Das ist die Geschichte über die Roma-Gemeinschaft in Winnyzja und deren langsame Integration in die ukrainische Gesellschaft. Die Gemeinschaft wird schon seit mehr als 10 Jahren vom Baron Petro Ogly geleitet. In der großen Familie ist er der einzige, der eine Hochschule erfolgreich absolviert hat. Eben deswegen hat er seinen Baron-Titel von seinem Vater vererbt, und nicht seine älteren Brüder, wie es laut der Roma-Tradition üblich ist.
In Winnyzja leitet Petro ein Musikensemble, ist aktiv bei der Gemeinschaft tätig und löst alle mögliche Fragen von den einheimischen Roma.
Er wohnt und arbeitet in der Ukraine schon seit mehr als 30 Jahren und hat das erreicht, wovon die ganzen Roma-Generationen nur träumen können: Respekt von anderen Bewohner der Ukraine.
Petro Ogly wurde in Kasachstan in der Stadt Almaty geboren. Er absolvierte die Kasachische Staatliche Universität und bekam eine Qualifikation eines Dirigenten, eines Leiters des Estradenorchesters. Während seines Studiums arbeitete er Teilzeit als Musiker in Restaurants, und als er nach Winnyzja umgezogen ist, arbeitete es fünf Jahre lang im Haus der Offiziere und fünf Jahre lang als Musiklehrer in einer Schule. Nun ist Petro ein erfolgreicher Musiker und ein Baron, und dazu noch der erste in der Gemeinschaft und in der Familie, der sich taufen ließ. Er hat seine Band „Baron“, hat viele Konzerte, nimmt aktiv an das öffentliche Leben der Gemeinschaft teil und löst die Fragen von den einheimischen Roma. Der Baron ist der erste, der Ratschläge gibt. Petro bemüht sich sehr, dass seine Gemeinschaft sich wirklich entwickelt und alle da eine Ausbildung bekommen.
Das Haus des Barons steht unter anderen Privathäusern. Das Haus ist nicht pompös, das ist ein normales Haus ohne Schick und Glanz. Petro zieht sich ganz casual an, er lächelt viel und erzählt gerne von sich selbst.
1984 ist Petro mit seiner Familie aus Kasachstan in die Ukraine umgezogen. In Winnyzja wohnte damals seine Schwester und die Familie hat sich entschieden, sich zu vereinigen:
„Vater und Mutter haben so entschieden, dass wir umziehen müssen. Und gerade hier habe ich mit meiner Tätigkeit als Musiker aktiv angefangen.“
Petro erinnert sich an den Umzug der Familie, die damals aus 12 Personen bestand:
„Zuerst fuhren wir mit dem Zug nach Moskau, dann noch nach Winnyzja. Damals konnte man alle Sachen in einen Container abgeben und dieser Container wurde hierher transportiert. Wir kamen ohne Sachen. Wir haben ein Haus gekauft und sind eingezogen. Dann ist der Container gekommen und wir konnten nichts davon, was drinnen gekommen ist, weiter benutzen – alles war zerbrochen, das Möbel war kaputt. Wir mussten alles wegschmeißen. Nur unsere Bekleidung, Polster und Decken haben wir gelassen.“
Roma-Tradition
Der Vater von Petro Buralij war der älteste Roma-Baron in der Ukraine und lebte 108 Jahre lang.
Es gab auch ältere Brüder in der Familie, jedoch hat Petro den Titel des Barons vererbt.
„Der Vater wollte mir seinen Titel übergeben, weil ich jünger und ausgebildet war, obwohl normalerweise wird der Titel an den Älteren übergeben. Ich bin der einzige in der Familie, der Hochschulabschluss hat, deswegen bekam ich diesen Titel von meinem Vater, weil ich mich damit seriöser beschäftigen und alle Fragen ernsthafter lösen würde.“
Seit 12 Jahren hält Petro den Titel des Barons und plant, ihn dann später an einen seiner Söhne zu übergeben. Aber momentan ist er noch voll Kraft und Energie, die Aufgaben des Barons zu erfüllen.
Für Roma ist die wichtigste Aufgabe, die eigenen Traditionen sorgfältig zu bewahren. Es ist klar, dass mit der Entwicklung der Gesellschaft und der Technologien, passen sich die progressiven Repräsentanten der Gemeinschaft an:
„Es gibt so einen Begriff ‚den Tritt fassen‘. Wir machen gerne mit, wenn wir wenige Schritte zurückbleiben, dann wird es sehr schwer. Denn man verwildert. Alle Informationen, die jetzt aktuell existieren, haben wir. Aber trotzdem dürfen wir über unsere Wurzeln nicht vergessen. Und es geht auch parallel: Es gibt Platz sowohl für Modernes, als auch für Vergangenheit. Es ist ganz wichtig, die Romani-Sprache nicht zu vergessen, weil sie verschwindet jetzt. Die Roma müssen zumindest drei Sprachen beherrschen: Romani, Ukrainisch und Russisch.“
Noch eine Tradition, die immer bei Roma beachtet wird, ist Verehrung der älteren Generation. Zum Beispiel, wenn ein älterer Mann einen Raum betritt, müssen alle Jugendlichen aufstehen. Petro hält das für eine gute Tradition.
Der Baron hilft den älteren Roma in Winnyzja. Als Leiter der Roma-Gemeinschaft, sammelt er Finanzen, Essen und Bekleidung für diejenigen, die das wirklich benötigen. Seine Errungenschaft ist es auch, dass alle von denen die ukrainischen Pässe haben und auch eine minimale Pension erhalten.
Den Titel des Barons hat Petro von seinem Vater vererbt, und die Gemeinschaft selbst hat ihn zum Leiter der Organisation gewählt.
„Die kommunizierten untereinander, kamen zu mir und sagten: so haben wir entschieden, dass du uns leiten musst. Es gab auch Wahlen. Und noch vier Kandidaten nahmen daran teil, aber alle waren davon überzeugt, dass ich das alles übernehmen muss. Also, danke fürs Vertrauen. Und schon 16 Jahre lang leite ich die Gemeinschaft.“
Petro löst verschiedene Fragen der Roma-Gemeinschaft. Manchmal muss es auch die Rollen eines Familien-Psychologen übernehmen, mit den staatlichen Behörden und mit der Polizei arbeiten. Im Großen und Ganzen liegen alle Fragen der Winnyzjaer Roma in seiner Kompetenz:
„Wir bemühen uns, die Wohnbedingungen von Roma auch zu verbessern. Derzeit passt da nicht ganz, aber wir bemühen uns. Wir kontrollieren, dass die Kinder die Schule besuchen. Dabei habe ich persönlich die Kontrolle übernommen. Damit es nicht so wäre, wissen sie, 2-3 Jahre lang die Schule besuchen und dann fertig. Jetzt, zum Beispiel, absolvierten fünf Roma eine Juristische Fakultät der Universität. Es gibt schon mehrere Roma, die einen Titel eines Professors sowie ein PhD haben.“
Petro Ogly ist in der Gemeinschaft sehr aktiv. Ziemlich lange koordinierte es die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für Roma-Rechte (ERRC, Budapest, Ungarn) in der Ukraine. Seit 6 Jahren war er mit dem Thema Menschenrechte aktiv beschäftigt und arbeitete in der Roma Kultur- und Ausbildungsorganisation „Romani Yag“ als Korrespondent der gleichnamigen Zeitung.
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Roma-Gemeinschaft
Die ukrainische Gesellschaft reagiert heutzutage ganz unterschiedlich auf die Präsenz der Roma. Es gibt leider immer noch kein Respekt vor den meisten Repräsentanten dieser Gemeinschaft. Manche haben wirklich Angst vor Roma, manche haben Vorurteile und manche sind sogar radikal und aggressiv gestimmt.
Petro hatte nie eine Aggression seitens anderer Menschen in seinem Leben erlebt. Seiner Meinung nach, sei Winnyzja sehr Roma-tolerant. Und das ist unter anderem das Ergebnis seiner Tätigkeit, weil es ihm gelungen ist, mehrere Roma zu unterstützen und für die einen passenden Arbeitsplatz zu finden, in Gesellschaft mehr Akzeptanz zu schaffen. Die sind meistens im Handel beschäftigt oder als Kleinunternehmer und Künstler.
Es gibt keine Roma-Bettler in Winnyzja. Diejenigen, die man auf den Straßen sehen kann, nennt Petro „Einwanderer“. Aber der Baron kann auch nicht jeden einzelnen kontrollieren. Ab un zu passieren auch Sonderfälle:
„Es passiert ab und zu etwas, die Polizei kommt und wir müssen dann zusammen herausfinden, wieso es passiert ist. Ich bin ein Gemeinschaftsleiter, deswegen übernehme ich auch die Verantwortung dafür. Ich finde Lösungen und Kompromisse. Ich soll. Es kann nicht anders sein.“
Der Baron erzählt, dass das Leben der Roma in Winnyzja heutzutage sich kaum von dem Leben der ganz normalen Ukrainer unterscheidet. Aber jeden Tag der Roma Gemeinschaft ist mit Stereotypen befüllt, die die Vorstellung über die Roma in der Ukraine eingeprägt haben. Petro verbindet diese Stereotypen mit einer gewissen Geschlossenheit der Gemeinschaft selbst:
„Roma – das ist eine komplizierte Nationalität, die ist geschlossen. Aber wir bemühen uns, dass man mehr über uns erfährt. Die wurden immer vertrieben und erpresst, weil keine Fremden rein durften und die Gemeinschaft ganz geschlossen war. Das ist wie eine genetische Gewohnheit der Menschen. Es ist auch heutzutage kaum verständlich, dass man sich versteckt und Angst hat. Aber die Menschen sind sowieso geschlossen.“
Petro sieht keinen Unterschied zwischen Problemen von Roma und Problemen von Ukrainern, er glaubt, die seien gleich:
„Wir wohnen alle in einem Land. Wodurch unterscheiden wir uns von euch denn? Ist unser Brot von einer besonderer Art, oder ist euer Brot anders? Wir gehen genauso in ein Laden, kaufen Brot, Mineralwasser, Tee. Die aktuellen Probleme in der Ukraine betreffen alle in allen Sphären und wir alle sind Menschen. Ein und dasselbe Problem ist für uns alle gleich, wir können uns nicht verstecken. Und dabei spielt es schon keine Rolle, ob es ein Rom oder ein Ukrainer ist.“
„Es gibt keine schlechte Nation, es gibt aber schlechte Menschen. Überall ist es so: in der Ukraine, in Russland, überall. Einfache Menschen. Es gut gute, fröhliche Menschen. Und es gibt schlechte Menschen. Aber trotzdem sind das Menschen, stimmt’s?“
Sprachliche Vielfalt
Die Romani gehört zu der indoarischen Sprachgruppe der indoeuropäischen Sprachen. Es ist die einzige europäische Sprache indischer Herkunft. Wegen sämtlichen Sprachkontakten bekam sie auch einige Merkmale der balkanischen Sprachunion.
Laut Petro Ogly hat Romani mehrere Dialekte. Manchmal passiert es so, dass zwei Roma aus verschiedenen Region sich kaum verstehen können.
„Ich besuchte Konferenzen in Europa und ich musste kommunizieren und Dialekte lernen, weil die Roma im Ausland nur Romani oder Englisch sprechen.“
Einmal musste Petro für zwei Roma aus verschiedenen Ländern dolmetschen:
„Ich war mit meiner Band in Ungarn bei einem Festival und es war so eine Situation, dass die Roma aus Rumänien und Bulgarien nebeneinander saßen und versuchten, etwas zu besprechen. Ich hörte sie zu und lachte so sehr. Und ich beherrsche viele Dialekte, ich kommuniziere mit ganz vielen Leuten ständig und in diesem Fall musste als Dolmetscher eingeschaltet werden.“
Die Musik
Petro singt sehr gerne. Der Baron singt und spielt Gitarre und seit 2001 leitet seine eigene Band „Baron“, seine Söhne sind dabei auch aktiv engagiert. Die Band reist viel in der Ukraine und im Ausland, die spielen bei Festivals, Konzerten und Hochzeiten. Petro sagt, dass Musik immer die Roma begleitet:
„Es ist ein musikalisches Volk. Das kommt mit dem Muttermilch. Das Kind ist noch klein, aber tanzt schon. Und so wird alles weitergegeben, versteht ihr? Das ist wohl das einzige derartige Volk, das ganze Leben Lang mit Musik.“
Petro erklärt, dass es eigentlich keine „Zigeuner-Schlager“ gibt:
„Die existieren nicht. Wer würde die schreiben? Zigeuner ohne Ausbildung? Um Musik zu komponieren und Notenblatt zu schreiben, das alles. Und es könnte nicht so sein. Es gibt keine Zigeunermusik überhaupt. Die wurde künstlich geschaffen. Und ich erkläre, wie es war. Zum Beispiel, sang man auch ganz oft am Hof der Wohnhäuser, und manchmal waren das die Superstars der Szene, so wie Schaljapin. Und die Zigeuner nahmen das, was sie dort hörten und sangen nach. Die lernen die Worte, die Musik dazu und machen das auf ihre eigene Weise. Und die gehen mit diesem Lied in den Hof raus. Und dieses Lied wird mit 2-3 Gitarristen, eine Solistin gesungen. Und es gibt schon ihre eigene Schattierungen, Zigeuner-Melisma eingefügt in das Lied von Schaljapin. Und so sangen sie in einem anderen Format. So sind die Zigeuner-Schlager geboren, und die wurden nie so extra komponiert. Es gab die nie.“
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Zusammen mit seiner Band bearbeitet Petro auch die Volkslieder, sowohl ukrainische als auch Roma-Lieder. Und der Musiker tritt nicht nur mit „Baron“ auf, sondern mit anderen Musikern und Solisten in der Stadt.
Der Mann genießt in Winnyzja große Verehrung nicht nur von Roma, sondern auch von den einfachen Winnyzjaer. Die Konzerte mit seiner Teilnahme sammeln volle Konzerthäuser, dabei sind die Zuschauer sowohl Roma als auch Ukrainer, diejenigen, die Roma-Musikgefühl oder Charisma der Musiker mögen.
Petro hat Konzerte in Transkarpatien gehabt, und er sieht einen klaren Unterschied zwischen Roma aus Winnyzja und Roma aus Transkarpatien:
„Das ist überhaupt eine ganz andere Welt, Transkarpatien – das ist der einzige Ort, wo die Roma anders sind, nicht so wie hier. Ja, es gibt quasi eine Grenze da, die uns teilt. Ich kann sogar selbst nicht verstehen, wer die sind.“
Lest unsere Geschichte über die Roma aus Transkarpatien.
Petro pflegt Kontakte zu anderen Baronen. Die haben Versammlungen und planen, wie man das Leben der Roma-Gemeinschaft in der Ukraine verbessern kann. Petro Ogly hat viele Pläne, aber die Hauptaufgabe ist, die Roma-Kultur populär zu machen. Und er macht das durch verschiedene Wege: durch Musik, durch Festivals, durch aktive Gemeinschaftsleben:
„Ich fahre nach Kyjiw, da findet am 2.-3. August der Holokaust-Gedenktag statt. Wir fahren nach Podil, da finden Roma-Veranstaltungen statt, wir werden uns an die ermordeten Roma erinnern. Und dann gehen wir mit Gitarren zu Dnipro.“