Dekolonisierung: Catherine Fieschi über die Ausnutzung postkolonialer Ressentiments durch den Populismus

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Catherine Fieschi ist Politikexpertin und Direktorin der internationalen Beratungsfirma CounterPoint. In diesem Interview erläutert sie, wie der Populismus etablierte Demokratien und Märkte weltweit verändert.

Catherine erörtert den Aufstieg des zeitgenössischen Links- und Rechtspopulismus und wie dieser die globale Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine beeinflusst. Die Diskussion beleuchtet, wie der Populismus die europäische Einheit infrage stellt und mit welchen Hindernissen die Ukraine bei der Veränderung der westlichen Wahrnehmung konfrontiert ist. Zudem geht Catherine auf die wichtige Rolle der osteuropäischen Länder bei der Neugestaltung des Diskurses über die globale Demokratie ein.

Sie haben über Populismus geforscht, bevor er zu einem Mainstream-Thema wurde. Was hat Sie Anfang der 1990er Jahre auf den Populismus aufmerksam gemacht?

Während meiner Promotion hatte ich das Gefühl, dass insbesondere in den etablierten Demokratien große Veränderungen bevorstanden. Anfang der 1990er Jahre war der Populismus in Frankreich bereits spürbar. Jean-Marie Le Pen gründete 1972 den Front National, der ab 1984 bei Europa- und Kommunalwahlen antrat. Auffallend war, wie radikale rechtsextreme Bewegungen begannen, eine neue Rhetorik und neue politische Strategien einzusetzen, um nationalistische und einwanderungsfeindliche Ideen durchzusetzen. In Europa gewann der Populismus vor allem in den 1980er Jahren an Einfluss, als diese Gruppen ihren Ansatz anpassten, um ein breites Publikum anzusprechen.

Der Rassemblement National
Eine 1972 gegründete französische rechtsextreme politische Partei, die sich auf nationalistische und einwanderungsfeindliche Rhetorik konzentriert. Die Partei, die zunächst von Jean-Marie Le Pen geführt und später von seiner Tochter Marine Le Pen übernommen wurde, benannte sich 2018 in Nationale Sammelbewegung um, um effektiver gegen Globalisierung und Multikulturalismus einzutreten.

In Ihrem Buch „Populocracy“ gehen Sie auf Ihre Doktorarbeit ein, die sich mit dem Front National und Le Pen selbst befasst. Ich fand Ihre Darstellung seines Charakters besonders interessant, denn Populismus beruht oft auf Persönlichkeit und emotionaler Ansprache und nicht auf rationalen Entscheidungen. Könnten Sie uns erklären, warum Sie sich auf Le Pen konzentriert haben und warum er für das Verständnis des modernen Populismus von Bedeutung ist?

Ich habe mich entschlossen, mich auf Jean-Marie Le Pen zu konzentrieren, weil er eine Schlüsselfigur bei der Wiedereinführung nationalistischer und rechtsextremer Rhetorik in Westeuropa war, von der viele glaubten, sie sei nach dem Zweiten Weltkrieg tabu geworden. Le Pen war einer der ersten in der Region, der diese Ideen wiederbelebte und Technokratie und rationale Politik zugunsten von Emotionen ablehnte. Er knüpfte an die dunklen Seiten der französischen politischen Kultur an und brach mit dem auf westlichen Werten und Multilateralismus beruhenden Nachkriegskonsens. Le Pens Verachtung für die USA und ihren Einfluss, insbesondere für die Pax Americana (die von den USA dominierte Weltordnung, die auf demokratischen Werten, Kapitalismus und von den USA geführten Institutionen wie den Vereinten Nationen und der NATO beruht – Anm. d. Red.), war auffällig, da er sie als aufgezwungene Regelung betrachtete. Sein Ansatz führte zu einer breiteren Auseinandersetzung mit diesen Ideen, die sich im modernen Populismus widerspiegeln, einschließlich der Ablehnung der westlich geführten Unterstützung für die Ukraine.

Technokratie
Ein politischer und wirtschaftlicher Ansatz, bei dem die Entscheidungsträger:innen aufgrund ihres Fachwissens und ihrer Effizienz in bestimmten Bereichen, insbesondere in Wissenschaft und Technik, und nicht aufgrund ihrer ideologischen Zugehörigkeit ausgewählt werden.

Sowohl Jean-Marie Le Pen als auch Marine Le Pen haben Unterstützung für Wladimir Putin gezeigt, auch wenn sie heute nicht mehr eng verbunden sind. Beide haben Ansichten geäußert, die Russland nicht als Feind ansehen. Beide haben die Annexion der Krim im Jahr 2014 unterstützt — Marine Le Pen bezeichnete diese sogar als „Wiedervereinigung“. Welche spezifischen russischen Narrative fördern sie, und warum finden diese Narrative bei ihren Anhänger:innen Anklang?

Das ist eine gute Frage mit vielen Facetten. Erstens gibt es eine klare Ablehnung sowohl der USA als auch der Europäischen Union, die als zu sehr mit den USA verbündet angesehen wird. Grundsätzlich wird jeder, der als Feind der USA angesehen wird, als Freund betrachtet. Ein weiteres Schlüsselelement ist ihre Anti-NATO-Haltung. Sie greifen die russische Rhetorik auf, indem sie behaupten, dass die NATO Versprechen gebrochen und in russisches Territorium eingedrungen ist, und stellen die Unterstützung für die Ukraine als einen Landraub der NATO dar. Für sie symbolisiert die NATO den Multilateralismus, den sie ablehnen, weil er ihrem Konzept der nationalen Souveränität widerspricht. Interessanterweise ist ihre Sichtweise auf die Souveränität flexibel. Obwohl sie die nationale Souveränität verteidigen, wenn sie sich gegen die Einmischung der EU aussprechen, schließen sie sich der russischen Perspektive an und deuten an, dass die NATO die Souveränität Russlands infrage stellt. Diese Flexibilität ermöglicht es ihnen, das Konzept so zu verändern, dass es in ihr Narrativ passt, sei es, dass sie gegen die EU sind oder Russlands Vorgehen in der Ukraine und auf der Krim verteidigen. Die Kernbotschaft stimmt mit den russischen Vorstellungen von NATO, Souveränität und Multilateralismus überein.

Die Rede von Marine Le Pen während der Wahlkampagne, 1 Mai 2012. Quelle: Blandine Le Cain.

Wie bestimmen Sie, wann Populismus von einem rein politischen Ansatz zu einer Ideologie wird? Und wie erklären Sie diesen Wandel?

Populismus wird traditionell mit einem charismatischen Führer in Verbindung gebracht, insbesondere in den früheren Studien, die in Lateinamerika entstanden sind und sich auf Persönlichkeiten wie Juan Perón und Eva Perón beziehen. Er wurde dabei oft auf eine Führungspersönlichkeit fokussiert, die behauptet, „das Volk“ zu vertreten, oder als ein Kommunikationsstil, der sich auf emotionale Anziehungskraft, Demagogie und spezifische Rhetorik konzentriert. Viele Wissenschaftler:innen haben sich zurückgehalten, Populismus als Ideologie zu definieren, weil er sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums auftritt. In Frankreich beispielsweise findet man Populismus der Rechten mit Marine Le Pens Rassemblement National und bei der Linken mit La France Insoumise (eine politische Bewegung in Frankreich, die 2016 gegründet wurde und den Schwerpunkt auf soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Gleichheit legt – Anm. d. Red.) unter Jean-Luc Mélenchon. Populismus tritt sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite auf, was ihn weniger wie eine traditionelle Ideologie erscheinen lässt. Ideologien werden normalerweise einer Seite zugeordnet, aber Populismus stellt diese Auffassung in Frage. Was eine Ideologie jedoch definiert, ist ein klares Ziel und ein Aktionsplan. Populismus, ob links oder rechts, zielt darauf ab, die Vermittlung durch repräsentative Institutionen zwischen dem Volk und seinen Führern zu beseitigen. Er drängt auf eine Form der direkten Demokratie, oft durch Referenden, und umgeht dabei traditionelle Vertreter:innen. Dieser Ansatz betont den Willen der Mehrheit, was in diversen Gesellschaften mit starken Minderheiten, die eine Vertretung benötigen, gefährlich sein kann. Ein Beispiel dafür ist das Brexit-Referendum, bei dem 48% gegen das Ergebnis waren, aber eine Mehrheit von 52% die Entscheidung ohne echte Verhandlungen durchsetzte. In solchen komplexen Gesellschaften kann das Durchsetzen des Willens einer einfachen Mehrheit Probleme verursachen. Dies zeigt, warum Populismus mehr ist als nur ein Kommunikations- oder Führungsstil — er ist ein politischer Ansatz, der den Anforderungen moderner Demokratien widerspricht, die komplexere und differenziertere Formen der Repräsentation erfordern. So kann Populismus als eine eigenständige und potenziell schädliche Ideologie und nicht nur als Rhetorik betrachtet werden.

Juan Perón
Ein argentinischer Präsident, der drei Amtszeiten innehatte, wobei die wichtigste von 1946 bis 1955 war. Er gründete die rechtsgerichtete peronistische Bewegung, die sich auf soziale Gerechtigkeit, Arbeitnehmerrechte und Nationalismus konzentrierte und sich für die Stärkung der Arbeiterklasse und die Reduzierung des ausländischen Einflusses auf die argentinische Wirtschaft einsetzte.

In der Ukraine diskutieren wir oft über rechtsextreme Populist:innen wie Jean-Marie Le Pen. Wir sprechen aber selten über die extreme Linke, die ebenfalls ein Problem darstellt. In Populocracy erklären Sie, dass Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise ein Populist ist, Jeremy Corbyn von der britischen Labour Partei hingegen nicht. Können Sie uns den Unterschied zwischen den beiden erläutern und wie Sie den Linkspopulismus differenzieren?

Populismus kann verschiedene Phänomene beschreiben, aber es ist wichtig, ihn von bloßer Popularität zu unterscheiden. Jean-Luc Mélenchon ist ein Linkspopulist, der wie Marine Le Pen glaubt, dass die Regierung von korrupten Eliten kontrolliert wird. Mélenchons Populismus enthält jedoch nicht die einwanderungsfeindlichen und nationalistischen Elemente, die für den Rechtspopulismus typisch sind. Stattdessen betont er stärker antikapitalistische und anti-elitäre Ressentiments, die sich gegen Banker:innen, Journalist:innen und andere Eliten richten. Im Gegensatz dazu setzte sich Jeremy Corbyn, obwohl ebenfalls links orientiert, nicht für einen revolutionären Regimewechsel ein. Corbyn verfolgte das Ziel, die Labour Party zu reformieren und institutionelle Strukturen zu verbessern, anstatt eine grundlegende Transformation wie Mélenchons Vorschlag einer Sechsten Republik zu fordern. Obwohl es Ähnlichkeiten zwischen beiden gibt, ist Mélenchons Ansatz im Vergleich zu Corbyns reformistischer Haltung radikaler und disruptiver.

Sechste Republik
Ein hypothetisches politisches System, das von der französischen Linken vorgeschlagen wurde und darauf abzielt, die derzeitige,1958 gegründete Fünfte Republik zu reformieren, indem die Macht des Präsidenten eingeschränkt und die Dezentralisierung, die Maßnahmen der direkten Demokratie und die wirtschaftliche Gerechtigkeit gestärkt werden.

Sie haben diskutiert, wie Populist:innen auf die Argumentation des „Common Sense“ zurückgreifen und vereinfachte Logik auf komplexe Themen wie Einwanderung oder Krieg anwenden. Sie könnten zum Beispiel argumentieren, dass die Nichtbereitstellung von Waffen in einem Konflikt den Krieg beenden wird. Warum glauben Sie, dass diese Art der vereinfachten Logik bei den Menschen immer noch Anklang findet, gerade in Ländern mit einer hohen politischen Kultur und einer langen Geschichte der Demokratie?

Populist:innen behaupten oft, dass die Demokratie von Technokraten übernommen wurde, die sich zu sehr auf komplexe politische Maßnahmen konzentrieren, um die Grundlagen der Demokratie zu verstehen. Sie argumentieren, dass Technokraten diese Komplexität nutzen, um den gewöhnlichen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie ihren Entscheidungen einfach vertrauen sollten. Im Gegensatz dazu setzen Populist:innen den „Common Sense“ als mächtiges Werkzeug ein und stellen die Rationalität der Technokratie in Frage. Common Sense wird eher als instinktive, emotionale Reaktion denn als Ergebnis einer detaillierten Analyse gesehen. Populist:innen nutzen den Common Sense auch, um diejenigen zu identifizieren, die sie als Teil des „wahren Volkes“ betrachten. Sie behaupten, dass wahre Mitglieder der Öffentlichkeit, wie gewöhnliche französische, niederländische oder ungarische Bürger:innen, ein instinktives Verständnis für Probleme haben, ohne eine tiefgehende Analyse zu benötigen. So dient der Common Sense als Kritik an der technokratischen Komplexität und als Mittel, um ihre Anhänger:innen von anderen zu unterscheiden.

Populist:innen nutzen das Konzept des „Common Sense“ als emotionalen Appell und stellen Themen oft so dar, als ob sie breite Unterstützung finden würden, auch wenn dies nicht der Fall ist. In Ihrem Buch gehen Sie darauf ein, dass Populist:innen nicht immer die Themen auswählen, die auf breite Zustimmung stoßen, sondern stattdessen diese Themen so formulieren, dass sie populär erscheinen. Durch diese Manipulation entsteht der Eindruck, dass ihre Ansichten dem Willen der Mehrheit entsprechen, auch wenn dies nicht der Fall ist.

Populist:innen nutzen das Konzept des „Common Sense“, um die Illusion einer mehrheitlichen Unterstützung zu erzeugen. Indem sie eine Position als Common Sense darstellen, ermutigen sie Menschen, sich ihren Ansichten anzuschließen ohne viel darüber nachzudenken. Diese Taktik vereinfacht komplexe Themen und fördert die Wahrnehmung, dass ihre Haltung die Mehrheit repräsentiert. Zum Beispiel wurde im Dezember 2023 in Frankreich ein neues Einwanderungsgesetz vorgeschlagen, das die Legalisierung von Migrant:innen ohne Aufenthaltspapiere vorsieht, die in Sektoren mit Arbeitskräftemangel tätig sind. Überraschenderweise befürwortete die Mehrheit der Anhänger:innen von Rassemblement National diese Maßnahme, was man nicht unbedingt erwarten würde. Ursprünglich war die Partei dagegen, änderte jedoch ihre Haltung, als sie merkte, dass ihre Wähler:innen sie unterstützten. Dies machte deutlich, wie der populistische Gebrauch des „Common Sense“ manchmal mit der tatsächlichen öffentlichen Meinung kollidieren kann.

Ein faszinierender Aspekt des Populismus ist, wie sowohl die extreme Linke als auch die extreme Rechte sich der Rhetorik des Kolonialismus und Imperialismus bedienen, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die extremen linken Populist:innen wie Jean-Luc Mélenchon und Jeremy Corbyn stellen ihre antieuropäischen und antiwestlichen Ressentiments oft als Antikolonialismus dar. Gleichzeitig unterstützen sie manchmal — wenn auch nicht immer offen — autoritäre Regime wie Maduro in Venezuela, Assad in Syrien oder Putin in Russland. Geschieht dies aus einem Mangel an Aufklärung über die Folgen solcher Regime, wie sie in der Sowjetunion zu beobachten waren? Oder ist es Teil einer umfassenderen Strategie, bei der die Idee des Common Sense genutzt wird, um bei der Öffentlichkeit Anklang zu finden?

Sowohl links- als auch rechtsextreme Populist:innen befördern antieuropäische und antiwestliche Ressentiments unter dem Deckmantel des Antikolonialismus. Sie mögen verschiedene Mächtige und Machthaber verehren, doch manchmal überschneidet sich diese Bewunderung. Das liegt an der gemeinsamen Überzeugung, dass Europa und damit „der Westen“ dem Rest der Welt seine Werte aufzwingt. Auf der extremen Rechten richtet sich dies oft gegen die Ukraine, wobei die Unterstützung der liberalen Demokratie als westliche Auferlegung dargestellt wird. Auf der extremen Linken wird die Ablehnung westlicher Werte mit den historischen Wurzeln des Kolonialismus in Verbindung gebracht. Diese Perspektive argumentiert, dass die Unterstützung der Ukraine — oder die fehlende ausdrückliche Unterstützung für Gaza — eine Fortführung kolonialer Machtstrukturen darstellt. Populist:innen auf beiden Seiten greifen dieses Narrativ auf, um zu behaupten, dass Länder, die die Ukraine unterstützen, lediglich die alte Weltordnung bewahren, während aufstrebende Mächte wie China Russland unterstützen oder sich bei Resolutionen der Vereinten Nationen enthalten. Trotz der komplexen Hintergründe wird dies als Ausdruck eines breiteren globalen Widerstands gegen koloniale Mächte dargestellt. Diese Perspektive birgt jedoch die Gefahr, die Debatte zu stark zu vereinfachen, indem alles, was mit westlichen Werten und Multilateralismus in Verbindung gebracht wird, als inhärent kolonialistisch abgelehnt wird. Diese Dynamik zeigte sich auch in den Diskussionen um die jüngsten Europawahlen, bei denen außenpolitische Themen wie Gaza und die Ukraine die Meinungen polarisierten und in das größere Narrativ von Kolonialismus versus aufstrebende globale Mächte eingebunden wurden.

Aus ukrainischer Perspektive ist es faszinierend, wie es einigen gelingt, die Ablehnung der Unterstützung für die Ukraine als antikoloniale Haltung darzustellen, obwohl die Ukraine gegen den Imperialismus moderner Imperien wie Russland oder China kämpft. Historisch gesehen ist klar, dass Russland und China keine nachhaltigen oder demokratischen Alternativen zum Westen bieten. Dennoch ist es ihnen gelungen, andere von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Wie ist das möglich?

Erstens hat die Macht der digitalen Kultur, insbesondere der sozialen Medien, die politische Landschaft verändert, indem sie Tribalismus und Polarisierung gefördert hat. Diese Fragmentierung erschwert es Regierungen, wie denen in Deutschland und Frankreich, stabile Koalitionen aufrechtzuerhalten. Kleine Parteien, die oft nur 10-15% der Stimmen repräsentieren, können erheblichen Einfluss ausüben und sogar Entscheidungen blockieren, was die Regierungsführung erschwert. Während Polarisierung auch vor den sozialen Medien existierte, hat sich ihre Intensität verstärkt, was zu Echokammern geführt hat, in denen Verschwörungstheorien zirkulieren und unsinnige Überzeugungen unter gebildeten Bevölkerungsgruppen verbreitet werden. Öffentliche Frustration ermöglicht es diesen Alternativen, an Unterstützung zu gewinnen. Ein weiterer Faktor ist der Erfolg von Führungspersönlichkeiten wie Jean-Luc Mélenchon, der es geschafft hat, entfremdete junge arabische Wähler in Frankreich zu mobilisieren. Seine antikoloniale Rhetorik spricht ihre berechtigte Frustration und ihr Gefühl politischer Entfremdung an, insbesondere in Bezug auf Themen wie Gaza. Auch wenn dies nicht der einzige Grund für seine Popularität ist, trägt es erheblich zu seiner Anziehungskraft bei. Die Ansprache der Stimmen tief entfremdeter Minderheiten spielt eine entscheidende Rolle in diesen Dynamiken, besonders in Frankreich.

Das erinnert mich an die Rhetorik der Sowjetunion, die ihr Handeln als Unterstützung der kolonisierten Nationen darstellte, was aber vor allem zu ihrem eigenen Vorteil war. Leider höre ich auch heute noch einige linke Akademiker:innen behaupten, die Sowjetunion sei wirklich antikolonial gewesen, was absurd ist. Ähnlich versucht Russland heute, Europa und Amerika als antichristlich, familienfeindlich und auf verschiedene Weise bedrohlich darzustellen, und suggeriert dabei, dass Russland diesen vermeintlichen Bedrohungen in gewisser Weise widersteht.

Wir sehen, dass Russland diese Taktiken auch in Afrika sehr effektiv einsetzt. Es geht nicht nur um das Narrativ um die Ukraine; sie schüren aktiv Unruhen vor Ort. In der großen Tradition der Sowjetunion führt Russland ähnliche Operationen in Ländern wie Niger und Burkina Faso durch und verwendet dabei die gleichen Argumente, um sein Handeln zu rechtfertigen.

Eine weitere beunruhigende Parallele zwischen modernen Populist:innen und der Sowjetunion ist der subtile — oder manchmal auch offene — Antisemitismus. Die UdSSR wird selten aus dieser Perspektive betrachtet, doch sie hatte einen tief verwurzelten antisemitischen Unterton, ähnlich wie das Russische Reich davor. Mich fasziniert, warum Antisemitismus ein so beständiges Element im politischen Diskurs war, sowohl im Westen als auch im Kommunismus, und wie moderne Populist:innen ihn ebenfalls für ihre Zwecke einsetzen.

Politisches Treffen von Jean-Luc Mélenchon in Toulouse, 16. April 2017. Quelle: MathieuMD.

Es ist interessant, dass sich populistische Haltungen in vielen westeuropäischen Ländern deutlich unterscheiden — in Zentral- und Osteuropa, wo Antisemitismus nach wie vor präsent ist, jedoch deutlich weniger. Auf der rechten Seite konzentrieren sich Persönlichkeiten wie Marine Le Pen oft darauf, die wahrgenommene Bedrohung durch muslimische Länder zu instrumentalisieren. So hat sie sich beispielsweise mit Israel verbündet, um verschiedene arabische Staaten zu kritisieren, und damit eher den antiislamischen Diskurs als die antisemitische Rhetorik angeheizt. Auf der linken Seite hingegen gibt es eine deutlichere Annäherung an den Antisemitismus, insbesondere im Diskurs um Persönlichkeiten wie Jean-Luc Mélenchon, der aufgrund seiner Darstellungen Israels Antisemitismus-Vorwürfen ausgesetzt ist. Im Gegensatz dazu erhält Marine Le Pen, die an pro-israelischen Märschen teilnahm, in dieser Hinsicht weniger Aufmerksamkeit. In Westeuropa bedeutet diese Verschiebung, dass es zur Förderung antimuslimischer Einstellungen weniger offenen Antisemitismus von der Rechten gibt — eine bemerkenswerte Kehrtwende im Vergleich zur Vergangenheit, als antisemitische Ansichten noch Persönlichkeiten wie Jean-Marie Le Pen und andere rechtsextreme Parteien prägten. Heute konzentrieren sie sich stärker auf die Antislam-Rhetorik, die weitgehend mit ihrer Haltung zur Immigration verknüpft ist. Diese Dynamik unterscheidet sich deutlich von den Populist:innen in Zentral- und Osteuropa, wie Viktor Orbán und der polnischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die unverhohlen antisemitisch sind.

Recht und Gerechtigkeit
Eine konservative polnische politische Partei, die 2001 gegründet wurde, um traditionelle Werte, nationale Souveränität und einen Wohlfahrtsstaat zu fördern; Polens Regierungspartei von 2015 bis 2023.

Beim Filmfestival von Venedig 2024 wurde der Film „Russen im Krieg“ gezeigt, der von einer Filmemacherin produziert wurde, die mit dem Kreml-Propagandasender Russia Today in Verbindung steht und in ihrem früheren Werk über den Krieg in Syrien Russland nicht als Aggressor anerkannte. Trotz der Risiken, die ihre Regierung für die regionale Sicherheit darstellt, erhalten die Russen nach wie vor eine Plattform. Warum glauben Sie, dass solche Entscheidungen weiterhin in kulturellen und politischen Institutionen getroffen werden?

Das ist eine sehr gute Frage, und ich muss zugeben, dass mir diese Veranstaltung nicht bekannt war. Einige Gedanken kommen mir in den Sinn. Zunächst könnte es ein italienisches Problem sein. Italien hat eine besondere Beziehung zu Russland und gehört zu den Ländern, in denen die Unterstützung für die Ukraine relativ schwach ist. Es gibt eine besondere Form des Pazifismus, bei dem einige glauben, dass sie durch die Ablehnung des Krieges einfach ignorieren können, dass ein Land angegriffen wurde. Ich hätte gedacht, dass die russische Perspektive heutzutage an den meisten Orten weniger willkommen ist und russische Propaganda stärker hinterfragt wird, aber Italien scheint da anders zu sein. Außerdem wird die venezianische Politik von der Lega beeinflusst, früher bekannt als Lega Nord, die von Salvini geführt wird, der bekanntlich Pro-Putin ist. Das könnte eine Erklärung für diese ungewöhnliche Entscheidung sein. Ich bin auch neugierig auf die Präsenz ukrainischer Vertreter:innen beim Festival. Ich will damit nicht sagen, dass die Ukraine dieselbe Aufmerksamkeit wie Russland erhalten sollte, aber es wirft Fragen auf, ob ukrainische Stimmen in irgendeiner Form berücksichtigt wurden.

Lega Nord
Eine rechtsextreme italienische Partei, die sich für Einwanderungsfeindlichkeit und Euroskepsis einsetzt; seit 2022 Teil der Regierungskoalition in Italien.

Bemerkenswert ist, dass der Film von französisch-kanadischen Firmen produziert wurde und Finanzierung aus Kanada erhielt, obwohl die Regisseurin elf Dokumentarfilme für Russia Today produziert hat, einen Sender, der in diesen Ländern sanktioniert ist. Es scheint, als tendiere man dazu, diese Themen im Kontext von Meinungsfreiheit und Menschenrechten zu betrachten, anstatt die sicherheitspolitischen Implikationen einzubeziehen.

Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Viele Kultureinrichtungen pflegen weiterhin ein fehlgeleitetes Verständnis von Neutralität und glauben, dass sie Künstler:innen nicht „bestrafen“ oder Partei ergreifen sollten. Diese Denkweise führt oft dazu, dass Einzelpersonen nur ungern kritisiert werden, während der Fokus stattdessen auf der Kritik an Regimen liegt. Leider wird dieser Ansatz in verschiedenen Kulturinstitutionen beibehalten, die häufig eine kritische Haltung gegenüber dem Westen und den USA einnehmen. Die USA werden dabei oft als unfähig angesehen, Kultur aus staatlicher Perspektive zu fördern. Vielmehr betrachtet man sie durch eine kapitalistische Brille und bewertet sie als konsumorientiert. Auch wenn an dieser Kritik ein gewisser Kern Wahrheit steckt, führt sie dazu, dass zu viele Kultureinrichtungen versuchen, eine klare Position zu vermeiden. Ich habe auch beobachtet, dass Westeuropa und die USA noch am Anfang eines steilen Lernprozesses stehen, was die Ukraine als Nation und souveräne Macht betrifft, die sich von ihrer sowjetischen Vergangenheit unterscheidet. Diese langsame Anerkennung der kolonialen Dynamiken, die Russland der Ukraine aufgezwungen hat, hat ein angemessenes Verständnis der kulturellen Unabhängigkeit der Ukraine erschwert. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum das Argument der Dekolonisierung so stark resoniert. In der westlichen Öffentlichkeit besteht nach wie vor eine große Kluft hinsichtlich des kulturellen und politischen Status der Ukraine, der Anerkennung und Respekt verdient. Viele Institutionen versäumen es, vielleicht unbewusst, der Ukraine die kulturelle und politische Anerkennung zu gewähren, die sie zu Recht verdient hat.

Die Ukraine, die sich durch den Krieg einer schmerzhaften Dekolonisierung unterzieht, steht derzeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ost- und Mitteleuropa, die Teil der umfassenderen europäischen Struktur sind, sehen sich jedoch immer noch mit Vorurteilen konfrontiert, die auf historischen und intellektuellen Rahmenbedingungen in Westeuropa beruhen. Was muss sich ändern, um diese Wahrnehmungen zu fördern?

Ich glaube, dass ein besseres Verständnis der Ukraine sowie für Zentral- und Osteuropa absolut entscheidend ist. Ich hatte das Glück, viel in dieser Region unterwegs zu sein, auch wenn ich noch nie in der Ukraine war. Als jemand, der in meinen mittleren Fünfzigern aufgewachsen ist, habe ich den Übergang erlebt, Zentral- und Osteuropa zunächst als Überreste der Sowjetunion zu sehen und es Anfang der neunziger Jahre als integralen Bestandteil der Europäischen Union zu begreifen. Viele Menschen haben diese Reise mitgemacht, doch die einzigartigen Merkmale jedes Landes in dieser Region bleiben weitgehend unbekannt. Diese Nationen sind von einem Teil eines Imperiums in der politischen Vorstellung zu einem Teil der EU geworden, was oft nicht richtig verstanden wird. Dieser Erweiterungsprozess kann sich wie ein synkretisches Unterfangen anfühlen, bei dem Kulturen assimiliert werden, ohne dass ein ausreichendes Verständnis vorhanden ist. Es gibt eine grundlegende Unkenntnis über die vorsowjetische Geschichte, Kultur und die Unterschiede zwischen diesen Ländern, der wir uns stellen müssen. Schon vor dem Aufstieg Putins zum Diktator war es offensichtlich, dass wir nicht genug über die Region wussten. Es scheint, als wäre der Vorhang nie vollständig geöffnet worden, und viele dachten, dass es keinen Bedarf an einem tiefergehenden Verständnis gebe. Die Besorgnis über die EU-Erweiterung ist in verschiedenen Ängsten verwurzelt — etwa in Frankreich, wo einige Eliten die Erweiterung als eine US-Strategie betrachten, um ein großes, dünnes Europa zu erhalten, das ein kohärentes politisches Projekt vermeidet. Ähnlich gab es im Vereinigten Königreich Bedenken hinsichtlich der Einwanderung aus Zentral- und Osteuropa, insbesondere aus Polen, die oft im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Sorgen thematisiert wurde. Als politische Analyst:innen haben wir jedoch erkannt, dass wir unsere Hausaufgaben nicht ausreichend gemacht haben. Wir gingen davon aus, dass die EU-Mitgliedschaft Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten beseitigen würde, doch diese Unterschiede bestehen weiterhin.

Glauben Sie, dass diese ukrainische Ausdauer und Widerstandsfähigkeit die Europäer:innen dazu motiviert haben, mehr über ihre eigenen Länder nachzudenken?

Ich glaube, diese Situation hat die Menschen dazu veranlasst, sich intensiver mit ihren eigenen Ländern auseinanderzusetzen, wenn auch nicht immer auf die konstruktive Weise, die man sich wünschen würde. In verschiedenen europäischen Gesellschaften fand eine Neubewertung dessen statt, was wir schätzen, was wir bereit sind zu verteidigen und wofür wir möglicherweise bereit wären zu sterben. Dadurch wurden fundamentale Fragen in den Vordergrund der Diskussionen gerückt. Zum Beispiel erinnere ich mich, dass Macron Ende März erwähnte, dass Frankreich im Notfall Truppen entsenden könnte, was die Öffentlichkeit schockierte. Dies löste Gespräche aus — einige unsinnige, aber auch einige sehr wertvolle. Viele begannen sich die Frage zu stellen, wofür sie wirklich bereit wären zu sterben, eine Frage, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gestellt wurde.

Emmanuel Macron diskutiert mit den Abgeordnet:innen des Europäischen Parlaments über die Zukunft Europas. Quelle: Europäische Union 2018.

Der Mut der ukrainischen Zivilgesellschaft und der Soldat:innen hat Teile der Bevölkerung zu einer Selbstreflexion angestoßen. Gleichzeitig hat diese Situation jedoch auch zu einer Art „Vogel-Strauß-Politik“ in einigen Bereichen geführt (die Weigerung, sich mit dringenden Problemen auseinanderzusetzen, in der Hoffnung, dass sie sich von selbst lösen – Anm. d. Red.), in denen pazifistische Ressentiments dominieren und Verhandlungen bevorzugt werden, um Konflikte um jeden Preis zu vermeiden. Dennoch hat sie erneut Diskussionen über die Rolle und Macht Europas — oder deren Fehlen — entfacht. Es wird verstärkt über die Produktion von mehr Waffen, die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die Neubewertung relevanter Grenzen diskutiert. Die Rollen Polens und Deutschlands beim Schutz Europas haben an Bedeutung gewonnen, insbesondere da die Ukraine als Verteidigungspuffer gegen Wladimir Putin fungiert. Das heißt, dass wir vermeiden müssen, die Ukraine auf eine bloße Pufferzone zu reduzieren, auch wenn dies seit mehr als zwei Jahren Realität ist. Diese anhaltende Krise hat die Europäer:innen dazu gezwungen, ihre Verteidigungsprioritäten zu überdenken — nicht nur in Bezug auf Putin, sondern auch angesichts anderer potenzieller Bedrohungen. Ich hoffe, dass wir aus dieser Erfahrung wertvolle Lehren ziehen können. Doch manchmal bin ich entmutigt, vor allem dann, wenn Deutschland und Frankreich aus unterschiedlichen Gründen ihren EU-Verantwortungen nicht gerecht werden. Dennoch hoffe ich, dass aus dieser Situation einige wichtige Lehren hervorgehen werden. Die Ukraine muss ihre Präsenz in verschiedenen Institutionen behaupten und sicherstellen, dass ihre Stimmen gehört werden. Wir müssen der Wahrnehmung entgegenwirken, dass alles hinter der Berliner Mauer mit Russland gleichzusetzen ist.

Ein wichtiges Ziel ist es, dass die Ukraine nicht länger als Objekt der Diskussion betrachtet wird, sondern als eigenständiges Subjekt. Das bedeutet, die Ukraine als einzigartig und von anderen Narrativen unterscheidbar anzuerkennen. Auf welche Bereiche sollte sich die Ukraine aus Ihrer Sicht als Politikwissenschaftlerin und Akademikerin konzentrieren? Welche Veränderungen sind notwendig, um den Einfluss russischer Narrative in diesen Bereichen zu verringern?

Es gibt einen alten Ausdruck, den ich nicht besonders mag, aber er ist hier relevant: Seit der Annexion der Krim und besonders seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird die Ukraine oft eher als Thema von Diskussionen denn als aktiver Teilnehmer behandelt. Selenskyj hat alles getan, um in den Dialog und in Verhandlungen einzutreten, aber verständlicherweise liegt sein Hauptaugenmerk weiterhin darauf, mehr Unterstützung und Waffen für die Ukraine zu sichern. Es ist entscheidend, dass die Ukraine nicht nur auf der Tagesordnung steht, sondern einen Platz am Tisch hat. Das bedeutet eine Vertretung in verschiedenen kulturellen Institutionen, europäischen politischen Foren und Bildungsorganisationen. Mir ist klar, dass diese Diskussionen in einer Zeit des Krieges stattfinden, die erhebliche Einschränkungen dafür mit sich bringt, was die Ukraine investieren und erreichen kann. Für uns außerhalb der Ukraine liegt die Verantwortung darin, sicherzustellen, dass die ukrainische politische Kultur, Stimmen und Perspektiven in breiteren Diskussionen vertreten sind. Dies wird der Ukraine helfen, als Partner in den Bereichen Bildung, Kultur, Innovation und Technologie zu bestehen und sie von einem bloßen Gesprächsthema zu einem aktiven Gesprächspartner zu machen.

Beitragende

Gründer von Ukraїner:

Bogdan Logwynenko

Chefredakteurin von Ukraїner International,

Interviewer:

Anastasija Maruschewska

Koordinatorin von Ukraїner International:

Julija Kosyrjazka

Übersetzerin:

Kateryna Piwnenko

Übersetzungsredakteur:

Keno Verseck

Koordinatorin der Übersetzung:

Нanna Horoschanska

Projektproduzent:

Anna Wdowytschenko

Julija Iwanotschko

Autorin des Textes:

Tonja Smyrnowa

Redakteurin:

Oksana Ostaptschuk

Content-Managerin:

Anastasija Schochowa

Koordinatorin der Content-Manager:

Kateryna Jusefyk

Transkriptionistin:

Anastasija Bazko

Wira Podolska

Grafiker,

Bildredakteurin:

Anna Domanska

Tontechniker:

Dmytro Kutnjak

Marketerin,

SMM-Manager:

Anastasija Hnatjuk

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