Seit Jahrhunderten hat das Russische Zarenreich und die Sowjetunion mittels Zensur, Propaganda und Informationsblockade nicht nur Versuche unternommen die nationalen Identitäten von Ukrainern und anderen unterdrückten Völkern auszulöschen, sondern auch ihre Geschichte, kulturellen Werte und wissenschaftliche Errungenschaften in Vergessenheit geraten zu lassen. Wiederholt wurden Ukrainer durch Deportationen, Hungersnöte wie der Holodomor, Repressionen und Kriege physisch vernichtet. Diese Methoden hat Russland (sei es als Zarenreich oder als Hauptrepublik der Sowjetunion) immer wieder eingesetzt, um das historische Gedächtnis der Ukrainer auszuradieren.
In diesem Artikel geht es um vergangene und aktuelle Herausforderungen, die das ukrainische Volk im Kampf für die Erhaltung seiner Identität überwand und noch überwinden muss.
Zur Dekolonisierung der Ukraine gehört auch das Wiederbeleben einer ganzen Schicht des nationalen Gedächtnisses. Dies ist ein Befreiungsprozess von dem russischen imperialistischen Erbe, welches seit dem Zerfall der Sowjetunion erhalten bleibt. Ein positiver Schritt auf diesem Weg war die Gründung des Institutes für nationale Erinnerung, dessen wichtigste Aufgabe war der Bevölkerung den Zugriff auf bis dato der Geheimhaltung unterliegende Informationen und Dokumente zu gewähren. Im Zuge dessen wurde 2015 das Gesetz verabschiedet, welches die Archive über die zahlreichen Verstöße gegen die Menschenrechte und andere Verbrechen des Kommunismus öffentlich macht.
Das historische Gedächtnis ist ein soziokulturelles Phänomen, wenn sich eine Gesellschaft gemeinsam ihrer Vergangenheit bewusst wird. Dazu gehören die Kenntnis der wichtigsten Ereignisse der nationalen Geschichte, Wahrnehmung ihrer Symbole, Gedenken an bedeutende Daten, Persönlichkeiten usw. Das nationale Gedächtnis soll bewahrt und gepflegt werden, um aus der Erfahrung früherer Generationen zu lernen, deren Fehler nicht zu wiederholen und die Zukunft künftiger Generationen zu verbessern.
Holodomor und Völkermorde
In Artikel 2 der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 wird Völkermord als ein Handlung definiert, die „in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Der russische Staat versuchte gezielt seit Jahrhunderten, das ukrainische Volk auszulöschen. Die Ukrainer wurden sowohl in der Vergangenheit vom Russischen Zarenreich und der Sowjetunion als auch in der Gegenwart von der Russischen Föderation unterdrückt.
„Das erste Brot dem Staat“, steht auf dem Plakat
Die Ukraine erlebte in ihrer Geschichte drei Hungersnöte, 1921–1923, 1932–1933 und 1946–1947. Die verheerendste davon war der Holodomor 1932-1933 – eine von der Sowjetunion künstlich geschaffene humanitäre Katastrophe, infolge deren Millionen von Ukrainern ums Leben kamen. Das 2006 verabschiedete Gesetz „Über den Holodomor 1932 – 1933 in der Ukraine“ war der erste Rechtsakt, der den Holodomor als Völkermord definierte.
Tote und vom Hunger sterbende Menschen liegen auf der Straße
Durch die von der sowjetischen Regierung gezielt organisierten Massenrepressionen wurden Millionen von Ukrainern getötet. Eine der Absichten hinter dem Holodomor 1932 – 1933 war der Versuch, den Widerstand der Ukrainer gegen das autoritäre sowjetische Regime zu brechen, ihre nationale Identität und das Bestreben nach Selbstbestimmung auszulöschen und sie zu gefügigen Bürgern der Sowjetunion zu machen. Selbstverständlich wurde dies von der sowjetischen Geschichtsschreibung verheimlicht.
Jahrzehntelang wurden die Details über die grausamen Vernichtungen des ukrainischen Volkes verschwiegen. Die ukrainische Geschichte wurde verdreht, um die Verbrechen des totalitären sowjetischen Staates zu vertuschen. In der sowjetischen Ukraine war es sogar gefährlich, den Holodomor nur in privaten Gesprächen zu erwähnen, weil dies jahrzehntelange Haft im sog. Gulag bedeuten konnte. Auch heute machen Zeitzeugenberichte über die damaligen Ereignisse deutlich, dass Menschen Angst hatten, darüber zu sprechen. Wegen dieser erzwungenen Zurückhaltung und der Angst, die Augenzeugenberichte über das Holodomor weiterzugeben, entstehen Lücken im nationalen Gedächtnis.
Gulag
Ein Netz von Straf- und Zwangsarbeitslagern, das in der Sowjetunion zwischen 1934 und 1956 existierte.„Arbeit bedeutet Ehre, Ruhm, Tapferkeit und Heldentum“
Eines der Mittel zur Vernichtung der Ukrainer in der Sowjetunion war der physische Druck gegen die ukrainische intellektuelle Elite. Die sowjetische Regierung führte sog. „Säuberungen“, Verhaftungen, Inhaftierungen und Deportationen von Professoren, Wissenschaftlern sowie Künstlern, Autoren und Komponisten durch. Dadurch wurden den Ukrainern die Möglichkeiten entzogen, sich frei kulturell zu entfalten, akademische Tätigkeit auszuüben und über die eigene Geschichte zu reflektieren. Dies führte zum Phänomen der sog. „erschossenen Renaissance“ – einer Generation der geistigen, kulturellen, literarischen und künstlerischen ukrainischen Elite, die in den 1920-1930er Jahren in der Zeit „des großen Terrors“ hingerichtet wurde.
Der Große Terror
Der Große Terror ist eine von 1936 bis 1938 stattfindende Verfolgungskampagne gegen mutmaßliche Gegner von Stalins Herrschaft, bekannt als stalinsche Repressionen.Mitarbeiter des Innenministeriums bei der Hinrichtung der sog. „Feinden des Sowjetvolkes“
Straßen, Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen trugen oft nicht die Namen von bedeutenden ukrainischen, sondern russischen Persönlichkeiten, auch wenn letztere an den Repressionen gegen die Ukrainer teilnahmen. Straßennamen dienen oft dazu, Bevölkerungen unterbewusst an Ereignisse und Persönlichkeiten, welche für eine Stadt oder eine Nation eine gewisse Wichtigkeit tragen, zu erinnern. Auf diese Weise versuchte die sowjetische Regierung, das öffentliche Leben zu beeinflussen, um das kulturelle Erbe der Ukrainer und die Erinnerung an wichtige ukrainische Persönlichkeiten auszulöschen.
Im 21. Jahrhundert begann eine neue aktive Phase des Völkermordes in der Ukraine. Die vor 100 Jahren begangenen Verbrechen wurden nicht bestraft, und somit verbreitete sich der russische Chauvinismus immer mehr. Heute versucht Russland erneut, die Ukrainer und alles, was mit ukrainischer Kultur zu tun hat, physisch auszulöschen. Am 14. April 2022 verabschiedete die Werchowna Rada (das ukrainische Parlament) die Verordnung „Über die Verübung des Genozids durch die russische Armee“, in der die Handlungen der russischen Armee als Völkermord festgelegt wurden. Diese Verordnung erklärt das Begehen der russischen Truppen als Völkermord. Dieser Schritt wurde von den jeweiligen Parlamenten in Polen, der Tschechischen Republik, Litauen, Lettland, Estland, Spanien und Kanada unterstützt.
Deportationen
Zwangsumsiedlungen von Ukrainern gingen Hand in Hand mit Terror, Repressionen, Beschlagnahmung von materiellen Gütern sowie Einschränkung von sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechten. Dies wurde selbstverständlich verschwiegen, sodass die nächsten Generationen nichts davon erfahren konnten. Die ersten Massendeportationen begannen im 18. Jahrhundert, noch in den Zeiten des Russischen Zarenreichs und auch später während des Ersten Weltkriegs wurden Ukrainer umgesiedelt. Die größten Deportationen passierten aber im 20. Jahrhundert, als die Ukraine Teil der Sowjetunion war. Die ersten Deportationswellen fanden in den Dreißigern statt und richteten sich gegen relativ wohlhabende Bauern. Die sowjetische Regierung bezeichnete diese Großbauer als „Kurkuli“ (oder „Kulak“) und zerstreute sie in den entferntesten Regionen der neu entstandenen Sowjetunion. Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt bzw. verstaatlicht. Auch während des Zweiten Weltkrieges wurden Ukrainische Bürger deportiert, aber das größte Ausmaß der Zwangsumsiedlungen fand 1944-1951 statt. Laut dem ukrainischen Institut für Nationale Erinnerung wurden mehr als 750 000 Ukrainerinnen und Ukrainer zwischen 1944 und 1951 aus ihrer Heimat vertrieben. Dabei wurden auch Eigentum beschlagnahmt sowie die politischen, sozialen und kulturellen Rechte der Ukrainer eingeschränkt.
„Kurkul“ / „Kulak“
Der Begriff Kulak (auf ukrainisch: Kurkul) war im Russischen eine seit dem 19. Jahrhundert verwendete Bezeichnung für relativ wohlhabende Bauern. Spätestens nach der Jahrhundertwende bekam der Begriff einen abwertenden Charakter. Nach der Oktoberrevolution von 1917 und im Rahmen der sowjetischen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft von 1928 bis 1933 wurde die Bedeutung des Begriffs als abwertend auf alle selbstständigen Bauern ausgedehnt. Solche Personen und deren Angehörige wurden im Rahmen der Entkulakisierung der Jahre 1929 bis 1932 als Klassenfeinde in Arbeitslager deportiert oder erschossen.Menschen werden in Güterwaggons abgeschoben
Seit dem Einmarsch Russlands Ende Februar 2022 wurden die Ukrainer wieder massenhaft deportiert. Laut Angaben aus der ukrainischen Präsidialverwaltung wurden, Stand Oktober 2022, über 1,6 Millionen Menschen zwangsweise größtenteils nach Russland umgesiedelt. Dabei sind die Menschen gezwungen, sich sog. „Filtrationsprozessen“ in Filtrationslagern zu unterziehen. Die Opfer der „Filtration“ berichteten von Verhören, Verschleppungen, Haft unter menschenunwürdigen Bedingungen und Folter. Im Bericht der Yale-Universität steht, dass Russland zwischen April und Juli 2022 alleine im besetzten Osten der Ukraine 21 solcher Filtrationslager einrichtete. Ehemalige Insassen dieser Lager melden Hygiene-, Wasser- und Lebensmittelmangel, das Fehlen medizinischer Hilfe, Isolation, physische Gewalt und Folter.
Im Jahre 1947 hat die polnische Regierung in Absprache mit der Sowjetunion eine ethnische Säuberung, die sog. Aktion Weichsel (polnisch: Akcja Wisła) durchgeführt. Dabei wurden sowohl Ukrainer, als auch kleinere Volksgruppen wie Lemken und Bojken aus dem Südosten der Volksrepublik Polen deportiert.
Laut dem ukrainischen Institut für nationale Erinnerung wurden dabei 150 Tausend Menschen überwiegend in den Norden und Westen Polens vertrieben. Andere Teile der damals deportierten Menschen landeten in den südlichen und östlichen Regionen der Ukraine, die nun nahe der Frontlinie liegen oder vorübergehend von Russland besetzt sind.
„Diese Volksgruppen, für die diese Deportationen als kollektives Trauma gelten, finden sich nun, nachdem ihre Nachkommen sich schon in ihre neue Heimat eingelebt haben, als Ziel russischer Deportationsdrohungen wieder. Das ist ein kaum vorstellbarer Moloch der Geschichte“, erzählt Roman Kabatschiy, Historiker und Forscher der Deportationen von 1944-1951.
Sowjetische Soldaten bewachen die Vorbereitung für eine Zwangsumsiedlung der Ukrainer
Verschiedene ukrainische Territorien – die westliche Ukraine, Krym, die Donbass-Region – waren von diversen Deportationen betroffen. Das Ziel der Umsiedlungen war in erster Linie ein Verwischen der Grenzen zwischen Ukrainern und Russen, bzw. die Assimilierung der Ukrainer. Seit Jahrhunderten sah die russische Regierung Deportationen als ein Mittel zur Auslöschung des nationalen Gedächtnisses ungewollter Minderheiten. Dies sollte die nationale Identität entwurzeln und aus unterschiedlichen Nationen „ein brüderliches Volk“ zusammenbasteln.
Russische Soldaten bewachen die neueste Zwangsumsiedlung der Ukrainer in den von Russland besetzten Gebieten
Die Umsiedlung führte jedoch zu schwerwiegenden psychologischen Folgen: solche Erfahrungen können Menschen brechen, ihnen den Willen nehmen oder sie vollständig von einem totalitären Regime kontrollierbar machen.
Deportation nimmt einem nicht nur das Eigentum, sondern auch jegliche Verbindung zur Heimat. In Russland verfügen die abgeschobenen Ukrainer über keine Möglichkeit, ihre Identität zu bewahren. Das betrifft Kinder besonders stark. Russische Propaganda stellt die Adoptionen von entführten ukrainischen Kindern als „die Rettung von Kinderleben“ dar, obwohl solche Adoptionen eher als Genozid zu interpretieren sind.
Vernichtung der Kultur
Das Russische Zarenreich und anschließend die Sowjetunion vernichteten im Laufe ihrer Existenz kulturelle Artefakte, die auch das historische Gedächtnis der durch Russland unterdrückten Völker enthielten. Später verheimlichte Russland diese Taten und vertuschte somit historische Fakten.
Die ersten bekannten „kulturellen Diebstähle“ geschahen noch in den Zeiten der Kyjiwer Rus. Im Jahre 1155 überfiel der Wladimir-Susdal Fürst Andrej Bogoljubskij die Stadt Kyjiw und stahl die berühmte Ikone der Gottesmutter von Wladimir, ein Meisterwerk der Ikonographie. Seit 1999 befindet sich diese Ikone in der Kirche St. Nikolaus in Tolmachi (Moskau, Russland), die der staatlichen Tretjakow-Galerie (Kunstmuseum in Moskau – Anm.) angehört. Dies ist bei weitem kein Einzelfall.
Kyjiwer Rus
Ein mittelalterlicher osteuropäischer Staat mit der Hauptstadt Kyjiw, der im 9. bis 13. Jahrhundert existierte.Fürst Andrej Bogoljubskiy mit der Ikone der Gottesmutter von Wladimir
Ferner versucht Russland sich nicht nur einzelne Kulturgüter, sondern selbst den Anspruch auf das Erbe der Kyjiwer Rus anzueignen. Um diese Fälschung auf staatlicher Ebene zu verankern, nannte Peter der Große das ehemalige Großfürstentum Moskau in das Russische Zarenreich um.
Die Kyiwer Rus ist die Grundlage, worauf sich die weitere Geschichte der Ukraine basiert. Die sozioökonomische und politische Entwicklung der damaligen Bevölkerung führte zum Entstehen und Ausbreitung eines Fürstentums mit dem Zentrum Kyjiw. Jedoch wiederholt Putin in seinen öffentlichen Auftritten und Interviews immer wieder, der ukrainische Staat sei eine Einbildung.
Jahrhundertelang unterdrückte das Russische Zarenreich und später die Sowjetunion die ukrainische Sprache und verbot ukrainische Literatur. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erließ das Russische Zarenreich zahlreiche Verfügungen und Anordnungen, um die ukrainische Sprache zu verbieten und zu zensieren. Zwischen der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen ungefähr 470 solcher Erlässe.
Das Walujew-Zirkular von 1863 war eine geheime Anordnung vom russischen Innenminister Pjotr Walujew an die lokalen Zensurbehörden – es verbot den Druck ukrainischsprachiger pädagogischer und religiöser Texte. Der Emser Erlass, den der russische Zar Alexander II. in Bad Ems am 30. Mai 1876 unterzeichnete, verbot die Veröffentlichung und den Import literarischen Schrifttums in ukrainischer Sprache in allen Formen, u.a. auch jegliche Übersetzungen ins Ukrainische, Musik- und Theaterstücke. Die österreichisch-ungarische Regierung, denen damals die westlichen Regionen der heutigen Ukraine (Ostgalizien und Bukowyna) angehörten, versuchte auch ihrerseits, das kyrillische Alphabet durch das lateinische zu ersetzen.
Innenminister Pjotr Walujew. Ein Foto seines geheimen Zirkulars an lokale Zensurbehörden vom 18. Juli 1863
Die sowjetische Regierung verfolgte, unterdrückte und vernichtete die ukrainischen politisch und sozial engagierten Schriftsteller und Künstler. Zugleich wurde die ukrainische Sprache eingeschränkt und viele Wörter und Ausdrücke dem Russischen angepasst. Auch die ukrainische Geschichtsschreibung wurde beeinträchtigt – imperialistische Verbrechen wurden nicht erwähnt, Fakten wurden manipuliert und gewisse Persönlichkeiten wurden gezielt hervorgehoben, während andere aus der Geschichtsschreibung getilgt wurden. Diese Manipulationen und Propaganda waren insbesondere im Bildungsbereich und Verlagswesen verbreitet. Auch durch die Unterdrückung bzw. Verheimlichung der Geschichte und Kultur wurde das ukrainische nationale Gedächtnis stark eingeschränkt.
Seit langer Zeit ist Russland damit bemüht, Beweise für die Staatlichkeit der ukrainischen Kosaken zu vernichten, weil sie eine große Rolle für die ukrainische Staatsbildung spielten. Des Öfteren benutzte Russland in ihren Kriegen die ukrainischen Kosaken als Söldner. Nachdem die Kriege u.a. dank den Kosaken gewonnen wurden, versuchte das Russische Zarenreich, das ukrainische Kosakentum zu unterdrücken. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Rechte von Kosaken endgültig beschränkt und ihre Einheiten in die zaristische Armee eingegliedert.
Nach jeder Zerstörung der Sitsch Saporiska (schwer zugängliche Befestigung der Saporoger Kosaken, nahe der heutigen Stadt Saporizhzhja) wurden auch die Kosaken-Kleinodien – Attribute und Symbole der militärischen und zivilen Macht der Kosaken – beschlagnahmt und nach Moskau oder St. Petersburg gebracht.
Zum Beispiel wird die 1710 veröffentlichte Verfassung von Pylyp Orlyk, dem Anführer der Saporoger Kosaken, die als eine der ersten Verfassungen nach modernem Verständnis der Welt gilt, immer noch im russischen Staatsarchiv in Moskau aufbewahrt.
Russland implementierte jahrelang die sog. „monumentale Propaganda“ als politisches Mittel. Diese Bezeichnung schlug seinerzeit Wladimir Lenin vor, als er 1918 das Dekret „Über die Denkmäler der Republik“ unterschrieb.
Danach fingen die Sowjets hastig an, Monumente für die bedeutenden Persönlichkeiten der sozialistischen Revolution zu errichten. Oftmals blieb dabei der künstlerische Wert zweitrangig. Ukrainische Städte wurden mit gleichartigen Denkmälern für sowjetische „Helden“ überflutet und es blieb kein Raum für die Ehrung von Ukrainern. Sogar Kundgebungen neben Denkmälern oder Bestattungsorten prominenter Ukrainer waren zeitweise von der sowjetischen Staatsführung verboten. Die antireligiöse Politik der Sowjetunion verbot traditionelle ukrainische Feiertage oder „sowjetisierte“ sie bzw. passte sie der sowjetischen politischen Agenda an. Auf diese Weise wurde den Ukrainern die Erinnerung an alte Bräuche und Traditionen genommen, die früher von Generation zu Generation weitergegeben wurden.
Noch ein Mittel zur Einführung der kolonialen Politik war die Verschmelzung von zwei unterschiedlichen Nationen in ein „brüderliches Volk“. Unter anderem erfolgte dies dadurch, dass typisch russische Suffixe wie -ot, -ow, -ew, -in zu ukrainischen Nachnamen hinzugefügt wurden. So verwandelte sich z.B. der übliche ukrainische Nachname Kowal zum russischen Kowaliow, Schewtschenko zu Schewtschenkow, Kosak zu Kosakow usw. Eine solche Russifizierung von Nachnamen wurde u.a. eingeführt, als Pässe für Bauern ausgestellt wurden, die bis in die 1970er keine Personalpapiere hatten. Auch Männer, die aus der Armee zurückkehrten, erhielten oft Personalausweise mit russifizierten Nachnamen. Durch diese Zwangsänderungen ging die Bedeutung der Nachnamen verloren, die oft die gesamte Familiengeschichte widerspiegelten. Dadurch wurde die Verbindung zwischen den Generationen unterbrochen.
Vergabe eines Passports
Informationsblockade
Durch die Verheimlichung von Informationen versucht die russische Regierung, die von ihr begangenen Gräueltaten zu vertuschen. Seit Jahrhunderten verschwieg der Staat, mag er Russisches Zarenreich, Sowjetunion oder Russische Föderation heißen, seine Verbrechen. In der Sowjetzeit wurde der Zugang zu den Archiven eingeschränkt, Fakten verdreht und diejenigen unterdrückt, die die Wahrheit verbreiten wollten oder sich nicht an die Richtlinien der Machtpartei hielten. Das Gleiche geschieht in Russland auch heute.
Die kommunistischen Behörden zerstörten durch Absicht oder aus Nachlässigkeit Orte, die die Ukrainer an bestimmte prägende Ereignisse ihrer Geschichte erinnerten.
Ein Beispiel dafür ist die Tragödie in Kureniwka vom 13. März 1961 (ehemaliger Stadtrand von Kyjiw).
Folgen des Dammbruchs im Stadtteil Kureniwka in Kyjiw
Der Stadtteil Kureniwka in Kyjiw wurde als Resultat von Nachlässigkeit durch Abfälle der dortigen Ziegelproduktion überflutet, die in dem daneben liegenden Babyn Jar entsorgt wurden. Statt in dem Tal ein Denkmal für die jüdischen Opfer zu errichten, wurde der Ort nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Mülldeponie, die später mit flüssigen Abfällen aus einem nahegelegenen Ziegelwerk gefüllt wurde.
Um Geld zu sparen, wurden die Abfallprodukte von einem Sanddamm, anstelle eines Betondamms, zurückgehalten, der zudem noch 10 Meter niedriger als nötig gebaut wurde. Als der Sanddamm später brach, kam es zu einer Tragödie. Laut offiziellen sowjetischen Angaben kamen dabei nur 145 Menschen ums Leben. Die sowjetischen Behörden verschwiegen und verharmlosten nicht nur das Ausmaß und die Folgen des Unfalls, sondern verboten auch, über die Opfer und deren Anzahl zu sprechen. Daher wird den offiziellen Zahlen kein Vertrauen geschenkt.
Erst nach der Erlangung der Unabhängigkeit begann man, über die Tragödie in Kureniwka öffentlich zu sprechen und deren Opfer zu gedenken.
Babyn Jar
Ein Tal in Kyjiw , in dem die NS-Soldaten im September 1941 innerhalb von zwei Tagen etwa 34.000 Juden erschossen. Insgesamt wurden dort etwa 100.000 Menschen verschiedener Nationalitäten hingerichtet. Heute ist Babyn Jar eines der Symbole für den Holocaust.Verheerende Folgen der Kureniwka-Tragödie, u.a. Überschwemmung eine Trolleybus Depots
Ein weiteres Beispiel einer informationellen Blockade seitens der Sowjetunion war auch das Verschweigen der Nuklearkatastrophe in Tschornobyl vom 26. April 1986. Die sowjetische kommunistische Regierung, angeführt von Michail Gorbatschow, verheimlichte diese Tragödie, ihr Ausmaß und die Folgen. Jahrelang hat der KGB die Ursachen der Katastrophe vertuscht, denn diese wiesen auf Fahrlässigkeit der sowjetischen Behörden hin.
Auch heute versuchen die Russen, die Erinnerung an die Opfer des kriminellen repressiven sowjetischen Regimes zu löschen, so wie damals zu Zeiten der Sowjetunion selbst. Am 25. Februar, kurz nach Anfang des Einmarsches Russlands, beschoss die russische Armee das Archiv des Sicherheitsdienstes der Ukraine in der Stadt Tschernihiw, sodass etwa eine halbe Million Dokumente durch Brand vernichtet wurden.
Anfang März 2022 landete eine russische Rakete unweit der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar.
Am 23. März 2022 beschoss die russische Armee die Gedenkstätte für die Opfer des Totalitarismus in Charkiw, wo Ukrainer und Polen begraben sind, die von 1938 bis 1940 von Mitarbeitern des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) hingerichtet wurden.
Eine russische Rakete traf am 24. März das Mahnmal für Militärruhm in Charkiw (das Memorial zum Gedenken an die Gefallenen im Zweiten Weltkrieg). Am 27. März wurde die Gedenkstätte Drohobytsch Jar beschossen – ein Ort der Massenvernichtung jüdischer Bevölkerung von Charkiw durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg.
Im Laufe des russisch-ukrainischen Krieges werden vom Aggressorland unermüdlich Lügen über die Geschichte der Ukraine und der russisch-ukrainischen Beziehungen verbreitet. 2021 erschien auf der offiziellen Kremlin-Webseite ein Artikel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“. Dieser wurde angeblich von Putin selbst verfasst. Die freiwillige Initiative „Putinlies.com.ua“ entdeckte in dem Artikel 150 Falschaussagen. Mit dem Anfang der großen Invasion greift Russland zum bewussten Austausch der Begriffe: „spezielle Operation“ statt Krieg, „Knall“ statt Explosion, „Geste des guten Willens“ statt Rückzug.
Wird die aktuelle Information verschwiegen, ist es einfacher, Leute zu kontrollieren und zu beeinflussen. Russland nutzt dies, um die Einwohner der besetzten Gebiete zu beeinflussen und zur Kooperation zu zwingen. Den Einheimischen wird die wahrhaftige Information verschwiegen, stattdessen gilt das Narrativ „ihr wurdet (von den Ukrainern) alleine gelassen“.
Diejenigen, die in den vorläufig besetzten Gebieten leben bzw. lebten, erzählen von russischer Propaganda-Werbung, auf welcher steht, dass Russland für immer dort bleibe. Auf den anderen Plakaten steht „Soziale Stabilität und Sicherheit“. Die russische Symbolik ist überall zu finden – von den russischen Schulbüchern bis hin zu den Fahnen am Schulhof.
Aber sogar unter Besatzung kämpfen die Einheimischen um ihre Kultur und ihre Geschichte. Einige Einwohner versuchen, ukrainisches Mobilfunknetz zu empfangen, die anderen lassen ihre Kinder heimlich am Online-Unterricht in der ukrainischen Schule teilnehmen.
So wie früher das Russische Zarenreich und die Sowjetunion, begeht auch heute Russland Verbrechen gegen das ukrainische Volk und versucht dadurch, das nationale Gedächtnis der Ukraine auszulöschen. Deshalb ist es so wichtig, alle von den Besatzern begangenen Verbrechen zu dokumentieren, um sie nicht zu vergessen. Es ist auch wichtig, alles, woraus die nationale Identität der Ukrainer besteht und was Russland zu erlöschen versucht, zu beschützen und zu pflegen.
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