigen Krieg, und es wäre seltsam, Tolstoi oder Saltykow-Schtschedrin für die Bombardierung von Charkiw verantwortlich zu machen. Aber wir müssen verstehen, dass diese Kultur einen wichtigen Platz in der russischen ideologischen Matrix einnimmt. Unabhängig davon, was der Autor vermitteln wollte, ist diese klassische russische Kultur heute tief in die faschistische Denkweise integriert. Bevor wir also davon sprechen, dass die Kultur „jenseits der Politik“ steht, bevor wir erklären, dass unser Feind „Putin und nicht Puschkin“ ist, müssen wir uns klar machen, wie Puschkin innerhalb der Ideologie wirkt, die das Töten von Zivilisten gutheißt. Man sollte meinen, dass dies die intellektuelle Verantwortung eines jeden Menschen ist, der über eine angemessene Bildung verfügt und sich zu demokratischen Idealen und Humanismus bekennt.
Ich beschränke mich auf zwei Medienstücke. Meiner Meinung nach repräsentieren sie voll und ganz den „russischen Weg“, der ironischerweise (so hoffe ich) als „geheimnisvolle russische Seele“ bezeichnet wird: der Roman „Verbrechen und Strafe“ von Dostojewski und der Film „Wikinger“, der von der „Cinema Foundation of Russia“ (Kinostiftung Russlands) finanziert wurde.
Dostojewski ist eines der „Gesichter“ der russischen Literatur im Ausland. Wir kennen die allgemeine Interpretation aus dem Schulunterricht, und diese breite Sichtweise wurde an jedem Lehrstuhl für russische Literatur aufgenommen und weiterverbreitet, und die westlichen Interpretationen basieren meistens auf russischen Studien.
Die vereinfachte Interpretation von „Verbrechen und Strafe“ sieht folgendermassen aus: Der Autor beschreibt die unermessliche Tiefe, in die ein Mensch stürzt, und dennoch findet er einen Platz für tiefen Psychologismus, der die Menschlichkeit dort erforscht, wo wir gewohnt sind, sie nicht mehr zu suchen. Diese Interpretation ist eine gängige Auffassung, die in den Schulen beigebracht wird und die in den Universität, wenn auch etwas komplexer, vorherrscht. Kein Wunder, denn in der UdSSR sollte jeder Lehrplan der allgemeinen Auffassung folgen. Den Psychologismus gibt es schon. Sowie den Protoexistentialismus. Aber sie funktionieren innerhalb einer strengen sittlichen Gesinnung: Die Menschen zeigen in schlimmsten Momenten ihres Lebens noch Menschlichkeit. Das ist eine feste Hierarchie der Werte.
Diese Erklärung schien immer unaufrichtig, obwohl sie intuitiv war. Die Moral ist da, aber die Umgebung des „Tiefpunkts“ wirkte eher grotesk. Es ergibt allerdings viel mehr Sinn, wenn man versucht, Dostojewski als buchstäbliche Groteske zu lesen, als hyperbolischen Spott über alle gesellschaftlichen Laster. Der „Idiot“ ist der Schlüssel zum Verständnis von „Verbrechen und Strafe“. Es ist die Geschichte eines Mannes, der an etwas glaubt und seine eigenen Werte pflegt. Dieser Mann tritt in die „gewöhnliche“ russische Gesellschaft ein und wird von ihr erdrückt, weil die Gesellschaft nicht anders kann. Persönliche Bestrebungen spielen keine Rolle, denn Russland als Ganzes ist von Natur aus zerstörerisch. Dostojewskis Tagebücher bekräftigen diese Sichtweise: „Das Haupt- und Grundproblem des russischen Volkes ist sein Bedürfnis, immer und überall zu leiden, ewig und unerschütterlich“. Wenn wir diese Sichtweise akzeptieren, ändert sich die Hierarchie: Ja, es sind normale Menschen, und es fällt uns leicht, sie als solche zu erkennen. Aber die höllischen Umstände, in denen sie sich befinden, wurden durch ihre eigene Handlungen und Entscheidungen geschaffen und aufrechterhalten. Außerdem gibt es keine Wahl, die uns einen Ausweg bietet. Dostojewski bietet uns die Verwirrung der Normalität. Es handelt sich nicht um eine hegelianische Rechtsphilosophie, bei der das Erkennen der Menschlichkeit hinter dem Verbrechen entscheidend ist. Im Gegenteil, jedes Verbrechen ist technisch gerechtfertigt, solange wir uns daran erinnern, dass ein Verbrecher auch ein Mensch ist. Irgendwie bietet der russische Diskurs über die Kriegsanstrengungen in der Ukraine mehr als genug Unterstützung für diese Interpretation.
Eine Aufnahme aus dem Film „Down House“ (2001). Eine Interpretation von „Der Idiot“, die Myschkin als einen seltsamen, von westlichen Trends geschwächten Menschen zeigt.
Werfen wir nun einen Blick auf den „Wikinger“-Film. Wolodymyr der Große als historische Figur ist ein „Urvater“ sowohl Russlands als auch der Ukraine. Die Geschichte beider Länder dreht sich um Kyjiw. Natürlich geht es hier nicht um eine konkrete Blutlinie aus dem letzten Jahrtausend. Der mittelalterliche Staat war multiethnisch, mit unterschiedlichen Einflüssen in den verschiedenen Regionen. Aber eine solche differenzierte Betrachtung spielt im Gründungsmythos keine Rolle.
Der Mythos von Wolodymyr ist wichtig, weil er ein Wiedergeburtsmythos ist. Ein grausamer Heide, der durch Verbrechen zur Macht gelangt, wird später von Gottes Gnaden gesegnet und beschließt, alle anderen mit Feuer und Schwert zu taufen. Es ist ein typisches Bild eines mittelalterlichen „barbarischen Täufers“, das sich nicht so sehr vom Bild Chlodwigs I. unterscheidet. Deutschland und Frankreich leugnen jedoch nicht ihre gegenseitige Existenz aufgrund der merowingischen Geschichte. Die Sache mit Wolodymyr ist also zumindest problematischer.
Die Geschichte von Wolodymyr in den mittelalterlichen Quellen ist eine Vita, ein typisches Genre in der östlichen Orthodoxie. Eine menschliche Vita folgt entweder dem Leben Jesu (göttliche Berufung seit der Kindheit) oder dem Leben des Paulus (erwachsene Berufung/wiedergeborener Sünder). Wolodymyr gehört, wie die meisten deutschen Könige, zu den letzteren. Hier ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir mit religiöser Literatur zu tun haben. In Russland, wo Orthodoxie und religiöse Erziehung staatlich erzwungen werden, ist es vernünftig, die Lebensläufe als moralische Lektionen zu betrachten.
Wie wird diese Moral in der Massenkultur umgesetzt? Wolodymyr wird als barbarischer Wildling dargestellt. Er ermordet Unschuldige, vergewaltigt Frauen und begeht andere Gräueltaten. Kaum eine Ikone für einen geliebten Herrscher. Aber er wird (im Film) zu einem solchen, sobald Gott ihn berührt. Diese Entscheidung für die Orthodoxie ist ein Schlüsselmoment für die russische Ideologie, eine Illustration der ewigen Spaltung zwischen dem Westen und der „russischen Welt“. Es ist jedoch anzumerken, dass diese Gnade keine persönliche Leistung des Helden ist. Er erleidet keine lebensverändernde Transformation außer dieser Gnade ex Machina. All dies geschieht nur, weil Wolodymyr den richtigen Gott wählt. Diese Gnade bringt keine Erlösung; im Gegenteil, sie legitimiert alle früheren Verbrechen als Errungenschaften.
Der Moment der Epiphanie ist der „Wikinger“.
Diese Geschichte wird nicht als eine spirituelle Transformation vom Bösen zum Guten gelesen. Das Gute und das Böse werden zu zwei moralisch gleichwertigen Teilen von Wolodymyrs Leben. Diese filmische orthodoxe Epiphanie ist etwas, was wir auch von Putin gehört haben: „Wir kommen als Märtyrer in den Himmel, während andere einfach untergehen werden“. Aus der Sicht der russischen Orthodoxie ist die wichtigste Errungenschaft die Gnade selbst, die die Absolution trotz aller Taten garantiert. Ich bin mir nicht sicher, ob Europa eine solche Politik seit dem Albigenserkreuzzug gesehen hat.
Und jetzt sind wir wieder beim Problem mit Dostojewski. Ihm war die Gattung einer Biographie wohl bekannt und verfasste sein „Verbrechen und Strafe“ nach ihrem typischen Schema. Während der „Wikinger“ uns eine spezifische Moral vor Augen führt, die auf einen Herrscher zugeschnitten ist und mit dem sich Putin offen verbinden möchte, liefert Dostojewski mit seinem Raskolnikow ein Modell für einen klassischen „kleinen Mann“ der russischen Literatur.
Dieser kleine Mann erfüllt sich nur durch Gewalt, da er es nicht besser weiß. Ebenso kann er nur durch das Eingreifen Gottes erlöst werden, als ob diese Welt von Natur aus zu böse wäre, dass ein persönlicher guter Wille überhaupt existieren könnte. Diese Einmischung ändert die Dinge nicht zum Besseren, bewirkt keine moralische Wiedergeburt und führt nicht dazu, dass man sich selbst in Frage stellt und die eigene Verantwortung bewertet. An keiner Stelle dieser äußeren Bestrafung kann man von einer inneren Sühne sprechen. Die Welt um die Hauptfigur herum ist immer noch verdammt; das ist der Standardzustand. Der Leichtgläubige hingegen akzeptiert diesen Zustand.
Eine Collage von Andriy Hryshchuk. Dostojewski blickt durch ein Granatenloch in einen ukrainischen Kindergarten.
Dieser Zustand von Leichtgläubigkeit ist sowohl in der russischen Kultur als auch in der Ideologie von wesentlicher Bedeutung. In religiöser Hinsicht geht es um die Fähigkeit, Gottes Gnade selbst in den tiefsten Tiefen des Unmenschlichen und Unmoralischen zu sehen. Aus dieser Perspektive ist ein Verrückter ein Heiliger, der die Gabe Gottes besitzt, das Gute auch dort zu sehen, wo es nicht existiert. Dies ist die „geheimnisvolle russische Seele“ von Dostojewskis Humanismus. Dunkelheit, Verzweiflung, Obskurantismus und Gewalt spielen keine Rolle, wenn wir uns die Schattierungen der Gnade aufsetzen. Diese Gnade verändert die Welt nicht zum Besseren und löst keine zentralen Probleme; sie lässt uns alles als Teil eines Plans akzeptieren.
Wiederum, das heißt nicht, dass wir Dostojewski oder die russische Kultur selbst in Vergessenheit verbannen sollten. Aber die Zeichen sind gut sichtbar: Die russische Kultur dient derzeit als eine weitere Quelle für sanfte Gewalt und Propaganda. In vielen Fällen rechtfertigt sie die faschistische Politik und aggressive Kriegstreiberei. Der kulturelle Kanon kann im Totalitarismus nur als Diener des Regimes existieren. Wir haben bereits Wagner, Hamsun und andere Figuren, die mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht worden sind, vor kurzer Zeit revidiert. Ganz zu schweigen von tausenden von Autoren, die unter postkolonialen Gesichtspunkten umgedeutet wurden.
Die Rolle Russlands im Zweiten Weltkrieg hat diese Revision im 20. Jahrhundert verhindert und die Slawistik in Europa geprägt. Aber ohne eine angemessene postkoloniale Revision der russischen Kultur können wir nicht einmal anfangen hunderte von kolonisierten und halbassimilierten Stimmen wahrzunehmen, die sich durch die vom Krieg erzwungene „Brüderlichkeit“ durchzubrechen versuchen. Ohne diese Revision können wir nicht ernsthaft behaupten, dass wir die russische Kultur in irgendeinem Maße verstehen. Kein Autor ist persönlich dafür verantwortlich. Aber das ist die intellektuelle Verantwortung eines jeden Gelehrten oder Kritikers.