Im Jahr 2022 haben wir eine Reihe von Geschichten mit dem Titel „Hört die Stimme von Mariupol“ veröffentlicht. Vom Beginn bis zum Ende der Kämpfe um die Stadt haben wir die Geschichten von Menschen vorgestellt, die der Besatzung entkommen konnten. Heute, da Mariupol immer noch unter der Kontrolle der russischen Armee steht, berichten die Helden des Projekts „Hört die Stimme von Mariupol“, wie sich ihr Leben in den zwei Jahren seit Beginn der großangelegten Invasion verändert hat. In diesem Beitrag wird die Geschichte von Marija Kutnjakowa fortgesetzt: über ihr Leben in Litauen, die Verarbeitung ihres Traumas und ihre Sehnsucht nach Mariupol.
Vor der großangelegten russischen Aggression engagierte sich Marija aktiv im lokalen Kulturleben: Sie arbeitete etwa sechs Jahre lang als Schauspielerin im Ensemble des Mariupoler Volkstheaters „Teatromania“ und im Kultur- und Tourismuszentrum „Wescha“. Sie gab Führungen und erzählte von der Geschichte der Stadt: Vier Generationen ihrer Familie lebten in Mariupol. Heute arbeitet sie freiberuflich und beteiligt sich an Projekten in der Ukraine und Litauen. Außerdem arbeitet sie als Kommunikationsbeauftragte für die zivilgesellschaftliche Organisation „Schtuka“, die vor der großangelegten Invasion Bildungs- und Kulturprojekte in den Städten der Regionen Donetschtschyna, Sloboshanschtschyna und Pryasowja durchführte. Später passte „Schtuka“ ihre Arbeit an die Bedürfnisse der Zeit an: Die Organisation brachte humanitäre und militärische Hilfe in die Regionen, bis einige von ihnen besetzt wurden. Gegenwärtig plant das Team von „Schtuka“ eine schrittweise Rückkehr zu den früheren Schwerpunkten, also zu Kultur- und Bildungsprojekten.
Mariupol
Mariupol ist eine ukrainische Großstadt am Asowschen Meer, einem Nebenmeer des Schwarzen Meeres. Vor dem Beginn der großangelegten russischen Invasion hatte Mariupol 425.681 Einwohner (Stand: 1. Januar 2022) und war eine wichtige Hafenstadt und ein Zentrum der Stahlindustrie.
Von Februar bis Mai 2022 wurde Mariupol von der russischen Armee belagert. Dabei wurden Tausende Zivilisten getötet oder verletzt, Tausende nach Russland und in die vorübergehend besetzten Gebiete der Ukraine deportiert. Die Stadt wurde in eine Ruinenlandschaft verwandelt. Schätzungen zufolge starben infolge der Belagerung mindestens 8.000 Menschen, die wahre Zahl dürfte jedoch weitaus höher liegen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verlieh Mariupol am 6. März 2022 den Ehrentitel „Heldenstadt der Ukraine“ (ukrainisch: Misto-heroj Ukrajiny).
Seit dem Ende der Belagerung steht die Stadt unter russischer Besatzung. Im September 2022 wurde das Verwaltungsgebiet Donezk mit der Stadt Mariupol völkerrechtswidrig von Russland annektiert.
Marija blieb mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrer Katze bis Ende März 2022 im besetzten Mariupol, während ihr Onkel wegen der ständigen Bombardierungen in der Nähe des Asow-Stahlwerks noch einige Monate länger blieb. Am 16. März war Marija gerade bei ihrem Onkel zu Besuch, als russische Truppen eine Bombe auf das Theater von Mariupol warfen. Im Luftschutzkeller des Theaters hatten sich zahlreiche Menschen versteckt, darunter auch Angehörige von Marija. Nachdem sie ihre überlebenden Angehörigen gefunden hatte, beschloss Marija, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen: Am nächsten Tag brach sie mit ihrer Familie in Richtung des Dorfes Melekine (etwa 20 km von Mariupol entfernt) auf. Zwölf Tage später erreichten sie Lwiw. Dort wurde das Lwiwer Puppentheater ihr vorübergehendes Zuhause. Damals wurden viele Theater in Regionen fernab der Frontlinie als Unterkünfte für Vertriebene und als Verteilungsstellen für humanitäre Hilfe eingerichtet.
Angriff auf das Theater von Mariupol
Während der russischen Belagerung suchten viele Menschen Schutz im Theater der Stadt. Obwohl vor dem Gebäude in großen Buchstaben das russische Wort für „Kinder“ stand, bombardierte Russland das Theater am 16. März 2022. Augenzeugen zufolge befanden sich zu diesem Zeitpunkt etwa 1.000 Menschen in dem Gebäude. Nach Schätzungen von Associated Press wurden bei dem Angriff 600 Menschen getötet. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich um ein Kriegsverbrechen. Von dem Theater blieb nur eine Ruine übrig, die im Dezember 2022 von den russischen Besatzern abgerissen wurde – vermutlich, um Beweise für ein Kriegsverbrechen zu verdecken.Ausreise nach Litauen
Marijas Familie machte sich in Lwiw auf die Suche nach einer Wohnung, um nicht dauerhaft bei ihren Freunden wohnen zu müssen. Sie dachten, die Stadt im Westen der Ukraine sei das Ende ihrer Evakuierung aus Mariupol. Es war jedoch nicht möglich, eine Wohnung zu finden: Im Frühjahr 2022 kamen ständig Vertriebene aus den Front- und frontnahen Gebieten an, so dass das Angebot immer knapper wurde. Außerdem waren nicht viele Wohnungseigentümer bereit, Bewohner mit einer Katze aufzunehmen.
Später lernte Marija litauische Freiwillige kennen, die Hilfsgüter für ukrainische Zivilisten und Soldaten transportierten. Im Lwiwer Puppentheater traf Marija den Freiwilligen Žilvinas Svitojus. Er bot ihr und ihrer Familie an, für einige Monate zu ihm nach Vilnius zu ziehen, um sich zu erholen, und später in die Ukraine zurückzukehren, falls sie das Bedürfnis verspüren sollten. Marija stimmte zu. Ein weiteres Argument war die Behandlung ihrer behinderten älteren Schwester: Litauen stellte kostenlos Medikamente zur Verfügung.
„Wir haben kurze Zeit bei diesem Freiwilligen gewohnt und sofort eine Mietwohnung gefunden. Ich arbeite im Homeoffice in der Ukraine als selbständige Unternehmerin, also in meinem erlernten Beruf. Wir bekommen diese medizinische Unterstützung, weil sie (Marijas Angehörige, Anm. d. Red.) eine schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe sind. Und ich habe mir einfach ausgerechnet, wie viel ich in der Ukraine bezahlen müsste – da wurde mir klar, dass ich in Litauen bleibe, solange es diese medizinische Unterstützung gibt.“
Während Marija und ihre Angehörigen die Unterlagen für die Operation und Rehabilitation ihrer Mutter vorbereiteten, versuchten sie, ihren Onkel aus Mariupol zu evakuieren. Er wohnte in der Nähe des Asow-Stahlwerks, wo es aktive Kampfhandlungen gab, und es war im April 2022 unmöglich, diesen Teil der Stadt zu erreichen. Marija erzählt, dass sie anderthalb Monate lang nicht wussten, ob ihr Onkel noch lebte, und dass sie weitere anderthalb Monate lang versuchten, ihn herauszuholen. Erst im Juni desselben Jahres konnte ihr Onkel über Russland nach Litauen ausreisen. Die lange Reise und die russische Besatzung verschlechterten seine Gesundheit, er bekam Herz- und Lungenprobleme. Die litauischen Ärzte beschlossen, ihn zu operieren, aber zuerst musste er etwa ein Jahr lang sein Gewicht und seinen Wasserhaushalt wiederherstellen. Die Operation war erfolgreich, doch einige Tage später löste sich ein Blutgerinnsel.
„Wir haben ihn hier eingeäschert. Wenn Mariupol befreit ist, wollen wir ihn mit unseren Verwandten auf dem Friedhof beerdigen, das heißt, ihn zurück nach Hause bringen. Ich sage immer, dass ihn in Wirklichkeit die Russen getötet haben.“
Foto aus dem persönlichen Archiv von Marija Kutnjakowa.
Nach Marijas Beobachtungen sind Verschlimmerungen chronischer Krankheiten oder plötzliche Knochenbrüche bei Ukrainern keine Seltenheit. Besonders betroffen sind Menschen, die eine Zeit lang unter russischer Besatzung gelebt haben: Ständiger Stress, Mangelernährung, Unterkühlung und Wassermangel haben ihre Körper ausgezehrt. Neben Marijas Onkel musste auch ihre Mutter operiert werden, nachdem sie in ihrer zweiten Woche in Vilnius mitten auf der Straße gestürzt war und sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hatte. Im Krankenhaus, in dem sie sich erholte, waren viele Ukrainer mit ähnlichen Verletzungen. Marija bemerkt:
„Viele Menschen aus Mariupol, die noch nicht einmal sehr alt sind, sterben an chronischen Krankheiten, die sie sich in Mariupol während der Blockade der Stadt zugezogen haben. Ich kenne viele Menschen um die 50, die sich im Keller (wo sie sich vor den russischen Bomben versteckt hielten, Anm. d. Übers.) eine Lungenentzündung zugezogen haben. Sie konnten sie nicht heilen und sind noch in der Ukraine oder in Europa an den Folgen gestorben.“
Für Marija sind die Folgen der Besatzung Schlaf- und Konzentrationsprobleme, weshalb sie immer noch in Teilzeit arbeitet – ein Acht-Stunden-Tag wäre für sie zu belastend. Sie nimmt auch psychologische Hilfe in Anspruch: Sie lernt, sich um sich selbst und ihre Angehörigen zu kümmern, auch wenn sie in dem Moment eigentlich überhaupt nichts tun möchte. Marija sagt, dass die schwierigen Emotionen nachlassen und sie wieder bereit ist, zu spenden und Russen aktiv zu hassen. Seit sie in Litauen lebt, muss Marija nicht nur wegen ihrer gesundheitlichen Probleme an ihre Erlebnisse in Mariupol denken. Auch das Geräusch eines Flugzeugs erinnert sie an das Erlebte: Der Flughafen von Vilnius liegt mitten in der Stadt. Erst im Laufe der Zeit konnte sie sich davon überzeugen, dass hier keine russischen Kampfflugzeuge vorbeifliegen – und wenn doch, würden sie von der Luftabwehr zerstört.
„NATO-Kampfflugzeuge patrouillieren hier regelmäßig die Grenze. Ich verstehe, dass diese Flugzeuge weit weg von hier fliegen, aber sie fliegen auch um vier Uhr morgens, und die ganze Stadt kann sie hören. Manchmal wache ich davon auf und sehe, dass irgendwo in einem Haus auf der anderen Straßenseite das Licht angeht, es geht also nicht nur mir so.“
Foto aus dem persönlichen Archiv von Marija Kutnjakowa.
Einleben in Vilnius
Nach fast zwei Jahren in Vilnius fällt Marija kaum ein Ort ein, an dem sie noch niemanden aus der Ukraine getroffen hat: ein Café, eine Postfiliale, ein Supermarkt… Laut Angaben des Migrationsamtes vom Dezember 2023 sind Ukrainer die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in Litauen – insgesamt 85.000 Personen. Scherzhaft bemerkt Marija, dass es immer schwieriger wird, jemanden zu finden, mit dem sie Litauisch üben kann.
„Oblast Vilnius“
Dieser Ausdruck ist eine scherzhafte Anspielung auf die Ukraine. „Oblast“ bezeichnet in der Ukraine ein Verwaltungsgebiet der ersten Ebene, ungefähr vergleichbar mit einem Regierungsbezirk in Deutschland. In anderen ehemals sowjetischen Staaten sowie in Bulgarien gibt es ebenfalls Verwaltungsgebiete, die als Oblast bezeichnet werden. Das Wort bedeutet auf Ukrainisch, Russisch und Bulgarisch „Gebiet“. Während der sowjetischen Besatzung Litauens gab es in der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik sogar kurzzeitig (von Juni 1950 bis Mai 1953) eine Oblast Vilnius.„Manchmal fühle ich mich, als wäre ich in der Oblast Vilnius (scherzhafte Anspielung auf die Ukraine, Anm. d. Übers.). Ich lese ukrainische Nachrichten, ich arbeite mit Ukrainern, ich kommuniziere hier mit Ukrainern. Ich höre ständig Geschichten von Ukrainern, die ihr Heimatland vergessen haben und so weiter. Hier ist das nicht so. Manchmal fange ich in meinem ukrainischen Umfeld an, über litauische Nachrichten zu sprechen: ‚Oh, bald ist die Feier zum Tag von Vilnius, wohin geht ihr?‘ Sie schauen mich an und sagen: ‚Nein, nein, wir werden jetzt mit Dir über die Ergebnisse von Davos (Veranstaltungsort des Weltwirtschaftsforums, Anm. der Übers.) für die Ukraine sprechen. Wir werden mit Dir nicht über den Tag von Vilnius sprechen.‘ “
Foto aus dem persönlichen Archiv von Marija Kutnjakowa.
Marija stellt fest, dass die enge Kommunikation zwischen Ukrainern und Litauern seit Beginn der großangelegten russischen Aggression dabei hilft, sich von gegenseitigen Vorurteilen frei zu machen. Diese Vorurteile seien oft von Russland aufgezwungen worden:
„Zum Beispiel hatte ich vor meiner Ankunft eine ziemlich sowjetische Vorstellung von Litauen, was mir erst später bewusst wurde. Und so ähnlich hatten die Litauer ihre Vorstellung von den Ukrainern. Und als diese Situation eintrat (die Einwanderung von Ukrainern aufgrund des großangelegten Krieges, Anm. d. Red.), waren sie zum Teil angenehm schockiert von uns. Und deshalb hatten sie ebenfalls die Frage an uns: Wer seid ihr?“
Marija bemerkt, dass die Geschichte hilft, einander besser zu verstehen: Gebiete sowohl der Ukraine als auch Litauens waren Teil des Großfürstentums Litauen und der polnisch-litauischen Rzeczpospolita. Später wurden sie Teil des Russischen Kaiserreiches und der Sowjetunion. Beide Länder widersetzten sich dem kommunistischen Besatzungsregime und schüttelten schließlich ihren Status als Sowjetrepubliken ab, noch bevor die Sowjetunion zusammenbrach. Beide Länder gingen den Weg der Dekolonisierung. Marija meint, dass auch Folklore nicht weniger beliebt ist:
Weltwirtschaftsforum in Davos
Das Weltwirtschaftsforum ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die jährlich ein Treffen in Davos in der Schweiz ausrichtet. Bei den Jahrestreffen diskutieren Wirtschaftsexperten, Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft über globale Fragen.„Meine Mutter hält seit einem Jahr Vorträge über die ukrainische Kultur und Folklore. Das hat sie auch schon in Mariupol unterrichtet. Sie hat dieses Thema gewählt, weil viele Ukrainer nach dem 24. Februar 2022 festgestellt haben, dass sie nichts über die Ukraine wissen. Und die Litauer wundern sich, weil sie, grob gesagt, wissen, wie es bei ihnen (den Litauern, Anm. d. Übers.) war und was bei uns (in der Ukraine, Anm. d. Übers.) war.“
Foto aus dem persönlichen Archiv von Marija Kutnjakowa.
Von Marijas Mutter kann man in zwei Sprachen mehr über die ukrainische Folklore erfahren: Sie selbst spricht Ukrainisch und ein Übersetzer übersetzt es auf Litauisch. Die Vorträge werden nicht nur von Ukrainern und Litauern besucht, sondern auch von Angehörigen anderer Nationalitäten. Marija erinnert sich an folgende Begebenheit, die sie am meisten beeindruckt hat:
„Beim letzten Vortrag kam ein Chinese in einer Wyschywanka (traditionelles ukrainisches besticktes Hemd, Anm. d. Übers.) herein und sagte etwas auf gebrochenem Ukrainisch. Darauf sagten wir: ‚Oh mein Gott!‘. Und er antwortete: ‚Ich habe beschlossen, die ukrainische Sprache und Kultur zu studieren, weil es so ein inspirierendes Land und so eine inspirierende Nation ist.‘ “
Auch Marijas Katze begann, engeren Kontakt zu den Einheimischen zu knüpfen. Als sie Mariupol verließen, hatte die Katze etwa ein Kilo an Gewicht verloren, was man an ihrem Körperbau sehen konnte. Jetzt, wo es ruhiger und sicherer ist, hat ihre vierbeinige Freundin ein besseres Leben, erzählt Marija:
„Wir wohnen in einem Haus mit vielen Katzen im Hof. Sie (die Katze) läuft im Eingangsbereich des Hauses herum und miaut durch die Tür zu den anderen Katzen. Wir haben hier einen offenen Balkon. Unsere Nachbarn haben auch eine Katze auf dem Balkon. Wenn es warm ist, sitzen sich beide auf dem Balkon gegenüber. Sie hat jetzt litauische Freunde.“
Foto aus dem persönlichen Archiv von Marija Kutnjakowa.
Der Wunsch, nach Hause zurückzukehren
Obwohl es Marija gelungen ist, eine neue Wohnung, Arbeit und die Unterstützung der ukrainischen und der litauischen Community zu finden, hat sie nicht vor, für immer zu bleiben. Sie glaubt, dass sie definitiv in der Ukraine leben wird und nicht nur ein paar Geschäftsreisen dorthin unternimmt. Ihr Handy hilft ihr zumindest ein bisschen, mit ihrer Heimatstadt in Kontakt zu bleiben: Marija zeigt auf ihrem Smartphone das Wetter in Vilnius und Mariupol.
„Ich kann mich nicht an das Klima hier (in Vilnius, Anm. d. Red.) gewöhnen, weil es hier kälter, feuchter und weniger sonnig ist. Ich denke ständig daran, wie es in Mariupol ist. Ich sehe, dass in Mariupol Plusgrade herrschen und in Vilnius Minusgrade, und ich denke: Scheiß-Russen. Ich vermisse das Meer sehr. Ich gehöre zu den Menschen, die im Sommer nie den Strand verlassen haben: Ich gehe nach der Arbeit an den Strand, auch wenn ich nicht schwimmen gehe, oder ich gehe vor der Arbeit an den Strand.“
Foto: Dmytro Bartosch.
Ob sie erneut in Mariupol leben wird, kann Marija nur schwer vorhersagen. Mehr als drei Tage kann sie nicht planen. Wahrscheinlicher ist, dass sie die Stadt besuchen und sich an Freiwilligeninitiativen zum Wiederaufbau beteiligen kann. Ihre Wohnung wurde durch russische Bombenangriffe völlig zerstört. Die teilweise erhaltene Wohnung ihrer Mutter wird von den Besatzungsbehörden für ihre eigenen Zwecke genutzt. Sie erkennen die ukrainischen Eigentumsdokumente nicht an. Marija hat von Mariupolern aus demselben Wohnblock gehört, dass in der Wohnung ihrer Mutter Bauarbeiter aus Tadschikistan einquartiert wurden:
„Sie haben alles aus der Wohnung getragen. 20 Personen lebten in der Zweizimmerwohnung meiner Mutter ohne funktionierende Abwasserentsorgung. Aber das Schlimmste war, dass sie in der Küche ein offenes Feuer machten und darauf in einem Kessel Pilaw-Reis kochten.“
Foto aus dem persönlichen Archiv von Marija Kutnjakowa.
Die anderen sogenannten Nachbarn lernte Marija auch persönlich kennen: Eine Unbekannte bat sie über den Chatdienst Viber um den Zugang zur Wohnung ihrer Mutter in Mariupol für den Gasdienst. Nach mehreren Nachrichten stellte sich heraus, dass es sich um die Frau eines russischen Soldaten handelte, die seit ein paar Monaten in ihrem Aufgang wohnte. Sie beschwerte sich darüber, dass sie wegen des fehlenden Gasanschlusses mit einem Multikocher kochen musste:
„Ich sagte ihr: ‚Gehen Sie nach draußen, machen Sie ein Feuer und kochen Sie darauf.‘ “
Marija leidet auch darunter, wie Russland das Bild von Mariupol in den Medien verbreitet: Das gute Klima, das Meer und der erschwingliche Wohnungsmarkt werden hervorgehoben, während das wahre Leben der überlebenden Ukrainer bewusst verschwiegen wird. Das verzerrte Bild der Stadt verbreitet sich nicht nur unter den durchschnittlichen Bewohnern Russlands, selbst ukrainische Bürger verstehen nicht immer die Brutalität der Besatzung:
„In Vilnius leben viele Ukrainer aus den nicht besetzten Gebieten, die über Neujahr ihre Familien in der Ukraine besucht haben. Also fragten sie auch mich: ‚Fährst du zu Neujahr in die Ukraine?‘ [Ich antworte:] ‚Ich komme aus Mariupol, wohin sollte ich denn fahren?‘ “
„Ich plane einen Urlaub in Jalta auf der Krim und in Jalta am Asowschen Meer.“ Foto aus dem persönlichen Archiv von Marija Kutnjakowa.
Jalta
Jalta ist der Name folgender Orte in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine: einer Stadt an der Südküste der Halbinsel Krim mit ca. 78.000 Einwohnern (Stand: 2014) und einer Siedlung städtischen Typs am Asowschen Meer mit 4.700 Einwohnern (Stand: 01.01.2022), ca. 35 km südwestlich von Mariupol.
Marija ist der Meinung, dass sich die Weltgemeinschaft heute immer mehr an den großangelegten Krieg gewöhnt und weniger bereit ist, ukrainischen Flüchtlingen Hilfe und Empathie entgegenzubringen. Sie nimmt an, dass einige Staaten deshalb die ukrainischen Flüchtlinge zur Rückkehr in ihre Heimat bewegen werden. Es gibt aber auch Menschen, die sich schon jetzt bewusst für eine Rückkehr entscheiden, um der Armee beizutreten, Freiwilligenarbeit zu leisten, das Land wieder aufzubauen oder die ukrainische Wirtschaft von innen heraus zu unterstützen:
„Ich denke immer an meine Großmutter zurück, die während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls evakuiert wurde und mehrere Jahre außerhalb der Ukraine gelebt hat. Und ich sage mir ebenso, dass ich die Erfahrung machen werde, in Europa zu leben, im wunderschönen Vilnius, das ich mit Wärme und Liebe in Erinnerung behalten werde. Aber ich habe auf jeden Fall, vor allem nachdem ich in Europa gelebt habe, die klare Erkenntnis gewonnen, dass die Ukraine das beste Land der Welt ist, dass die Ukrainer die besten Menschen sind und dass es [in der Ukraine] die beste Küche und den besten Dienstleistungssektor gibt, alles ist das Beste.“