„Hört die Stimme von Mariupol“ ist eine Reihe der Geschichten von Menschen, die es geschafft haben, die belagerte Stadt Mariupol zu verlassen. Wir setzen die Serie mit einem Gespräch mit Marija fort, die am 16. März Zeugin der Luftangriffe auf das Theater war. Nach diesem Vorfall beschloss die Frau, um jeden Preis einen Weg aus der Stadt zu finden und ihre Lieben zu retten.
Maria ist Kommunikationsspezialistin und Schauspielerin. Nachdem sie ihr Studium als Journalistin absolvierte, trat sie der Truppe des Mariupoler Volkstheaters „Theatromania“ bei und verbrachte die nächsten sechs Jahre im Theater. Darüber hinaus nahm sie an der Entwicklung des Kultur- und Touristenzentrums „Wescha“ teil und führte Touren durch Mariupol, da sie die Stadt sehr gut kannte (Marija ist Mariupolerin in der vierten Generation). Sie sagt, dass die Bewohner von Mariupol seit 2014 an Explosionen gewöhnt waren, da die Stadt nahe der Demarkationslinie liegt. Aber am 24. Februar ahnte keiner der Stadtbewohner, was sie und ihre Stadt durchleben werden.
„Von Mariupol nach Lwiw fuhren wir zwölf Tage. Unterwegs erinnerte ich mich an den direkten Zug von Mariupol nach Lwiw, der über 28 Stunden unterwegs war. Ich glaube, es ist die längste Zugverbindung in der Ukraine. Letztes Jahr fuhren wir mit dem Zug in den Urlaub und wir mussten in Lwiw umsteigen. Damals war es für uns sehr stressig. Und diesmal dachte ich: ‚Was für ein wunderbarer Zug das war!‘ Denn zwölf Tage ist etwas ganz anderes. Und jedes Mal schläfst du an einem anderen Ort und um dich herum sind andere Menschen, Busse und der unendliche Weg.
Als wir in Lwiw ankamen, fanden wir Unterkunft im Lwiwer Puppentheater. Das Erste, was mir auffiel, war das Glasdach. Meine Familie war im Theater von Mariupol, als die Bombe fiel. Daher beginnt man, auf solche Dinge zu achten, die möglicherweise gefährlich sein können, wie zum Beispiel Spiegel, große Fenster oder Ähnliches.
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Jeden Morgen wachten wir im Theater auf, wuschen uns und putzten die Zähne. Danach gingen wir in die Stadt, um Diverses zu erledigen. Das ist wirklich komisch, denn man hat keine Wohnung und keine Arbeit mehr, aber es stellt sich heraus, dass es für Binnenflüchtlinge genug zu tun gibt. In erster Linie muss man nach Kleidung suchen. Ich hatte nur einen Rucksack mit Laptop und Dokumenten. Das war alles, ich hatte nichts mehr. Wir kamen in Winterklamotten, weil es schneite, als wir Mariupol verließen. Aber in Lwiw blühte schon der Frühling. Ich hatte aber nur sehr hohe Winterstiefel. Fast alles, was ich jetzt anhabe, bekam ich als humanitäre Hilfe. Alles, außer Socken. Diese haben schon Löcher, ich habe sie mehrfach gestopft, aber ich will sie nicht wegwerfen, denn sie sind aus Mariupol.
Als wir die Stadt verließen, war das Wichtigste für mich, meine Katze zu retten. Als neben unserem Haus Bomben fielen, hatte die Katze Angst, versteckte sich unter dem Schrank und wollte nicht mehr raus. Wir beschlossen jedoch, die Wohnung zu verlassen, also mussten wir sie von dort irgendwie holen. Ich streckte meine Hand nach ihr, aber sie war sehr gestresst, und ich habe immer noch Narben von damals. Also sagte ich zu ihr: ‚Hör zu, Katze, Putin hat mich weniger gekratzt als du.‘
Ich hielt sie fast die ganze Zeit in meinen Armen. Sie war gestresst und hatte ein Kilo abgenommen, was für sie sehr viel ist. Als wir endlich in Lwiw ankamen, konnten wir uns beruhigen, und wir ließen die Katze frei im Puppentheater rumlaufen. Aber eines Nachts gab es Sirenenalarm. Alle gingen in den Schutzbunker unter der kleinen Bühne. Wir nahmen die Katze mit, aber auf einmal war sie weg.
Es ist wirklich dumm gelaufen: Die Katze aus Mariupol zu retten, um sie in Lwiw zu verlieren. Meine Mutter hatte damals die Situation noch weiter verschärft und gesagt: ‚Sie hat sich wahrscheinlich irgendwo versteckt, um zu sterben, wie es die Katzen normalerweise tun.‘ Es gibt den Spruch ‚Paris sehen und sterben‘, daher dachte ich, dass dies mit der Katze der Fall war – Lwiw sehen und sterben. Aber alles ist gut gelaufen, wir fanden sie später unter der Bühne des Konzertsaals: Wir hörten, wie sie miaute. Deshalb trugen wir sie die nächsten Tage mit, wenn wir in die Stadt gingen.
In Mariupol begaben wir uns bis zum 10. März jeden Tag auf die Suche nach Nahrung. Es gab aber Menschen, die weder ihre Wohnung noch ihren Keller verließen, weil sie große Angst hatten. Als ich durch die Stadt lief, konnte ich sehen, dass viele Einheimische sehr hysterisch reagierten. Zum Beispiel, jede zweite Frau, die mir entgegenkam, weinte und zitterte. Ich lief an denen vorbei und hörte, wie überall geschossen wird. Aber ich musste Wasser holen, daher musste ich weiterlaufen. Viele Menschen konnten nicht unterscheiden, ob es sich um einen ausgehenden und den eingehenden Artilleriebeschuss handele, sie hatten vor absolut allem Angst. Wir konnten aber alles unterscheiden, wussten aber, wann es sich jetzt um einen ausgehenden Beschuss handelt. Das bedeutete, wir seien in Sicherheit. Einmal stand meine Mutter und ich in der Schlange, um Wasser zu holen. Zu diesem Zeitpunkt begann unsere Artillerie zu schießen. Die Hälfte der Menschen fiel einfach auf den Boden. Also sagten wir: ‚Seid ihr blöd, das ist doch ausgehend, das ist die ukrainische Artillerie.‘ Es gibt eine einzige Artillerie in der Welt, vor der man keine Angst zu haben braucht – von der ukrainischen. Es sei denn, man ist ein ‚Raschist‘ oder ein russischer Soldat.
An dem Tag, als das Theater bombardiert wurde, besuchte ich meinen Onkel, der in der Nähe wohnte. Wir hörten nichts von ihm, deshalb beschloss ich, ihn zu besuchen. Er war in Ordnung, er bat mich nur, Wasser aus dem Brunnen zu holen. Von dort konnte man das Asowstal-Werk komplett sehen. Ich schaute nach oben und sah Flugzeuge im Anflug. So suchte ich schnell Schutz neben dem nächsten Gebäude, weil es mir klar war, dass gleich Bomben fallen werden. So geschah es auch. Es gab eine Explosion und das Flugzeug flog weg. Dann ging ich zum Theater, aber es war zerstört. Zuerst konnte ich dieses ‚Puzzle‘ gar nicht zusammensetzen. Ich sah, dass das Theater keinen Dach hatte, ich sah Menschen auf dem Platz verstreut. Es gab viele Verwundete, Menschen schrien. Ein Teil des Theaters brannte bereits und ich stand dort und konnte nicht begreifen, dass ich erst vor Kurzem dort gewesen bin.
Auf einmal verstand ich, dass meine Familie im Theater war. Ich rannte zum erhaltenen Teil des Gebäudes, aber sie waren nicht da. Dann begann ich, herumzurennen, zu rufen und wie verrückt zu schreien. Glücklicherweise stellte es sich heraus, dass sie sich in dem Teil des Gebäudes befanden, das nicht zusammengebrochen war. Sie gingen zum Luftschutzbunker hinunter, von wo es mehrere Ausgänge auf die Straße gab. Sie standen da, riefen nach mir und machten sich Sorgen, ob ich verletzt sei. Denn sie dachten, dass ich zum Zeitpunkt der Explosion neben dem Theater in der Grünanlage war. Viele Menschen, die zum Zeitpunkt der Explosion nicht im Gebäude waren, wurden durch die Explosion schwer verletzt. Aber alle meine Angehörigen sind heil geblieben.
Danach wurde das Theater aus Artillerie beschossen und das Feuer breitete sich immer weiter aus. Die Menschen begannen zu schreien, dass man nach draußen gehen muss. Aber der Platz vorm Theater wurde beschossen und es war gefährlich, dort zu bleiben. Also liefen wir alle zu der nahe gelegenen Philharmonie. Dann wurde aber auch sie von den ‚Grads‘ (Mehrfachraketenwerfersystem) beschossen. In dem Moment wurde uns klar, dass meine Familie einen Weg aus der Stadt finden muss. Deshalb gingen wir schon am nächsten Tag zu Fuß in Richtung des Dorfes Melekine.
Ich hatte niemals den Eindruck, dass wir in Mariupol alleine gelassen wurden, denn ich hörte immer wie die ukrainische Artillerie arbeitete. Es gab zahlreiche Gefechte. Viele meiner Bekannten und Freunden aus Mariupol waren bei der Armee. Deshalb wusste ich, dass diese Menschen – selbst wenn sie den Befehl dazu erhielten – ihre Heimatstadt nicht im Stich lassen würden. Ich sage so: ‚Es ist wahrscheinlicher, dass Mariupol jemanden verlässt, als jemand Mariupol verlassen wird.‘ Während ich in der Stadt war, machte ich mir Sorgen darüber, was mit der Ukraine generell passiert. Als wir nach Saporischschja kamen, sah ich endlich zum ersten Mal die Karte der Kämpfe und der besetzten Gebieten. Ich war wie niedergeschlagen. Denn die ganze Küste, die ganze Region Cherson war besetzt! Es war krass!
Nach unserer Ankunft in Lwiw war es natürlich beängstigend, sich wieder in einem Theater aufzuhalten. Aber dadurch, dass die Russen ein Theater beschossen haben, bedeutet es nicht, dass ich jetzt überhaupt nie mehr ins Theater gehen werde. In letzter Zeit sind so viele schreckliche Dinge in meinem Leben passiert, dass wenn ich auf jeden Trigger achte, werde ich das Haus nicht mehr verlassen können. Mein sicherster Ort in Mariupol war der Korridor meiner Wohnung. Wenn ich jetzt Korridore betrete, schaue ich immer, ob man dort schlafen könnte. Es wurde zur Gewohnheit. Außerdem wurde ich sehr empfindlich für Geräusche. In Lwiw ist es vor allem die Straßenbahn. Der Lärm, wenn die Tram irgendwo in der Altstadt durch die kopfsteingepflasterten Strassen fährt, ist sehr dem ‚Grad‘ ähnlich.
Ich denke, dass nach allem, was ich durchlebt habe, es besser ist, auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, als zu glauben, dass dir ein Wunder geschehen wird. Auf anderer Seite scheint es mir, dass mir dieses Wunder tatsächlich geschah. Im Allgemeinen sind meine Familie und ich sehr optimistische Menschen, in Mariupol hatten wir die ganze Zeit versucht zu scherzen und zu singen. Wir machten uns lustig, dass die zerbrochenen Fenster in unserer Wohnung Schoigu (Verteidigungsminister der Russischen Föderation – Üb.) reparieren wird. Dass er nach seinem Herzinfarkt ein wenig medizinisch behandelt wird, und er danach kommen wird, um uns neue Fenster und Türen einzubauen. Oder zum Beispiel als die russische Artillerie uns beschoss, sangen wir im Korridor das bekannte ukrainische Lied ‚Tscherwona Ruta‘. Wir dachten uns oft aus, wie Putins Tod aussehen würde. Unsere beste Variante war, dass er durch eine große Betonplatte in seinem Bunker im Ural ums Leben käme. Dass ihm Strom, Wasserleitung, Heizung abgedreht wird und ihm die Nahrung ausgeht. Und schließlich – dass keiner mehr zu ihm kommt.
Dieser Krieg ist der Kampf ums Überleben. Solange Putins Kohorte sich in unserem Land aufhält, haben wir alle Chancen, ein zweites Israel zu werden. Wir müssen Schlüsse aus unserer mangelnder Vorbereitung und Nachlässigkeit ziehen. Und wir müssen weiterhin unsere Armee unterstützen, stärken und bekräftigen. Darüber hinaus haben wir acht Jahre lang Menschen verziehen, die sich erlaubt haben, etwas Schlechtes über die Ukraine und über die ukrainische Sprache zu sagen. Nun ist es Schluss damit! ‚Koffer gepackt, und nach Russland zum Aufbruch bereit!‘ All diese Menschen, die gedanklich die sog. ‚Russische Welt‘ unterstützen, müssen dafür – wie schlimm es auch klingen mag – bestraft werden. Wenn man sich solche Gedanken erlaubt, dann bildet man eine Gefahr für das eigene Land. Daher sollte es für diese Menschen kein Mitleid geben. Wenn du nicht mit der Ukraine bist, wenn du nicht in der Lage bist, die eigene Sprache und die Geschichte des Landes zu lernen, und wenn du nicht verstehen kannst, mit wem du sein möchtest, dann solltest du wegfahren. Kein wenn und aber!“