Am 24. Februar begann Russland von drei Seiten die groß angelegte Invasion in die Ukraine: im Norden, Osten und Süden des Landes. Vorübergehend konnten die russischen Besatzer einige ukrainische Gebiete besetzen.
Dank der ukrainischen Streitkräfte und tapferer lokaler Partisanen wurden die Besatzer aus den nördlichen ukrainischen Gebieten zurückgedrängt. Der Wiederaufbau der Regionen begann: Entminung, Beseitigung von Trümmern, Lieferung von humanitärer Hilfe an die betroffenen Bewohner:innen usw. Auch Journalist:innen und Fotograf:innen konnten die enteigneten Siedlungen besuchen, um die Verbrechen der russischen Armee und Augenzeugenberichte zu dokumentieren und die neue Realität zu verstehen.
Fotografin Jelysaweta Bukrejewa
Die Fotografin aus Kyjiw hat letztes Jahr das Projekt „Narben der verlorenen Menschlichkeit“ ins Leben gerufen. Dies ist eine Fotoserie über das Leben in den besetzten Städten im Norden der Ukraine. Der Autorin zufolge zeigen ihre Fotos, wie sich die Gesichter der Menschen, die Landschaften und für viele vertraute Dinge verändern. „Es ist ein Kontrast: Alles blüht, die Menschen kehren zurück, aber die ‚Narben‘ in der Stadt, wie zum Beispiel eine Granate, die in einem Baum steckt, bleiben“.
Wir veröffentlichen die Bilder von Jelysaweta Bukrejewa, die sie seit Beginn der Invasion aufgenommen hat, sowie ihre Reflexionen über Krieg, Fotografie und Menschen.
Fotografie ist mein Leben, ich behandle sie wie eine Sprache. Ein Foto erzählt eine Geschichte nicht nur visuell, sondern auch auf der Gefühlsebene, denn die Menschen sehen sich die Details an und werden von Emotionen erfüllt. Ich bin ein introvertierter Mensch und durch die Sprache der Fotografie lasse ich mich besser verstehen.
5 Uhr morgens am 24. Februar, die Familie von Jelysaweta ist durch das Geräusch von Explosionen wach geworden.
Es fällt mir schwer, mir die Fotos wieder anzuschauen. Ich habe kürzlich mein Kriegstagebuch gefunden — das sind Fotos aus dem ersten Monat (der Invasion – Red.). Ich habe die Fotos auf der Website veröffentlicht und einige Fotos für die Ausstellung ausgewählt. Es ist schwer, sie wieder anzusehen, auch wenn meine Kriegserfahrungen nicht so traumatisch sind. Meine Familie ist am Leben, niemand wurde verletzt, alle waren in Kyjiw. Aber ich erinnere mich an mich selbst in diesem Moment, an all diese Erfahrungen, an meinen jüngeren Bruder, der in den ersten Wochen sehr ängstlich und besorgt war. Jetzt haben wir uns an die neue Realität angepasst, aber damals gab es nur Verwirrung. Was man kannte und worauf man sich vorbereitet hat, ging schief.
Ein Selfie von Jelysaweta bei ihrer Rückkehr nach Hause nach dem Beginn des Krieges.
Jelysawetas Bruder schläft in der ersten Nacht des russischen Einmarsches auf dem Boden.
Zu Beginn der groß angelegten Invasion befürchtete man, dass ein Foto einen Raketeneinschlag bewirken könnte. Menschen haben sich ständig mit mir gestritten. Ich musste ihnen erklären, was ich filmte, warum ich es tat und dass ich ihnen keinen Schaden zufügen wollte. Ich denke, die Fotografen sollten dies tun, um die Einstellung der Menschen ihnen gegenüber zu ändern.
Gründe für Raketenangriffe
Es ist bekannt, dass die Besatzer die meisten Informationen zur Anpassung ihres Beschusses aus offenen Quellen bezogen, so dass die lokalen Behörden und das Militär die Zivilbevölkerung drängten, keine Fotos und Videos der Einschlagstellen vor den offiziellen Quellen zu veröffentlichen.Ein Kinderspielplatz in Butscha.
Eine Artilleriegranate steckt in einem Baum. Region Polissja.
Als ich noch im Sommer meine Fotos aufgenommen habe, fragte mich eine Frau: „Was filmst du da, unser Leid?“. Dann habe ich erklärt, dass der Krieg noch nicht vorbei ist, dass einige Menschen keine Wohnungen mehr haben… Und unsere Bilder können von Menschen gesehen werden, die eventuell helfen können. Sie wurde sofort weicher: „Setz dich hin, Kind.“ Wir müssen erklären, dass es sich lohnt, darüber zu sprechen.
Ich fotografiere viel auf der Straße, und die Menschen akzeptieren Fotografen jetzt eher, weil sie erkennen, dass wir etwas bewirken können: die Aufmerksamkeit auf ihre Gemeinschaft lenken, die Reaktion der lokalen Verwaltung oder lokaler Hilfsorganisationen hervorrufen.
Olena bringt neue Fenster in ihr teilweise zerstörtes Haus.
Ich denke, die Rolle des Fotografen während des Krieges ist sehr wichtig. Wenn du etwas zu sagen hast, tue es, auch wenn du kein Profi bist. Es gibt Fälle, in denen Leute, die den Pulitzer-Preis gewonnen haben, kein einziges professionelles Foto gemacht haben — sie waren einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Wenn es also etwas zu filmen gibt — seien es die Folgen der Angriffe oder Kriegsverbrechen — was immer es ist, es ist notwendig, dies festzuhalten.
Pulitzer-Preis
Eine amerikanische Auszeichnung in den Bereichen Literatur, Journalismus, Musik und Theater, die vom Verleger Joseph Pulitzer gegründet wurde. Der Preis wird seit 1917 jährlich verliehen.Dank der Fotografie können wir eine Vielzahl von Verbrechen der Besatzer nachweisen. Als die Russen uns beschuldigten, die Verbrechen in Butscha zu inszenieren, bewiesen die Satellitenbilder schnell die Echtheit der Fotos. Egal, wie viel Geld die russischen Behörden in die Verbreitung ihrer Botschaften investieren, egal, wie sehr sie schreien, dass es sich um eine Fälschung handelt, keine noch so große Propaganda kann die Wahrheit auslöschen oder entstellen. Der Vergleich von normalen Fotos und Satellitenbildern, die nicht gefälscht werden können, funktioniert problemlos, und mit solchen Beweisen ist es nicht mehr möglich, die Realität zu verfälschen.
Butscha
Eine Stadt in der Nähe von Kyjiw, deren Besetzung zu einem der Symbole für die russischen Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung wurde. Hier wurden die ersten Massengräber von gefolterten Ukrainer:innen entdeckt.Einmal habe ich beim Einrichten der Kamera den Blitz überprüft, und er ging aus. Ein Junge hat sich dadurch erschrocken. Er stand ziemlich weit weg, aber der Blitz war stark. Ich entschuldigte mich und sagte, es sei nur ein Foto. Es war eine peinliche Situation, armer Junge. Kinder reagieren beunruhigt auf den Blitz, deswegen mache ich ihn immer aus, wenn Kinder da sind. Wenn ich Erwachsene frage, haben die Meisten kein Problem damit. Sie sagen, sie haben vor nichts mehr Angst.
Walentyna. Die Russen hielten sie und etwa 300 andere Dorfbewohner:innen fast einen Monat lang in einem kleinen Keller gefangen. Viele schliefen im Stehen, an eine Wand gelehnt.
Artem und Fadej in einer zerstörten Kirche. Lukaschiwka, Region Siwerschtschyna.
Ein Junge schwenkt die ukrainische Flagge an einem von Kindern organisierten Kontrollpunkt. Sie halten Autos an, stellen „kontrollierende“ Fragen und verteilen Süßigkeiten. Sloboda, Region Siwerschtschyna.
Jetzt ist jeder an Frontfotos aus dem Osten und Süden interessiert, weil das mehr Aufmerksamkeit erregt, aber hier (in den befreiten Gebieten von Siwerschtschyna und Polissja — Red.) fotografieren nur wenige. Aber die lokalen Menschen leben immer noch mit den Folgen der Besatzung. Alle sagen, dass sie am meisten Angst vor einer erneuten Invasion aus Belarus haben, sie verfolgen die Nachrichten… Fotografen, die nach Charkiw und in den Süden des Landes gereist sind, sagen, dass die visuell zerstörten Städte überall gleich aussehen. Ich bin damit nicht einverstanden, denn ich habe den Eindruck, dass hinter jeder Zerstörung eine eigene menschliche Geschichte steht. Sie können nicht gleichgesetzt werden.
Bohdan, wohnhaft in Butscha.
In der Serie „Narben der verlorenen Menschlichkeit“ beeindrucken mich vor allem die Porträts. Wenn man in die befreiten Städte kommt, riecht man den Gestank des Krieges: diesen Mist, gebratenes Metall, Staub, Sand… Aber die Menschen dort sind sehr freundlich, jeder grüßt dich. Sie freuen sich, mit einem zu reden: fragen, woher wir kommen, wie es uns geht, was wir erlebt haben, wie teuer Milch in Kyjiw ist. Ich sah diese Menschen mehrmals, wir kamen wieder und wussten, wem wir Futter für seine Tiere bringen können, wer Eimer oder eine Axt brauchte. Alle Porträts habe ich mir definitiv eingeprägt.
Natalja wurde in Belarus geboren, hat aber ein Haus in der Ukraine gekauft. Sie überlebte die russische Besatzung.
Switlana in der Nähe ihres Wohnblocks. Ihre Wohnung befindet sich im fünften Stock, wo die russische Rakete einschlug. Horenka, Region Polissja.
Dmytro. Borodjanka, Region Polissia.
Die zerstörten Hochhäuser machen einen unbeschreibbaren Eindruck. Ich erinnere mich wohl an jeden einzelnen von ihnen. In der Regel sehen sie so aus, als wären sie aufgeschnitten worden, und man kann sehen, welche Wohnungen es gab und wie die Menschen gewohnt haben. In Borodjanka begegnete ich einer Frau, die als Einzige in einem Gebäude zurückgeblieben war, in dem ein ganzer Teil fehlte. Sie kam heraus, um den Teppich auszuschütteln und sagte: „Ich habe ihn vor zwei Tagen geputzt, und jetzt ist er wieder staubig, ich muss ihn reinigen…“. Sie hat keine Fenster, kein Wasser, kein Gas. Es gibt nichts… Sie macht sich Sorgen um den Teppich.
Ein zerstörtes Haus in Borodjanka, Region Polissja.
Ein Teppich mit der Aufschrift „Welcome home“ in der Nähe eines völlig zerstörten Wohnblocks. Borodjanka, Region Polissja.
Ein zerstörtes Haus mit erhaltenen Schränken. Horenka, Region Polissja.
Ein ausgebranntes mehrstöckiges Wohnhaus in Irpin, Region Polissja.
Ziemlich schnell wurde mir klar, dass wir nicht in der Lage sind, diesen ganzen Horror zu begreifen. Ich meine, dass unsere Psyche uns schützt: Wir sehen, verstehen, wissen alles, aber wir fassen die ganze Tragödie nicht vollständig. Weil wir einfach nicht damit leben können und damit überfordert werden. Das hat mich als Fotografin befreit. Mir ist klar, dass egal, was ich aufnehme, egal, was ich zeige, egal, was für ein Video oder Buch ich mache, es wird nicht genug sein.